TEIL ZWEI
Weiße Wale
8
Wenn man mit dem anfangen will, was Upshott alles nicht hat, dann fehlt ihm zunächst einmal eine Einkaufsmeile wie die in den umliegenden Orten mit ihren Defilees von Schein-Tudor-Fassaden, die sich anmutig flussabwärts dahinziehen, den zahlreichen Antiquitätenläden und Gartenmöbel-Ausstellungen, Lebensmittelgeschäften, die Kekse mit kandiertem Ingwer und sieben Arten von Pesto anbieten, und Pub-Speisekarten, die denen in Hampstead in nichts nachstehen. Es gibt weder Cafés mit Tagesmenüs auf Tafeln draußen auf dem Bürgersteig noch kleine Buchläden mit Lesungen einheimischer Autoren, noch sind die Seitenstraßen mit ordentlich getrimmten Hecken gesäumt, die Häuser aus pastellgelbem Stein bewachen. Kurzum: Upshott verleitet nicht zu der verächtlichen Bemerkung: »Ts, ts, wie eine Pralinenschachtel!«, denn wenn es einer Pralinenschachtel ähnelte, dann der, die im Regal des einzigen Supermarktes Staub ansetzte und in brüchig gewordenem Zellophan vergilbte.
Noch einmal zu der Einkaufsmeile, die Upshott nicht hat. Stattdessen hat es eine Hauptstraße, die dort, wo sie in den Ort hineinführt, eine Kurve beschreibt, um die Kirche herum, und dann noch dreihundert Meter weiter, wenn sie sich zwischen dem Pub links von ihr und der
halbkreisförmigen Grünfläche rechts von ihr hindurchschlängelt. Dann führt sie bergauf an dem neuen Wohngebiet, der kleinen Grundschule und dem Rathaus vorbei, einem modernen Fertigbau, für den Besucher eine Wegbeschreibung brauchen. Andererseits ist das Rathaus nicht das Herz von Upshott; dieses wird von der Dreieinigkeit Briefkasten, Pub und Dorfladen gebildet. Ersterer steht auf der Seite der Grünfläche, die am weitesten von der Straße entfernt liegt, was unbequem ist, es sei denn, man wohnt in einem der angrenzenden Häuser. In einem Halbrund angeordnet, sind es die ältesten Gebäude Upshotts – dreistöckige Stadthäuser aus dem 18. Jahrhundert, deren Lage irgendwie seltsam erscheint, besonders im Kontrast zu den Bungalows am Hang, von denen die meisten leerstehen, nachdem sie einst Wohnraum für das Servicepersonal der nahe gelegenen US
-Air-Force-Kaserne boten: Reinigungskräfte und Hausmeister, Köche und Küchenhilfen, Mechaniker und Fahrer. Als die Kaserne Mitte der neunziger Jahre aufgegeben wurde, verlor Upshott zahlreiche Einwohner. Die übriggebliebenen leben größtenteils in den alten Reihenhäusern oder weiter hinten entlang der Hauptstraße, und früher oder später tauchen sie alle im Pub auf.
Die Kneipe heißt The Downside Man
und ist der Grünfläche zugewandt. Links hat sie einen kleinen Parkplatz, hinten eine abgestufte Terrasse, von der aus man auf den geschwungenen Waldrand in etwa anderthalb Kilometern Entfernung blickt. Das Downside Man
hat weiß getünchte Wände und ein Kneipenschild aus Holz, das einst im Wind hin und her schwang, sich jedoch bei starkem Wind löste, so dass es inzwischen von Tommy Moult, dem ehrenamtlichen
Gelegenheitshandwerker des Dorfes, an seinem Pfosten befestigt worden war. Gerüchte behaupten, Tommy führe ein geheimes Doppelleben, weil er sich nur am Wochenende sehen lässt. Dann findet man ihn unweigerlich vor dem Dorfladen, wo er, die rote Wollmütze über die Ohren gezogen, Samenpäckchen von seinem Fahrrad aus verkauft, das er neben einer Gemüseauslage parkt. Dies macht offenbar den Dreh- und Angelpunkt seines Geschäfts aus, da er jeden Samstagmorgen, winters wie sommers, dort zu finden ist. Dass er unter Leute kommt, scheint wichtiger zu sein, als lukrative Geschäfte zu machen, denn nur wenige Einheimische gehen ohne einen kurzen Wortwechsel an ihm vorbei.
Der Laden, vor dem er steht, befindet sich auf dem Weg, den wir gekommen sind, an der Ecke gegenüber von St. Johnno, wie die Kirche genannt wird. Wenn man vom Pub aus hinmöchte, kommt man links an einer Reihe von Steinhäusern vorbei, unterbrochen von einem alten Herrenhaus, das in Wohnungen aufgeteilt wurde. Auf der rechten Seite befinden sich größere