7
»Sie haben sich Zeit gelassen«, bemerkte Lamb.
River, der zuerst angekommen war, erkannte eine Lamb-Taktik, wenn er eine hörte. »Wozu brauche ich mein Portemonnaie?«
»Sie können mir ein spätes Mittagessen ausgeben.«
Weil sein frühes Mittagessen schon eine Weile her war, vermutete River.
Die Leute auf dem St. Luke’s Markt packten bereits zusammen, aber an einigen Ständen gab es genug Curry mit Reis für eine ganze Armee, und anschließend hätte man diese derart mit Kuchen vollstopfen können, dass sie nicht mehr marschieren konnte. River kaufte thailändisches Huhn mit Naan und suchte mit Lamb zusammen eine Bank. Tauben scharten sich hoffnungsvoll um sie, gaben aber bald auf. Möglicherweise erkannten sie Lamb.
»Wie gut kannten Sie Dickie Bow?«, fragte River.
Mit dem Mund voll Huhn antwortete Lamb: »Nicht besonders.«
»Aber gut genug, um eine Kerze für ihn anzuzünden.«
Lamb sah ihn an und kaute. Er kaute so lange, dass es sarkastisch wurde. Als er endlich geschluckt hatte, sagte er: »Sie sind ein Versager, Cartwright. Das wissen wir beide. Sonst wären Sie kein Slow Horse. Aber …«
»Ich wurde reingelegt. Das ist ein Unterschied.«
»Nur Versager lassen sich reinlegen«, erklärte Lamb. »Darf ich ausreden?«
»Bitte.«
»Sie sind ein Versager, aber immer noch im Dienst. Sollten Sie also eines Tages tot irgendwo auftauchen und ich hätte zufällig gerade nichts anderes zu tun, würde ich wahrscheinlich herumfragen. Nach verdächtigen Umständen Ausschau halten.«
»Ich bin so gerührt, mir kommen gleich die Tränen.«
»Ich hab ›wahrscheinlich‹ gesagt.« Er rülpste. »Aber Dickie war ein Berliner Schnüffler. Wenn man mit jemandem in einem Krieg gekämpft hat, stellt man sicher, dass er im richtigen Grab landet. Eines, auf dessen Grabstein nicht ›tot umgefallen‹, sondern ›ehrenvoll gefallen‹ steht. Hat Ihr Opa Ihnen das nicht beigebracht?«
River erinnerte sich an einen Moment im letzten Jahr, als er einen Blick von dem Lamb erhascht hatte, der diesen Krieg geführt hatte. Und obwohl Lamb inzwischen ein fetter, fauler Mistkerl war, neigte er dazu, ihm zu glauben.
Auf der anderen Seite mochte er es nicht, wenn Lamb seinen Großvater beleidigte, also sagte er: »Möglicherweise hat er so etwas erwähnt. Aber auf jeden Fall hat er mir erzählt, dass Bow ein Säufer war, der behauptete, von einem nicht existierenden Agenten entführt worden zu sein.«
»Das hat Ihnen der O.B. erzählt?« Lamb neigte den Kopf schief zur Seite. »So nennen Sie ihn doch, oder? Old Bastard?«
Das stimmte, aber woher Jackson Lamb das wusste, war River schleierhaft.
Da er wusste, dass River darüber rätselte, warf Lamb ihm sein Stalkergrinsen zu. »Alexander Popow war eine Vogelscheuche, so viel ist sicher«, sagte er. »Was hat Ihr Opa Ihnen noch alles erzählt?«
»Dass der Park eine Akte zusammengestellt hat«, sagte River, »um herauszufinden, ob sie dadurch mehr über die Strategie der Moskauer Zentrale erfahren würden. Über Popow gab es nur Fragmente. Geburtsort, solche Sachen.«
»Und, wo kam er her?«
»Aus ZT /53235.«
»Warum überrascht es mich nicht, dass Sie sich das gemerkt haben?«
»Es hat dort einen Unfall gegeben«, fuhr River fort, »und die Stadt wurde zerstört. So was vergisst man nicht so leicht.«
»Sicherlich«, sagte Lamb. »Allerdings war es kein Unfall.« Er schabte den letzten Rest seines Currys aus der Aluschale und schaufelte ihn sich in den Mund, ohne den Blick zu bemerken, den River ihm zuwarf. »Gar nicht schlecht«, sagte er, warf mit einer geübten Bewegung aus dem Handgelenk heraus seinen Göffel in einen nahe gelegenen Mülleimer und tunkte die restliche Sauce mit seinem letzten Stück NaanBrot auf. »Ich würde ihm eine Sieben geben.«
»Es war Absicht?«
Lamb zog die Augenbrauen hoch. »Hat er das nicht erwähnt?«
»Wir sind nicht so ins Detail gegangen.«
»Er hatte wahrscheinlich seine Gründe.« Nachdenklich kaute er sein Naan. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass Ihr Opa nie irgendetwas ohne Grund tut oder je getan hat. Nein, es war kein Unfall.« Er schluckte. »Sie sind noch zu jung zum Rauchen, oder?«
»Ich bin immer noch nicht blöd genug dazu.«
»Rufen Sie mich an, wenn Sie erwachsen sind.« Lamb zündete sich eine Zigarette an, inhalierte, blies den Rauch aus. Nichts an seinem Gesichtsausdruck deutete darauf hin, dass er jemals daran gedacht hatte, dass dies schädlich sein könnte. »Z und so weiter war eine Forschungseinrichtung. Bestandteil des atomaren Wettrüstens. Das war vor meiner Zeit, nur so am Rande.«
»Es gab vor Ihrer Zeit Atomenergie?«
»Danke. Wie auch immer, soweit wir wissen, kam die Moskauer Zentrale zu dem Schluss, dass sie einen Maulwurf beherbergte. Dass jemand im Inneren dem Feind Informationen über das sowjetische Atomprogramm zukommen ließ. Der Feind waren in dem Fall wir. Oder Freunde von uns.« Lamb schwieg, und für ein paar Augenblicke bewegte sich nichts als die dünne blaue Rauchfahne, die sich wehmütig von seiner Zigarette aufwärts kringelte.
River sagte: »Und deswegen haben sie sie zerstört?«
Lamb erwiderte: »Hat Ihr Opa bei all diesen geheimen Geschichtslektionen, die er Ihnen erteilt hat, nie erwähnt, wie verdammt ernst es wurde? Ja, sie haben sie zerstört. Sie haben die ganze Stadt in Schutt und Asche gelegt, um sicherzustellen, dass alles, was sich dort abgespielt hatte, verborgen blieb.«
»Eine Stadt mit dreißigtausend Einwohnern?«
»Es gab ein paar Überlebende.«
»Sie haben sie zerstört, während die Bewohner noch –«
»Das war effizienter. Sie konnten einigermaßen sicher sein, dass ihr Maulwurf seine Aktivitäten sofort eingestellt hat. Der Witz daran war natürlich, dass es keinen Maulwurf gab.«
»Toller Witz«, sagte River.
Tolle Pointe, dachte er.
»Das war eine von Cranes Lieblingsgeschichten«, fuhr Lamb fort.
Amos Crane war, lange vor Rivers Zeit, aus den falschen Gründen eine Servicelegende gewesen. Mit ihm hatte man den Bock zum Gärtner gemacht.
»Crane verglich die Stadt gerne mit einem Spiegelkabinett. Die Sowjets bauten eine Festung, dann befürchteten sie, dass wir sie niederbrennen. Also verbrannten sie sie vorsorglich selbst, um sicherzugehen, dass wir es nicht konnten.«
»Und Popow soll zu diesen Überlebenden gehören, ja?«, vergewisserte sich River. Im Kopf sah er einen perfekten Kreis vor sich. »Sie zerstören ihre eigene Stadt, und Jahre später lassen sie ein Gespenst aus der Asche auferstehen, um sich an uns zu rächen.«
»Tja«, sagte Lamb. »Wie ich schon sagte, Crane war fasziniert.«
»Was ist überhaupt mit Crane passiert?«
»Eine Braut hat ihn umgelegt.«
Weniger Begabte hätten einen ganzen Roman gebraucht, um einem das zu sagen, dachte River.
Lamb stand auf, blickte zum nächstgelegenen Baum, als hätte er plötzlich Ehrfurcht vor der Natur, hob einen Absatz vom Boden und furzte. »Ein Zeichen für ein gutes Curry«, sagte er. »Manchmal blubbern sie einfach ewig im Bauch rum.«
»Ich wollte immer schon mal fragen, warum Sie nie geheiratet haben«, sagte River.
Sie überquerten die Straße. Lamb sagte: »Wie auch immer. Er könnte eine Vogelscheuche sein. Ein Gespenst war er auf jeden Fall. Aber Dickie Bow ist leider tot, und er ist der Einzige, der jemals behauptet hat, ihn gesehen zu haben.«
»Meinen Sie, Mr B hat etwas mit der Popow-Legende zu tun?«
»Bow hat eine Nachricht auf seinem Handy hinterlassen, die ungefähr das besagt.«
River sagte: »Nicht nachweisbares Gift. Letzte Worte eines Sterbenden.«
»Haben Sie etwas auf dem Herzen?«
»Kommt mir ein bisschen … weit hergeholt vor.«
»Tony Blair ist ein Friedensbotschafter«, betonte Lamb. »Abgesehen davon, ist alles so wie immer.«
Apropos, es war Zeit für River, wieder sein Portemonnaie zu zücken. Sie blieben an einer Kaffeebude stehen. »Einen Flat White«, bestellte River.
»Einen Kaffee«, sagte Lamb.
»Auch flach und weiß?«, fragte der Standinhaber.
»Nein, mollig und rosig. Wenn Sie schon fragen.«
»Er nimmt dasselbe wie ich«, sagte River.
Mit den Bechern in der Hand gingen sie weiter.
»Ich bin mir immer noch nicht sicher, warum wir diese Unterhaltung führen.«
»Ich weiß, dass Sie denken, ich würde eine Menge Scheiße bauen«, sagte Lamb. »Aber ich schicke nie einen Agenten ins Feld, ohne ihm vorher sämtliche Informationen an die Hand zu geben.«
Es dauerte fünf Sekunden, bis River das begriffen hatte.
»Ins Feld
»Können wir den Teil überspringen, bei dem Sie ständig wiederholen, was ich gerade gesagt habe?«
River sagte: »Okay. Übersprungen. Feld. Wo?«
»Ich hoffe, Sie sind gegen alles geimpft«, sagte Lamb. »Sie fahren nämlich nach Gloucestershire.«
Es war schon spät, als Min das Büro verließ. Unbezahlte Überstunden; eine nicht ungewöhnliche Buße für passiv-aggressives Verhalten. Um fünf Uhr hatte er sein Handy ausgeschaltet, damit Louisa eine Nachricht hinterlassen musste, wenn sie anrief. Um sieben Uhr schaltete er es wieder ein: nichts. Er schüttelte den Kopf. Er hatte es verdient. Es war zu gut gelaufen. Er hatte es vermasselt, ohne es zu merken. Aber dafür war er berühmt. Er war derjenige, der es geschafft hatte, seine Karriere das Klo runterzuspülen, nach Hause zu fahren und sich ins Bett zu legen und es dann am nächsten Morgen aus dem Radio zu erfahren. Derjenige, über den die anderen lachten, weil sie sich bombensicher waren, dass sie zwar alle Mist gebaut haben könnten, aber es jedenfalls in dem Moment gemerkt hätten. Sie hätten nicht die wichtigste landesweite Nachrichtensendung gebraucht, die sie mit der Nase draufstieß.
Dass er Shirley mehrmals erwähnt hatte, war auch nicht die Ursache für das Zerwürfnis. Es hatte nur die Oberfläche durchbrochen wie die Flosse eines Hais. Nein: Es ging um die Art und Weise, wie sie lebten, indem sie ihre Beziehung zwischen zwei lausigen Absteigen aufteilten. Es ging darum, was sie von der Zukunft erwarten konnten: ein gemeinsames Büro und den gleichen Mangel an Perspektiven. Und immer ging es natürlich um sein anderes Leben: die Kinder, die Frau und das Haus, die er zurückgelassen hatte, als seine Karriere den Bach runterging. Er mochte sich von ihnen getrennt haben, aber sie waren immer noch da und stellten Ansprüche an seine Zeit, seine Gefühle und sein Einkommen, was ihm Louisa unweigerlich verübeln würde, wenn sie es nicht schon getan hatte. Es war sonnenklar, warum sie verärgert war. Und warum das seine Schuld war, obwohl es das andererseits nicht war.
So argumentierte die eine Hälfte von Min, während ihn die andere über die Straße zu einem schrecklichen Pub zog, wo er neunzig Minuten damit verbrachte, Bier zu trinken und seine Bierdeckel zu zerkleinern. Ein weiteres vertrautes Gefühl; eine Erinnerung an lange einsame Abende, nachdem er sein Leben gegen die Wand gefahren hatte. Wenigstens würde er von diesem Scheitern nicht morgen früh auf Radio 4 erfahren. »In einer absolut nicht überraschenden Entwicklung hat Min Harper sein Liebesleben vermasselt und kann damit rechnen, auf absehbare Zeit allein zu bleiben. Und jetzt zum Sport. Garry?«
An dieser Stelle entschied Min, dass er sich genug in Selbstmitleid gesuhlt hatte.
Denn Louisa schmollte zwar, aber sie würde sich auch wieder beruhigen, und Slough House mochte eine Sackgasse sein, aber Spider Webb hatte eine Strickleiter fallen lassen und Min sie mit beiden Händen ergriffen. Die Frage war, ob sie sie beide halten konnte. Min betrachtete die Pyramide aus zerkleinerter Pappe, die er gebaut hatte. Am besten, er betrachtete das alles als Prüfung. Das hatte er in der Ausbildung gelernt, aber manchmal musste ihn immer noch jemand darauf hinweisen. Also: Spider Webb. Min mochte und vertraute Webb nicht und verdächtigte ihn, möglicherweise ein doppeltes Spiel zu spielen. Aber wenn es bei diesem Spiel um einen Preis ging, wäre es dumm, nicht zu versuchen, ihn zu gewinnen, und ebenso dumm, sich einzureden, dass Louisa nicht das Gleiche dachte. Es war gar nicht abwegig, dass sie schmollte, weil Min heute Morgen gezeigt hatte, dass er tatsächlich im Einsatz etwas taugte, während sie ihr Können hauptsächlich bei der Admin, beim Papierkram bewies. Der Art von Tätigkeit, auf der Slough House gebaut war.
Er checkte noch einmal sein Handy. Immer noch keine Nachricht. Aber eines ist klar, sagte er sich: Er würde Louisa nicht so schnell aufgeben. Nein, er würde sie anrufen und sich entschuldigen und später zu ihr fahren. Den ganzen Sermon. Er würde das alles tun, aber zunächst einmal rief er Google Earth auf seinem iPhone auf und überprüfte den Abschnitt der Edgware Road, wo Piotrs und Kyrils Taxi angehalten hatte. Dann verließ er den Pub und holte sein Fahrrad, das er hinter Slough House abgestellt hatte. Es ging auf neun Uhr zu und wurde allmählich dunkel.
Diana Taverners Büro hatte eine Glaswand, damit sie die Jungs und Mädels in ihrer Abteilung im Auge behalten konnte. Daran war nichts Überhebliches, es bewies Beschützerinstinkt, ihre Art, sich um sie zu kümmern. Die alten Hasen behaupteten, dass nur die Arbeit draußen wirklich zählte, aber Taverner kannte die Belastungen, die sich hinter der Bühne auftürmten, schlaflos wie Rost. Über allen Schreibtischen hier im Zentrum flimmerten Geheimdienstinformationen, 24/7: Das meiste davon nutzlos, einiges davon tödlich; und alles wurde auf einer Waagschale gewogen, die täglich neu geeicht werden musste, je nachdem, wie der Wind wehte. Es gab Watchlists zu überwachen, Filmmaterial zu interpretieren, abgehörte Gespräche zu übersetzen, und auf der ganzen Datenverarbeitung lastete das Wissen, dass eine kurze Konzentrationsschwäche dazu führen konnte, dass man in den Abendnachrichten sah, wie Leichen aus Trümmern gezogen wurden. Unter einem derartigen Druck konnte man zerbrechen, er konnte einem den Schlaf rauben, um Träume betrügen und an seinem Schreibtisch in Tränen ausbrechen lassen. Wenn sie also ein Auge auf ihre Leute hatte, dann deswegen, weil ihr deren Wohlergehen am Herzen lag, obwohl es ihr andererseits durchaus erlaubte zu überprüfen, ob keiner der Hallodris irgendein Spielchen trieb. Nicht alle Feinde Taverners kamen von außerhalb.
Um sicherzustellen, dass die Überwachung nur in eine Richtung erfolgte, gab es raumhohe Jalousien, die sie bei Bedarf herunterlassen konnte. Sie waren jetzt geschlossen und die Oberlichter gedimmt, wodurch sie das schwindende Tageslicht draußen nachahmten. Und vor ihr stand, da sie ihn nicht zum Sitzen aufgefordert hatte, James Webb, der nicht im Zentrum residierte, sondern ein Büro im Inneren des Gebäudes hatte – »Büro« klang gut, aber es bedeutete, dass er sich außerhalb des Kreises der Macht befand.
Und damit außerhalb ihres Blickfelds.
Es wurde Zeit herauszufinden, was er angestellt hatte.
»Ich habe da was läuten gehört«, sagte sie. »Scheint so, als hätten Sie ein paar von den Slow Horses abbeordert.«
»Slow …?«
»Stellen Sie sich bloß nicht dümmer, als Sie sind!«
Webb sagte: »Es ist nichts Wichtiges. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie sich davon stören lassen wollten.«
»Was mich stört oder nicht, bestimme immer noch ich. Und dazu muss ich es erst mal erfahren.«
Ein Schweigen trat ein, in dem beide über den nächsten Schritt nachdachten. Dann sagte Webb: »Arkadi Paschkin.«
»Paschkin …«
»Alleiniger Eigentümer von Arkos.«
»Arkos.«
»Russlands viertgrößte Ölgesellschaft.«
»Ah. Dieser Arkadi Paschkin.«
»Ich habe … Gespräche mit ihm geführt.«
Lady Di lehnte sich zurück, und ihr Stuhl passte sich ihrer Position mit flüsternden Federn an. Sie starrte Webb an, der einmal nützlich gewesen war. Das Büro in den Eingeweiden des Gebäudes war eine Belohnung für seine Dienste gewesen und hätte ausreichen müssen, um ihn ruhigzustellen. Aber das war das Problem mit den Spider Webbs dieser Welt: Schließe sie zu lange von allem aus, und sie beschlagen die Fensterscheiben mit ihrem Atem.
»Sie führen Gespräche mit einem russischen Industriellen?«
»Ich glaube, er bevorzugt ›Oligarch‹.«
»Mir doch egal, und wenn er ›Zar‹ bevorzugt. Was zum Teufel hat Sie auf die Idee gebracht, diplomatische Kontakte zu einem Ausländer zu knüpfen?«
Webb sagte: »Ich dachte, wir könnten hier gute Nachrichten gebrauchen.«
Nach einer Pause sagte Taverner: »Nun, wenn das Ihr Verständnis von ›Diplomatie‹ ist, dürfen wir zweifellos jeden Tag einen Krieg mit Russland erwarten. Welche Art von guten Nachrichten hatten Sie denn im Sinn? Und seien Sie überzeugend!«
»Er könnte uns einmal nützlich werden«, sagte Webb.
Jetzt lehnte sich Lady Di nach vorne. »Er könnte uns einmal nützlich werden«, wiederholte sie langsam.
»Ja, denn er ist unzufrieden mit der Art und Weise, wie die Dinge da drüben laufen. Er findet die Tendenz in Richtung eines altmodischen Antagonismus rückwärtsgewandt und bedauert es, dass Russland den Eindruck eines Mafia-Staates erweckt. Er hat politische Ambitionen, und wenn wir ihm in irgendeiner Weise helfen könnten … Nun, das würde ihn sicher zugänglich machen, nicht wahr?«
»Soll das ein Witz sein?«
Webb sagte: »Ich weiß, es hört sich an wie ein Schuss ins Blaue. Aber überlegen Sie doch mal. Der Mann ist ein wichtiger Wirtschaftsboss. Es ist nicht auszuschließen, dass er eines Tages bis ganz an die Spitze kommt.« Webb wurde zusehends aufgeregter. Taverner vermied es sorgfältig, auf seine Hose zu schauen. »Und wenn wir an seiner Seite sind, wenn wir ihm den Weg ebnen – ich meine, im Ernst. Es ist der Heilige Gral.«
Das Vernünftigste wäre, ihn auf der Stelle abzufackeln, dachte sie. Dreißig Sekunden verbales Teeröl, und er würde auf dem ganzen Weg zurück in sein Büro rußige Fußspuren hinterlassen und nie wieder auf dumme Gedanken kommen. Das wäre das Vernünftigste, und im Geiste drehte sie ihre Flamme hoch auf, als sie sich sagen hörte: »Wer weiß sonst noch davon?«
»Niemand.«
»Was ist mit den beiden aus Slough House?«
»Sie glauben, sie würden für die Sicherheit bei Gesprächen mit einem Ölmagnaten garantieren.«
»Wie hat das angefangen?«
»Er hat mit mir Kontakt aufgenommen. Persönlich.«
»Mit Ihnen? Wieso das denn?«
»Bei der Kampagne letztes Jahr …«
Die Kampagne. Richtig. Die Kampagne im letzten Jahr war eine von Ingrid Tearneys Geistesblitzen gewesen; eine Charmeoffensive, um dem jüngsten Tsunami von PR -Katastrophen entgegenzuwirken: illegalen Kriegen, versehentlichen Morden, Folterungen von Verdächtigen, so etwas eben. Tearney hatte eine Reihe von öffentlichen Auftritten absolviert und erklärt, wie Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung das Land schützten, auch wenn es den Unwissenden schien, dass sie lediglich zu unzumutbaren Verspätungen auf den Flughäfen führten. Webb – immer schick angezogen – hatte ihre Tasche getragen und ihr ein offenes Ohr geliehen, in das sie flüstern konnte, wenn es so aussehen sollte, als berate sie sich. Er wurde in der Presse namentlich erwähnt, was ihn unerträglich arrogant gemacht hätte, wenn nicht der Begriff »attraktiver Begleiter« verwendet worden wäre.
Sie konnte ihn immer noch abfackeln. Die Aktion beenden, bevor ihre unvermeidlichen Mängel peinlich offensichtlich wurden. Stattdessen sagte sie: »Und das nennen Sie unwichtig? Etwas, womit ich sicher nicht belästigt werden möchte?«
»Glaubhafte Abstreitbarkeit«, erwiderte Webb. »Wenn die Sache schiefläuft … Na ja, dann haben Sie von nichts gewusst, und einer Ihrer Untergebenen hat über die Stränge geschlagen, stimmt’s?« Er stieß ein kurzes, hartes Lachen aus. »Und falls das passiert, lande ich wahrscheinlich selbst bei den Slow Horses.«
Wenn man diese spezielle Antwort genauer betrachtete, änderte sich das Bild komplett. Wenn alles nach Plan lief, würde Webb Ingrid Tearney einen großen, saftigen Knochen zu Füßen fallen lassen – und ehe sich Taverner versah, würde sie vor verschlossenen Türen stehen und sich fragen, worum es bei dem Briefing gegangen war.
Aber es hatten schon klügere Männer als Spider Webb den Fehler gemacht, Diana Taverner zu unterschätzen.
Sie sagte: »Und wie zum Teufel wollen Sie das alles am Barrowboy vorbeischaffen?«
»Barrowboy«, kleiner Straßenhändler, war der Spitzname von Roger Barrowby, der gerade mit dem Rechenschieber jede Entscheidung im Park überprüfte, bis hin zu der Frage, ob man Pommes frites dazu wollte.
Spider Webb blinzelte zweimal. »Indem ich es über Slough House schmuggle«, antwortete er.
Taverner schüttelte den Kopf. Mein Gott, das hätte sie sich auch gleich denken können! Deshalb benutzte er die Slow Horses: Sie fielen nicht in Barrowbys Aufgabengebiet. Ihre Kosten waren praktisch gleich null, wenn man Lambs Ausgaben nicht berücksichtigte. »Okay«, sagte sie. Webb entspannte sich. »Das bedeutet nicht, dass Sie gehen können.« Sie warf einen kurzen Blick auf die Schreibtischschublade, in der ihre Zigaretten lagen. Aber als das letzte Mal jemand im Park geraucht hatte, war ein Giftalarm ausgelöst worden. »Raus mit der Sprache«, sagte sie. »Ich will die ganze Geschichte hören. Lückenlos. Auf der Stelle.«
Als Kyril »Hukas« gehört hatte, Wasserpfeifen, hatte er an »hooker« gedacht, Nutten, und die nächsten dreißig Sekunden des Gesprächs hatten diese Überzeugung nicht erschüttert: Aufgrund einer Gesetzesänderung, so hatte ihm der Pole in der Kneipe erzählt, wären jetzt alle Nutten an der Edgware Road draußen auf dem Bürgersteig anstatt hinter den Fenstern der türkischen Restaurants. »Hubbly-jubbly!«, hatte der Pole geschlossen. Kyril hatte zustimmend genickt. Während seiner Mission hier sollte er so tun, als könne er kein Englisch, obwohl er es einigermaßen beherrschte und eine Ahnung hatte, was »hubbly-jubbly« bedeutete.
Der Witz war, dass es Dutzende von Nutten an der Edgware Road und noch viel mehr in den Seitenstraßen gab, aber die »Hukas«, die der Pole gemeint hatte, waren die Tausend-und-eine-Nacht-Pfeifen, bei denen man Tabak durch einen Schlauch rauchte. Kyril hatte noch nie zuvor Wasserpfeife geraucht, und es stellte sich heraus, dass es ihm gefiel. Also war er am nächsten Abend zurückgekehrt und hatte es noch einmal versucht. Er saß auf dem Bürgersteig unter einem Plastikvordach, die Straßen waren dunkel, und der Verkehr rauschte vorbei. Er fand neue Freunde – das war okay: Was der große Mann nicht wusste, würde ihn auch nicht verärgern –, und mit diesen Freunden plauderte er gerade, als der Typ von heute Morgen, Harper, vorbeifuhr.
Kyril verriet sich nicht durch plötzliche Bewegungen. Er rauchte einfach weiter Shisha und lachte laut über einen brandneuen Witz. Als er sich möglichst unauffällig umblickte, sah er, wie Harper sein Fahrrad von der Straße zog und um die Ecke verschwand. Das war in Ordnung. Es war egal, wenn ein Mann verschwand, solange man wusste, wo er sich danach aufhalten würde, was in diesem Fall so nahe bei Kyril war, wie er es wagen würde. Daher vertrödelte Kyril weitere zehn Minuten, bevor er aufstand, sich verabschiedete und zu dem kleinen Supermarkt ging, um Vorräte, hauptsächlich Alkohol und Zigaretten, einzukaufen.
Als Webb fertig war, kaute Taverner für einen Moment an ihrer Unterlippe, bevor sie bemerkte, dass sie es tat. »Warum The Needle?«, fragte sie. »Wir sind der Geheimdienst, oder haben Sie das Memo nicht bekommen? Warum haben Sie nicht gleich ein Meeting beim Buckingham Palace arrangiert?«
»Er ist nicht irgendein Penner, den ich versuche umzudrehen. Wenn Paschkin in einem Lapdance-Club gesichtet wird, wird das Fragen aufwerfen. Wenn er dagegen gesehen wird, wie er in Londons neuestem Teil der Skyline auftritt, wird sich niemand darüber wundern. Es ist sein natürliches Habitat.«
Dieser Logik hatte sie nichts entgegenzusetzen. »Und niemand sonst weiß etwas davon? Von dem, was wirklich dahintersteckt?«
»Nein. Nur Sie und ich.«
»Und mir haben Sie es nur gesagt, weil ich Sie runtergeputzt habe.«
Er fiel in ihr Nicken ein. »Und wegen der Sache mit der …«
»Glaubhaften Abstreitbarkeit. Das sagten Sie bereits.« Taverner durchbohrte ihren Untergebenen erneut mit ihren Blicken. »Manchmal habe ich Angst, Sie könnten zum Feind überlaufen«, sagte sie.
Er sah schockiert aus. »Dem MI 6?«
»Ich meinte Tearney.«
»Diana«, log er. »Das würde ich niemals machen!«
»Und Sie haben mir wirklich alles erzählt?«
»Ja«, log er.
»Ich will regelmäßige Updates. Jedes noch so kleine Detail. Ob positiv oder negativ.«
»Natürlich«, log er.
Nachdem er gegangen war, schrieb Taverner eine E-Mail an die Background-Abteilung und bat um einen Lebenslauf von Arkadi Paschkin, doch dann löschte sie die Nachricht, ohne sie zu senden. Sie wollte unbedingt vermeiden, Alarmglocken schrillen zu lassen, und da die verdammte Roger-Barrowby-Prüfung in vollem Gange war, würde sie in dreifacher Ausfertigung erklären müssen, warum sie interessiert war. Also machte sie es wie vor einem ersten Date, googelte ihn und erhielt weit unter tausend Treffer: Er flog tief für einen Unternehmer. Als Erstes erschien ein Artikel aus dem Telegraph von vor einem Jahr, in dem seine Erfolge aufgelistet wurden. Es war auch ein Foto dabei, auf dem Paschkin wie ein nicht ganz so freundlicher Tom Conti aussah – eine Kombination, die bei Taverner durchaus auf Resonanz stieß. Da die Jalousien noch geschlossen waren, gönnte sie sich einen Moment der Träumerei: vögeln, heiraten oder von einer Klippe stoßen?
Verdammt, der Mann war Milliardär! Alle drei. In dieser Reihenfolge.
Es war schon spät. Sie loggte sich aus und dachte nach. Es war immerhin möglich, dass Webb Erfolg hatte, und obwohl die Chancen, dass Paschkin sowohl beim MI 5 in der Schuld stehen als auch ganz oben im Kreml landen würde, verschwindend gering waren, wurde das Spiel so gespielt. Man musste Außenseiter unterstützen, denn Insider waren vergeben. Auch wenn nicht immer klar war, an wen.
Was soll’s, dachte sie. Lassen wir ihn weitermachen. Wenn alles auseinanderbrach, würde sie ihn an die Trümmer nageln und anschließend aufs Meer rausschicken, damit sich die Möwen an ihm satt fressen konnten. Größenwahn, würde sie sagen. Das kommt davon, wenn man in der Zeitung steht.
Wobei Ingrid Tearney den Seitenhieb garantiert verstehen würde.
Bevor sie ging, zog sie die Jalousien hoch, damit die Angestellten ihr leeres Büro bewundern konnten. Nichts zu verbergen, dachte sie. Nichts zu verbergen.
Es gibt überhaupt nichts zu verbergen.
An manchen Tagen kommt einfach alles zusammen.
Min Harper hatte keine Rekorde gebrochen, als er nach Westen radelte; es war eine Aufklärungstour, sonst nichts, nur um sich einen Eindruck von der Gegend zu verschaffen. Hinter dem Marble Arch herrschte viel Verkehr, und er fuhr langsamer und suchte nach einer Stelle, wo er das Fahrrad anschließen konnte, und da sah er ihn, Kyril, den, der vorgab, kein Englisch zu sprechen. Er saß vor einem Lokal unter einem dieser Plastikpavillons, zog an einer Wasserpfeife und lachte mit den Einheimischen, als säße er da jeden Abend. Einfach so, es kam alles zusammen.
Er sprang vom Fahrrad, schob es um die Ecke, schloss es an einen Laternenpfahl an und verstaute seine Leuchtweste in der Packtasche. Zurück auf der Hauptstraße, wo ihn der Verkehr vor Kyrils Blicken abschirmte, ging er in einen Zeitungskiosk, wo die Zeitschriftenständer das Schaufenster verbarrikadierten. Er stöberte herum, bis Kyril aufstand, einen letzten Witz mit seinen Kumpels machte und dann zum Mini-Mart an der nächsten Ecke ging. Sobald er drin war, überquerte Min die Straße, versteckte sich in einem Ladeneingang und studierte die dort befestigten Anzeigen: Reinigungsarbeiten aller Art, Transporter zu verleihen, Englischunterricht . Er tat so, als würde er sich Nummern notieren. Als Kyril mit einer Tragetasche in jeder Hand wieder auftauchte, wartete Min, bis er gut hundert Meter entfernt war, bevor er ihm folgte. Er bahnte sich einen Weg durch die Menschenmassen auf dem Bürgersteig, aber der massige Russe war ein leichtes Ziel. Min konnte Bier in seinem Atem schmecken. Konnte dazu den Druck spüren, der sich in seiner Blase aufbaute. Aber am intensivsten spürte er den Nervenkitzel der Verfolgungsjagd – es wäre so einfach gewesen, eine dieser Personen, diese sich nähernde Blondine zum Beispiel, aufzuhalten und zu sagen: Ich arbeite für den Geheimdienst. Sehen Sie diesen Kerl? Ich verfolge ihn. Aber die Blondine ging vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und Kyril verschwand.
Min blinzelte und zwang sich, nicht loszulaufen, sondern sein ruhiges, gleichmäßiges Tempo beizubehalten. Kyril musste in einen anderen Laden oder eine Bar gegangen sein; vielleicht war er weiter vorne in eine versteckte Gasse eingebogen. Die Gefahr bestand darin, dass Min plötzlich vor ihm stand. Nein, die Gefahr war, dass er ihn verloren hatte …
Aber es bestand keine Gefahr. Das durfte er nicht vergessen. Es bestand keine Gefahr, weil niemand wusste, wo er war oder was er tat. Nur Min würde es wissen, wenn er wieder auf sein Fahrrad stieg und durch die Stadt zu Louisas Wohnung fuhr, nur Min würde wissen, dass er eine Personenverfolgung vermasselt hatte, die ein blutiger Anfänger mit Leichtigkeit geschafft hätte.
An manchen Tagen kam alles zusammen.
Nein, aber nicht heute, denn da war er wieder, dieser praktischerweise klobige Russe, der aus einer Nische trat, in der er stehen geblieben war, um eine Speisekarte zu lesen … Min merkte erst jetzt, dass sein Herz wie rasend geklopft hatte, weil sein Puls wieder normal wurde.
Er hielt weiterhin hundert Meter Sicherheitsabstand und folgte dem Russen die Edgware Road hinunter.
Jackson Lamb war in seinem Büro, wo sich die einzige Lichtquelle in Kniehöhe befand: eine Schreibtischlampe, die auf einem Stapel Telefonbücher stand. Sie warf genügend Helligkeit nach oben, um trollartige Schatten auf sein Gesicht und größere an die Decke zu werfen. Auf dem Schreibtisch, neben seinen Füßen, stand eine Flasche Talisker, und in der Hand hielt er ein Glas. Sein Kinn lag auf seiner Brust, aber er war wach. Er schien seine Kork-Pinnwand zu studieren, an der eine Collage abgelaufener Gutscheine befestigt war, aber vielleicht starrte er auch hindurch: in einen langen Tunnel von erinnerten Geheimnissen. Hätte man gefragt, hätte er natürlich behauptet, er habe überlegt, wer an der Reihe war, ihm Zigaretten zu holen. Eine Behauptung, die er im Voraus bestätigt hatte, indem er eben die letzte Zigarette aus seinem letzten Päckchen geholt hatte.
Er wirkte vollkommen geistesabwesend, zuckte aber mit keiner Wimper, als Catherine Standish ihn von der Tür her ansprach, wo sie fast eine Minute lang gestanden hatte. »Du trinkst zu viel.«
Als Antwort hob er sein Glas und musterte dessen Inhalt. Dann leerte er es in einem einzigen Schluck und erwiderte: »Du musst es ja wissen.«
»Eben. Das wollte ich damit sagen.« Sie betrat den Raum. »Hast du schon manchmal Blackouts?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Wenn du noch Witze darüber machen kannst, hast du wahrscheinlich noch nicht angefangen, dir in die Hosen zu pinkeln. Das Beste steht dir also noch bevor.«
»Weißt du, was das Gute an trockenen Säufern ist?«, fragte Lamb.
»Nein, sag du es mir.«
»Das war eine Frage. Ist irgendetwas Gutes an trockenen Alkoholikern, oder sind es einfach nur Nervensägen?«
Catherine sagte: »Weißt du, das Gleiche gilt, wenn du das Wort ›trocken‹ weglässt.«
Lamb starrte sie durchdringend an; dann nickte er nachdenklich, reumütig, als wüsste er ihre Klugheit doch allmählich zu schätzen. Dann furzte er. »Besser raus als rein«, sagte er. »Dasselbe gilt übrigens auch für dich.«
Catherine bewies ein für alle Mal, dass sie Anspielungen nicht verstand, und verließ nicht etwa sein Büro. Stattdessen sagte sie: »Ich habe ein wenig nachgeforscht.«
»O Gott.«
»Und weißt du was?« Sie stellte zwei kastenförmige Aktenordner auf den Boden und nahm auf dem frei gewordenen Stuhl Platz. »In der Nacht, als Dickie Bow starb, dieses Chaos im Zugverkehr?«
»Überrasch mich.«
»Jemand hat einen Sicherungskasten bei Swindon manipuliert. Der Stromausfall wurde absichtlich herbeigeführt. Findest du das nicht verdächtig?«
»Ich finde, das zeugt von einem Mangel an Vertrauen in die First Great Western«, erwiderte Lamb. »Die Vorstellung, man müsste auf Sabotage zurückgreifen, um Chaos zu erzeugen, ist absurd.«
»Sehr witzig. Was hast du vor, Lamb?«
»Das liegt über deiner Gehaltsstufe. Sagen wir einfach, ich habe einen losen Faden gefunden und an ihm gezogen.« Er sah auf die Uhr. »Du bist noch hier?«
Sie sagte: »Ja. Und weißt du, was? Ich gehe auch nicht so ohne weiteres. Weil es eine Weile gedauert hat, bis ich das herausgefunden hatte, aber ich habe es geschafft. Ich weiß nicht, warum du mich in Slough House haben wolltest, aber du wolltest es. Und du wirst mich nicht rausschmeißen, oder? Ich weiß nicht, warum, aber ich weiß, dass es so ist. Du hast Schuldgefühle. Ich mag dich nicht und bezweifle, dass ich das jemals tun werde, aber hinter deiner blöden, betrunkenen, beleidigenden Fassade zahlst du irgendwelche Schulden ab, und das verschafft mir einen Vorteil. Es bedeutet, dass du mich nicht zum Schweigen bringen kannst.«
Lamb sagte: »Das war süß. Wenn das ein Film wäre, würde jetzt dein Haar offen über deine Schultern fallen, und ich würde sagen, oh, aber, Miss Standish, Sie sind ja wunderschön!«
»Nein, wenn dies ein Film wäre, würde ich dir einen Pflock durchs Herz treiben, und du würdest zu Asche zerfallen. Dickie Bow, Lamb. Er war ein Ehemaliger.«
»Stimmt. Er hätte traumhaft hierher gepasst.«
»Er war auch ein Trinker.«
»Weitere Kommentare wären taktlos.«
Sie ignorierte das. »Ich habe seine Unterlagen rausgesucht. Er –«
»Du hast was?«
»Ich habe Ho gebeten, mir seine Akte zu besorgen.«
»Ich hoffe, du verdirbst mir den Jungen nicht. Wir haben schon eine Laus im Pelz.«
»Eine was?«
»Lady Di hat mir zu verstehen gegeben, dass einer unserer Neulinge ihr Spitzel ist. Finde heraus, welcher, ja?«
»Steht auf meiner To-do-Liste. Aber jetzt noch mal zu Bow. Er hat die letzten drei Jahre Nachtschicht in einer Buchhandlung in der Brewer Street geschoben.«
»Bei der wohl kaum der Bücherverkauf die Miete einbringt.«
»Nein, er war unten bei den Schmuddelheftchen und dem Sexspielzeug.«
Lamb spreizte in einer entschuldigenden Geste die Hände. »Na ja, wer hätte noch nie mit einem Dildo in der Hand ein Pornoheft durchgeblättert?«
»Ein faszinierender Einblick in dein Privatleben. Aber lenke jetzt nicht vom Thema ab. Als Bow zuletzt aktiv war, hat Roger Moore James Bond gespielt. Glaubst du wirklich, er hat einen Moskauer Agenten entdeckt und ihn durch halb England verfolgt?«
»Er ist gestorben«, erwiderte Lamb.
»Weiß ich.«
»Deswegen glaube ich durchaus, dass er auf einen Moskauer Agenten gestoßen ist und ihn durch halb England verfolgt hat.«
»Nein. Sein Tod beweist keineswegs, dass er auf einen Moskauer Agenten gestoßen ist. Er beweist nur, dass er tot ist. Und wenn ihn ein Moskauer Agent getötet hat, heißt das wiederum nicht, dass du einen Faden gefunden und daran gezogen hast. Es bedeutet, dass ein Faden ausgelegt wurde und du angebissen hast.«
Lamb sagte nichts.
»Genau so, wie es von dir erwartet wurde.«
Lamb sagte nichts.
»Was bist du denn so schweigsam? Gehen dir die lustigen Kommentare aus?«
Lamb schürzte seine Lippen. Er sah aus, als wolle er verächtlich prusten, wie so oft. Aber stattdessen sog er die Lippen ein, saugte an den Zähnen, lehnte sich dann zurück und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. An die Decke gerichtet, sagte er: »Nicht nachweisbares Gift. Letzte Worte eines Sterbenden. Was soll bloß dieser ganze Scheiß?«
Jetzt war Catherine an der Reihe, verblüfft zu reagieren. »Wie bitte?«
Als Lamb sie ansah, waren seine Augen klarer, als angesichts des mickrigen Rests in der Flasche zu erwarten gewesen wäre. »Hältst du mich wirklich für so dumm?«
Im Haus vor ihm befand sich die Wohnung. Sie lag im obersten Stockwerk einer heruntergekommenen Mietskaserne, die nur von Schimmel und Feuchtigkeit zusammengehalten wurde und deren übertünchte Fenster jahrzehntelang die Luft im Inneren eingeschlossen hatten, was sie zu einem olfaktorischen Museum der Armut und Verzweiflung gemacht hatte – Gerüche, die Kyril nur allzu vertraut waren. Die meisten Zimmer waren sogenannte Hot-Beds: Wenn die einen von der Arbeit nach Hause kamen, legten sie sich in die Betten, die andere verlassen hatten, als sie zur Nachtschicht aufbrachen. Die Kommunikation beschränkte sich auf Kopfnicken. Niemand kümmerte sich um die Angelegenheiten anderer.
So gefiel es dem großen Mann, aber Kyril war ein leutseliger Mensch. Das war eine seiner Stärken. In dem Maße, dass man es schon als Schwäche betrachten konnte, weshalb Piotr bestimmt hatte, dass Kyril am Morgen kein Englisch sprechen sollte.
»Was ist denn schon dabei? Das sind Beamte.«
»Beamte? Von wegen, das sind Schnüffler«, hatte Piotr geantwortet. »Hast du etwa diesen Energieministerium-Scheiß geglaubt?«
Kyril hatte mit den Achseln gezuckt. Ja, er hatte diesen Energieministerium-Scheiß geglaubt. Sollte er aber wohl besser nicht zugeben.
»Also, ich übernehme das Reden«, hatte Piotr gesagt.
Und Piotr hatte recht gehabt, denn wenn dieser Typ vom Energieministerium war, warum beschattete er ihn dann jetzt?
Aber wenn er ein Schnüffler war, warum tat er es dann so stümperhaft?
Es bestand jedoch immer die Möglichkeit, dass noch andere beteiligt waren, die Kyril nicht bemerkt hatte, aber er nahm an, dass Harper allein war, was ihm gut passte. Harper würde ihm keine Probleme bereiten. Kyril hätte ihn mit einer Hand in zwei Hälften brechen und beide in entgegengesetzte Richtungen werfen können.
Der Gedanke brachte ihn zum Lächeln. Er mochte keine Gewalt und hoffte, dass er keine würde anwenden müssen.
Aber wenn es sein musste, war er darauf vorbereitet.
Shirley Dander öffnete die Augen. Der Riss, der sich von einer Ecke ihrer Decke aus verzweigte, besaß die Form eines Kontinents, eines unbekannten Tieres, eines schwach erinnerten Geburtstages. Sekundenlang schwebte sie in seiner Reichweite; dann erwachte sie, und es war nur ein Riss.
Ihr Schädel pulsierte in einem von außen vorgegebenen Takt. Wer auch immer die Trommel schlug, hatte das Tageslicht gestohlen.
Sie riskierte eine Bewegung und drehte den Kopf zum Fenster. Es war nicht dunkel, aber nur, weil draußen eine Stadt lag, die ihren elektrischen Schein über alles ergoss. So war etwa das Licht, das durch ihre dünnen, verblassten Gardinen schimmerte, gelb und künstlich, und stammte von einer nahen Straßenlaterne.
Der Wecker neben dem Bett blinzelte ihr zu. Einundzwanzig Uhr zweiundvierzig. Schon fast Viertel vor zehn? O mein Gott!
Nach dem Bericht an Jackson Lamb hatte Shirley einen Kokaincrash erlitten, und das mitten in Slough House. Der Zustand an sich war ihr nicht neu, aber im Allgemeinen konnte sie ihn vorausplanen und mit einer Daunendecke, einem Tablett voller Brownies und einer Friends -DVD abfedern. Ein Büro mit einem neugierigen Kollegen war definitiv nicht der richtige Ort für eine harte Landung.
»Schöner Morgen, oder?«
Marcus Longridge konnte nicht ahnen, welche Anstrengung sie das Grunzen kostete, mit dem sie ihm antwortete.
Aber er gab nicht auf. »Hat dir der Ausflug Spaß gemacht?«
Diesmal gelang es ihr, mit den Achseln zu zucken. »Landleben. Wer’s mag.«
»Bist wohl mehr ein Beach Girl?«
»›Girl‹, haha.«
Vor ihr war wieder das virtuelle schwarze Gesicht erschienen. Einmal kurz raus, frische Luft schnuppern, und schon musste sie wieder Gesichter miteinander vergleichen – es war, als würde man Memory ohne passendes Pärchen spielen. Sie hatte Lamb erzählt, dass ihr das Aufspüren von Mr B eine schlaflose Nacht beschert hatte, aber er hatte lediglich mit einem zähnefletschenden Grinsen reagiert. »Dann freuen Sie sich bestimmt auf zu Hause, oder?«, hatte er erwidert.
Marcus beobachtete sie immer noch. »Ich brauche was zu essen«, sagte er. »Möchtest du auch was?«
Ein dunkles Zimmer, ein ruhiges Bett, die vorübergehende Abwesenheit von Leben.
»Shirley?«
»Vielleicht ein Twix.«
»Bin gleich wieder da.«
Als er weg war, ging Shirley zum Fenster. Kurz darauf erschien Marcus unten auf der Straße. Instinktiv zog sie sich zurück, aber er schaute nicht nach oben, sondern überquerte schnurstracks die Straße und ging auf die Reihe der Geschäfte zu. Im Gehen hielt er sein Handy ans Ohr.
Die Paranoia schlug zu. Wie immer, wie bei jedem Kater, den Shirley je erlebt hatte – ob von Bier, Tequila, Kokain oder Sex –, fühlte sie sich verschreckt und gejagt. Doch obwohl sie das wusste, war sie sich sicher, dass sie der Gegenstand dieses Telefonats war.
Zurück im Hier und Jetzt stöhnte sie leise auf. Das änderte nichts an dem komischen Licht, dem Pulsieren ihres Schädels und dem schwarzen Abgrund, der sich jedes Mal auftat, wenn sie die Augen schloss.
Einundzwanzig Uhr fünfundvierzig, blinkte ihre Uhr. Sie könnte noch zehn Stunden bleiben, wo sie war, und vielleicht würde es ihr dann wieder bessergehen.
Vielleicht …
Sie gab sich noch fünf Minuten, dann stand sie auf, zog sich an und ging hinaus in den Abend.
Kyril war wieder verschwunden. Als Min um die Ecke bog und das feststellte, fluchte er verhalten und schmeckte wieder Bier. Egal: Das war nicht das Ende der Welt. Es war nur ein Zeichen, dass die Zielperson ihren endgültigen Aufenthaltsort erreicht hatte.
»Absteige« war ihm durch den Kopf geschossen, als er erfahren hatte, dass das Taxi die Russen an der Edgware Road abgesetzt hatte. Damit lag er nicht weit daneben. Die Gebäude hier waren hoch und imposant, aber ihre Glanzzeit war längst vorbei, und die Gentrifizierung hatte noch nicht eingesetzt: Klingelschilder bewiesen, dass jeder Quadratzentimeter vermietet war, und die Decken und Zeitungen, mit denen die Fenster verhängt waren, verrieten das dort hausende Prekariat.
Da haben wir ja was gemeinsam, Kumpel, dachte Min. Dann packte ihn eine Hand aus Stein an der Schulter, und etwas Kaltes und Stumpfes und Stählernes wurde an seinen Hals gepresst.
»Kann es sein, dass Sie mich verfolgen, ja?«
Min sagte: »Ich – was? Wovon reden Sie?«
»Mr Harper. Ich glaube, Sie folgen mir. Oder?« Das Stahldings drückte fester.
»Ich bin nur …«
»Ja, was?«
Ich brauche nur einen Moment, um mir eine Geschichte auszudenken, dachte Min.
Das Stahldings bohrte sich noch fester in seinen Hals.
»So, wissen Sie, was?«, fragte Kyril. »Jetzt können Sie mal erleben, was mit Leuten vom Energieministerium passiert, die zu neugierig werden, wissen Sie, was ich meine?«
Lamb öffnete eine Schublade und holte ein zweites Glas heraus, gesprungen und staubig, in das er eine sorgfältig abgemessene Menge Talisker goss, und stellte es dann in Catherines Reichweite. Anschließend füllte er, etwas weniger sorgfältig, sein eigenes Glas wieder auf.
»Chin chin«, sagte er.
Catherine antwortete nicht und sah auch das Glas nicht an.
»Selbstverständlich wurde der Sicherungskasten in Swindon manipuliert. Glaubst du im Ernst, ich würde mich irgendwo in der Pampa rumtreiben, ohne mich vorher zu vergewissern, dass es notwendig ist? Die Züge wurden etwa zur gleichen Zeit lahmgelegt, wie unser Freund Mr B eine Köderspur für Dickie Bow auslegte.«
»Warum sollte er das gemacht haben?«
»Weil man keine Spur auf einem gepflegten Bürgersteig auslegt. Man muss den Jäger wachkitzeln.«
»Er wollte, dass Bow ihm folgt.«
Lamb stellte sein Glas ab und applaudierte ihr betont langsam.
»Und dich hat man ebenfalls geködert«, stellte sie fest. »Du hast etwas bei seiner Leiche gefunden, oder?«
»Im Bus. Sein Handy. Mit einer nicht gesendeten SMS
Sie hob eine Augenbraue. »Eingegeben in seinen letzten Zügen?«
»Eher eingegeben von Mr B. Es entstand ein Gedränge, als die Leute merkten, dass Dickie Bow tot war. Mr B hätte sich daruntermischen, die Nachricht eingeben und das Handy zwischen die Polster schieben können.«
»Was stand denn da?«
»Nur ein Wort«, sagte Lamb. »Cicadas.«
»Was offensichtlich etwas zu bedeuten hat.«
»Für mich schon. Bow hätte es allerdings nichts bedeuten dürfen. Ein weiterer Grund, warum ich mir sicher bin, dass die Nachricht nicht von ihm stammt.«
»Und das nicht nachweisbare Gift?«
»Pipifax. Die meisten nicht nachweisbaren Giftstoffe sind durchaus nachweisbar, aber man muss sie analysieren, bevor sie zerfallen. Ein alter Säufer stirbt an einem Herzinfarkt – da kommen die meisten Rechtsmediziner auf nichts weiter als Herzinfarkt.« Er warf die Hände in die Luft wie ein Zauberer. »Puff! Ende, aus. Aber irgendwo muss es eine Einstichwunde gegeben haben. Ist ja ganz leicht, jemanden inmitten einer Menschenmenge zu stechen.«
Catherine erwiderte: »Aber die ganze Methode ist doch kaum narrensicher, oder? Wie hoch stehen die Chancen, dass du zwischen den Polstern nach Bows Handy gesucht hättest?«
»Irgendjemand hätte es getan. Man schaltet keinen Schnüffler aus, nicht mal einen so runtergekommenen Niemand wie Bow, ohne Wellen zu schlagen. Früher war das jedenfalls so. Scheint allerdings so, als hätte Regent’s Park heutzutage Besseres zu tun.« Er griff nach seinem Glas. »Man sollte sie mal daran erinnern. Man lässt seine Leichen nicht neben dem Pool liegen.«
»Ich werde ein Memo rumschicken.«
»Und wenn ich diesen Hinweis nicht gefunden hätte, hätte es weitere gegeben. Bis hin zu dem Aufstand, den Mr B im Taxi veranstaltet hat. Putzt den Taxifahrer runter, weil er ihn angeblich zum falschen Ziel bringt. So was gerät nicht so schnell in Vergessenheit, oder?« Lamb kräuselte seine Oberlippe. »Der Taxifahrer ist ein Stolperdraht. Garantiert hing er am Telefon, sobald Shirley um die Ecke war.«
»Was bedeutet, er weiß, dass wir seiner Spur folgen.«
»Wie brave kleine Bluthunde.«
»Ist das klug?«
»Was hat das mit klug zu tun? Entweder folgen wir seiner Spur, oder wir vergessen es. Aber das ist keine Option, denn wer auch immer dahinter steckt, ist altmodisch. Es braucht einen alten Schnüffler, um zu wissen, dass eine Straßenratte wie Bow überhaupt seinen Köder schlucken würde. Wer auch immer die Fäden zieht, spielt nach Moskauer Regeln. In Regent’s Park ist man vielleicht zu beschäftigt, um anzunehmen, dass sich Nachforschungen lohnen, aber für mich gilt das nicht.«
»Willst du seinen Namen aussprechen, oder soll ich es tun?«
»Welchen Namen?«
»Alexander Popow«, sagte Catherine Standish.
Das Zimmer war klein, das Fenster stand offen. Es war kalt, aber dennoch: Eine Schweißperle löste sich von Mins Haaransatz und rann seinen Hals hinunter. Die anderen beiden Männer starrten ihm unverwandt in die Augen. Er hatte eine Chance, schneller als die beiden zu sein, aber tief im Inneren wusste er, dass sie verschwindend gering war: Hätte er einem von ihnen allein gegenübergestanden, egal, welchem, hätte er es schaffen können, aber zusammen waren sie ein übermächtiger Gegner. Früher wären seine Reflexe der Situation gewachsen gewesen. Aber er wurde mit jedem Moment älter, hatte vorher schon etwas getrunken, und …
Eine Faust knallte auf den Tisch.
Drei Shots …
Min war schnell, aber schnell reichte nicht. Irgendwo anders in London hätte es vielleicht genügt, aber hier und jetzt in diesem Raum war er erledigt.
Beim dritten Shot verschüttete er das meiste. Piotr und Kyril lehnten sich bereits zurück, die leeren Gläser aufgereiht, und brüllten vor Lachen.
Als er wieder sprechen konnte, sagte Kyril: »Du hast verloren.«
»Ich hab verloren«, gab Min zu. Die drei Wodkas addierten sich zu den beiden aus der vorherigen Runde und dem aus der Runde davor. Und zu den Straf-Shots, weil er beide verloren hatte. Und natürlich hatte er auch schon die Biere intus gehabt, die er in dem Pub in der Nähe seines Arbeitsplatzes getrunken hatte, wobei er sich an solche Einzelheiten wie zum Beispiel den Namen des Pubs oder seines Bürogebäudes nur noch verschwommen erinnern konnte. Diese Typen, ehrlich – diese Typen! Die Jungs waren irgendwie verrückt, aber es war schon erstaunlich, wie schnell Barrieren fielen, wenn man es mit manchen beruflichen Vorschriften nicht so genau nahm. Zum Beispiel seiner Aufgabe, ein Auge auf diese Kerle zu haben, ohne dass sie es merkten.
Möglicherweise hatte er diesen spezifischen Teil seiner Mission vermasselt.
»Los, erzähl noch mal«, forderte ihn Kyril auf, »wie das war, als ich das mit dem Schlüssel gemacht habe. Als ich –«
»Als du mir das Ding an den Hals gehalten hast, du blöder Arsch!«
Kyril lachte. »Du hast gedacht, es wäre eine Waffe, oder?«
»Na klar habe ich gedacht, es wäre eine Waffe! Idiot!«
Jetzt lachten alle drei. Man musste sich das bloß mal vorstellen: Min, der davon überzeugt war, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte. Dass ein russischer Spion ihm eine Pistole in den Hals bohrte und im Begriff war, den Abzug zu drücken.
Kyril brachte zwischen seinen Lachsalven hervor: »Ich konnte nicht widerstehen!«
»Seit wann wusstest du, dass ich hinter dir her war?«
»Die ganze Zeit. Ich habe dich auf deinem Fahrrad kommen sehen.«
»O Gott, o Gott«, seufzte Min kopfschüttelnd. Aber er war nicht allzu niedergeschlagen. Okay, also hatte er es vermasselt, aber es hatte keine schwerwiegenden Folgen gehabt. Obwohl er sich ziemlich sicher war, dass es das Beste wäre, wenn niemand sonst davon erfuhr. Insbesondere Lamb, dachte er. Und Louisa. Und alle anderen. Aber vor allem sie.
Piotr sagte: »Du musst dich deswegen nicht fertigmachen. Wir sind Security. Wir sind darauf trainiert, Gesichter in Menschenmengen zu erkennen.«
»Genauso, wie du dazu ausgebildet bist, das zu tun, was auch immer du tust im … Energieministerium«, fügte Kyril hinzu. Sein breites Lächeln enthielt unsichtbare Anführungszeichen.
»Hört mal …«, begann Min, aber Piotr winkte ab, als verabschiede er ihn vor einer Reise.
»Alles gut. Arkadi Paschkin ist ein wichtiger Mann. Meinst du, wir wissen nicht, dass ein … Interesse an ihm besteht? Von Regierungsseite? Wir wären besorgt, wenn es nicht so wäre. Das würde bedeuten, dass er nicht mehr wichtig wäre. Und Leute, die nicht wichtig sind, brauchen keine Leute wie uns.«
»Wenn meine Vorgesetzten herausfinden würden, dass ich hier war …«
»Du meinst«, sagte Kyril hämisch, »wenn sie herausfinden würden, dass du deinen Beschattungsjob vermasselt hast.«
»Na ja, immerhin habe ich dich bis zu eurem Versteck verfolgt«, erwiderte Min.
»Und jetzt erfährst du, was mit Leuten vom Energieministerium passiert, die zu neugierig sind.«
Wieder brüllten alle vor Lachen. Piotr füllte die Gläser nach.
»Auf gute Zusammenarbeit!«
Min war froh, darauf zu trinken. »Prawda«, sagte er, denn das war das einzige russische Wort, das er kannte.
Wieder bogen sich alle vor Lachen, und eine weitere Runde musste eingeschenkt werden.
Sie befanden sich im obersten Stockwerk, das eine in sich geschlossene Wohnung bildete. Sie bestand aus einer Küche und noch mindestens zwei weiteren Räumen. Die Küche war sauber, abgesehen vom Fenster, das mit dem üblichen Stadtruß verschmiert war. Der Kühlschrank war gefüllt, und das nicht nur mit Wodka. Er enthielt Saftkartons und Gemüsebündel sowie kleine Päckchen von der Käse- und Wursttheke. Die beiden waren es gewöhnt, von zu Hause weg zu sein, vermutete Min, und wussten, wie man sich in einer fremden Stadt selbst versorgt, ohne auf Lieferessen zurückgreifen zu müssen. Er vermutete auch, dass er, wenn er noch mehr trank, vergessen würde, wo er wohnte, geschweige denn noch mit dem Rad dorthin zurückfahren konnte. Doch unter einem Bus zu enden, war das Letzte, was er wollte.
Von irgendwoher kam ein Geräusch, die Haustür öffnete und schloss sich, und jemand Neues betrat das Zimmer. Min drehte sich um, doch wer immer es war, verschwand bereits wieder im Flur.
Piotr sagte: »Einen Moment«, und verließ die Küche.
Kyril goss mehr Wodka ein.
»Wer war das?«, fragte Min.
»Niemand. Ein Freund.«
»Warum schließt er sich uns nicht an?«
»Er ist nicht diese Art von Freund.«
»Kein Trinker«, vermutete Min. Das Glas vor ihm lachte ihn an. Was hatte er gerade in Bezug auf Alkohol entschieden? Aber es wäre unhöflich gewesen, ein volles Glas stehenzulassen, also wiederholte er den Trinkspruch, den Kyril gerade ausgebracht hatte, und schüttete sich den Wodka in den Hals.
Piotr kehrte zurück und sagte etwas zu Kyril, das für Min nach nichts als einem Haufen Konsonanten klang.
»Was ist los?«, fragte er.
»Nichts«, sagte Kyril. »Gar nichts.«
Die Paranoia war wieder da, wenn sie überhaupt jemals weg gewesen war. Shirley Dander, ganz in Schwarz, passte wie ein Badewannenstopfen in die Straßen von Hoxton, fühlte sich aber trotzdem fehl am Platz, als ob jeder ihrer Schritte einen Neon-Fußabdruck hinterlassen würde.
Die Nacht war noch jung. Erst halb elf.
Sie hatte hier eine Stammkneipe, die sie hauptsächlich deswegen bevorzugte, weil sie dort einen Kontakt hatte. Sie mochte das Wort »Dealer« nicht: Dealer bedeutete Gewohnheit, Gewohnheit bedeutete Problem, und Shirley hatte kein Problem, sie hatte einen Lebensstil. Einen, den sie nicht so leichtfertig in den Wind schießen würde wie ihre Karriere. Dieses Slough House war ein Friedhof, das war ihr von Anfang an klar gewesen, aber dass die Grabhügel so hoch aufgetürmt waren, hatte sie gerade erst begriffen. Sie hatte getan, was Jackson Lamb verlangt hatte – und sie hatte ihre Sache gut gemacht, ohne einen Schnitzer –, und ihre einzige Belohnung war ein Zurück-an-Ihren-Schreibtisch gewesen. Nach dem, was sie gehört hatte, war es schon ein Wunder gewesen, dass sie überhaupt rausgeschickt worden war. Lahme Gäule kamen, und lahme Gäule gingen, und dazwischen blieben sie angebunden im Stall. Es war fast, als wäre ihre Mission grausame Berechnung gewesen: Lassen wir sie einen Blick auf die Sonne werfen und schließen dann die Stalltür wieder zu.
Ach, scheiß auf Lamb. Wenn er ihr das Leben schwermachen wollte, würde er es zurückkriegen.
An der Bar im Pub drängten sich die Leute in drei Reihen hintereinander. Aber egal. Sie hatte sowieso nicht vor zu bleiben. Ein vertrautes Gesicht hob eine Hand zur Begrüßung, aber Shirley tat so, als wäre sie abgelenkt, und drängte sich durch zu den Toiletten, die sich auf der anderen Seite befanden: ein schäbiger Flur mit einem verschmierten Spiegel und Flugblättern an den Wänden, die für Open-Mic- Poetry-Abende, lokale Bands, die Stop-the-City -Rallye und Transgender-Kabarett warben. Sie musste nicht lange warten. Ihr Kontakt schlenderte von der Bar aus herüber, und genau siebzehn Wörter später ging Shirley wieder, um drei Geldscheine leichter und mit einem Päckchen in der Hosentasche, das sich angenehm an ihr Bein schmiegte.
Schwarze Jacke. Schwarze Jeans. Eigentlich so gut wie unsichtbar, und dennoch fühlte sie sich auffällig. Erinnerungen an letzte Nacht blitzten von Windschutzscheiben: der Junge, den sie halb zu Tode erschreckt hatte, als sie bei DataLok eingebrochen war. So leicht war es, jemanden zu terrorisieren. Man musste einfach nur fest daran glauben, im Namen einer gerechten Sache zu handeln, und wenn man das nicht konnte, reichte es, dass einem die Leute egal waren, denen man das antat … Als sie sich umdrehte, war Shirley überzeugt, dass jemand sie verfolgte; ein Gesicht aus dem Pub, einer der Unauffälligen, dessen Augen ständig an ihr klebten, der es aber nie gewagt hatte, sich ihr zu nähern. Egal, die konnten sie mal. Shirley war vergeben, und außerdem tanzte sie nicht, wo sie einkaufte. Das dachte sie, als sie sich umblickte, aber die Straße war verlassen oder schien es zumindest zu sein. Paranoia, sonst nichts. Dagegen würde der Inhalt des angenehmen Dings in ihrer Tasche helfen.
Ganz in Schwarz setzte sie ihren Weg fort.
»Alexander Popow«, sagte Catherine Standish.
Lamb sah sie nachdenklich an. »Raus mit der Sprache, woher hast du diesen Namen?«, fragte er.
Sie ließ ihn im Unklaren.
»Manchmal frage ich mich, ob du nicht abtrünnig wirst.«
Misstrauisch sah sie ihn an. »Regent’s Park«?
»Nein, ich meinte die GCHQ . Hast du mich verwanzt, Standish?«
Sie erwiderte: »Du schickst River undercover …«
»Oh, mein Gott, ich hätte es mir denken können«, seufzte Lamb.
»… obwohl du genau weißt, dass das eine Falle ist?«
»Ich hab’s ihm erst vor ein paar Stunden gesagt. Hat er schon seinen Facebook-Status geändert?«
»Ich meine das ernst.«
»Ich auch. Hat Opa dem Jungen denn gar nichts beigebracht, außer, wie man Geschichten erzählt?« Als er sein Glas wieder an den Mund setzte, fixierte er jenes, das er für Catherine eingeschenkt hatte. Es war wie eine Herausforderung oder eine sorgfältig formulierte Beleidigung. »Es wäre ihm doch sowieso egal, ob es eine Falle ist oder nicht. Eine Operation ist eine Operation. Für ihn ist es wahrscheinlich, als fielen Ostern und Weihnachten auf einen Tag.«
»Ja, das glaube ich allerdings auch. Aber du weißt, wie das mit Weihnachten ist. Es endet immer in Tränen.«
»Er geht in die Cotswolds, Standish. Nicht nach Afghanistan.«
»Weißt du, was Charles Partner immer über Ops gesagt hat? Je freundlicher das Gebiet, desto schrecklicher die Einheimischen.«
»War das, bevor oder nachdem er sich das Gehirn rausgepustet hat?«
Catherine antwortete nicht.
Lamb sagte: »Was alle immer zu vergessen scheinen, ist, dass Alexander Popow vielleicht nie existiert hat, aber durchaus derjenige, der ihn erfunden hat. Und wenn dieser Klugscheißer eine Mausefalle in unserem Garten aufstellt, müssen wir herausfinden, warum.« Er rülpste. »Und wenn das bedeutet, Cartwright zu unserem Käsefresser zu bestimmen, dann ist es eben so. Er ist ein Profi. Top ausgebildet. Denk dran. Die Versagerrolle ist nur sein Hobby.«
»Er ist dein weißer Wal, nicht wahr? Popow?«
»Was soll das denn heißen?«
»Der Ausdruck stammt auch von Charles. Er meinte damit, dass es gefährlich wäre, einen Feind zu personalisieren. Denn in diesem Fall geriete man auf die Jagd nach dem weißen Wal.« Catherine hielt inne. »Das ist eine Anspielung auf Moby Dick. Sie funktioniert wahrscheinlich besser, wenn man sie nicht erklären muss. River weiß nicht, dass er einem Köder auf den Leim geht, oder?«
»Nein«, sagte Lamb. »Und er wird es auch nicht erfahren. Oder dein Vertrauen in deine unangreifbare Position hier könnte erschüttert werden.«
Sie sagte: »Ich werde es ihm nicht verraten.«
»Gut. Trinkst du das noch oder nicht?«
Catherine goss den Inhalt ihres Glases in das von Lamb. »Es sei denn, ich komme zu dem Schluss, dass er in Gefahr ist«, fuhr sie fort. »Es ist schließlich dein Wal. Es gibt keinen Grund, warum jemand anderer sterben sollte, beim Versuch, eine Harpune reinzustechen.«
»Niemand wird sterben«, entgegnete Lamb. Womit er sich irrte, wie sich herausstellen sollte.
Das Telefon klingelte.
Da die Leiche einen Service-Ausweis bei sich trug, gingen Warnflaggen hoch. Das bedeutete, dass die anwesenden Polizisten zu Verkehrsbullen degradiert wurden, während Nick Duf‌fy – der Leit-Dog des Parks – die Führung übernahm und sein Rudel Winkel maß und Zeugen befragte.
Die meisten Leute waren erst nach dem Ereignis eingetroffen, außer natürlich die Fahrerin des Unfallwagens. Sie war die einzige Augenzeugin.
»Er ist mir ganz plötzlich vors Auto gefahren!«, wiederholte sie.
Sie war blond und wirkte nüchtern; ein Eindruck, der von einem Alkoholtester bestätigt wurde, den ein verärgerter Polizist rausrücken musste.
»Ich hatte keine Chance.«
Ihre Stimme zitterte, aber das war verständlich: Fahre jemanden tot, ob nüchtern oder nicht, und du fühlst dich zwangsläufig wackelig auf den Beinen.
Es war nicht die belebteste Kreuzung zu dieser nächtlichen Stunde, aber blind wollte man sie trotzdem nicht überqueren. Doch wenn man zugedröhnt oder betrunken war, achtete man natürlich nicht unbedingt auf rote Ampeln.
»Ich habe sofort gebremst, aber …«
Wieder erschauerte sie.
Nick Duf‌fy hörte sich sagen: »Ich bin davon überzeugt, dass es nicht Ihre Schuld war.« Mein Gott, er klang wie ein Psychobulle.
Aber sie war blond und ziemlich sexy, und die Leiche hatte zwar einen Dienstausweis, kam aber aus Slough House, was ebenso wenig etwas Besonderes war wie ein gewöhnlicher Streifenpolizist; eher in dem Sinne besonders, wie manche Kinder besondere Bedürfnisse hatten. Wenn ein Geheimagent unter ein Auto kam, musste man natürlich sorgfältig überprüfen, ob das Fahrzeug – metaphorisch ausgedrückt – zwielichtige Kennzeichen hatte, doch als herauskam, dass der Agent ein Slow Horse gewesen war, schätzte man das Risiko eher gering ein. Vielleicht hatte er nur in die falsche Richtung geschaut. Links/rechts. Da konnte man sich schon mal irren.
Und sie war blond und ziemlich sexy …
»Trotzdem muss ich mir Ihren Führerschein ansehen.«
Welcher ihm sagte, dass sie eine gewisse Rebecca Mitchell war, achtunddreißig Jahre alt, britische Staatsbürgerin; nichts, was darauf hinwies, dass sie gerade einen Anschlag verübt haben könnte. Obwohl die erfolgreichsten Anschläge natürlich von den am wenigsten wahrscheinlichen Kandidaten ausgeführt wurden.
Nick Duf‌fy überblickte noch einmal die Kreuzung. Seine Dogs überprüften Bordsteine und Ladeneinfahrten: Als das letzte Mal ein Agent überfahren worden war, war dabei eine Waffe verschwunden, und Bad Sam Chapman, sein direkter Vorgänger, hatte nach einer internen Untersuchung den Dienst quittieren müssen. Als er das letzte Mal von ihm gehört hatte, arbeitete er für eine Privatfirma. Kein Schicksal, auf das Duf‌fy scharf war, nein danke. Als er der Frau den Führerschein zurückgab, kam ein Taxi an, und Jackson Lamb stieg aus. Eine Frau war bei ihm, und es dauerte einen Moment, bis Duf‌fy auf ihren Namen kam: Catherine Standish, die schon im Park gedient hatte, als Duf‌fy noch ein Welpe war, aber nach dem Selbstmord von Charles Partner ins Exil gegangen war. Die beiden ignorierten ihn. Sie gingen direkt auf die Leiche zu.
»Sie werden eine Aussage machen müssen«, sagte Duf‌fy zu Rebecca Mitchell. »Es wird sich gleich jemand um Sie kümmern.«
Sie nickte stumm.
Duf‌fy ließ sie stehen und näherte sich den Neuankömmlingen, um ihnen zu sagen, dass sie sich von der Leiche fernhalten sollten, aber bevor er Lamb ansprechen konnte, drehte dieser sich um, und der Ausdruck auf seinem Gesicht brachte Duf‌fy dazu, den Mund zu halten. Dann blickte Lamb wieder auf die Leiche und anschließend die Straße entlang. Duf‌fy konnte nicht erkennen, worauf er sich konzentrierte: den Verkehr an entfernten Kreuzungen, die Laternen, die entlang der Autobahn glitzerten. Die Stadt war nachts stets mit Lichterketten geschmückt, mal mit bunten, fröhlichen für eine Hochzeit, mal mit gedimmten, trüben für eine Beerdigung.
Standish sprach mit Jackson Lamb.
»Wer sagt es Louisa?«, fragte sie.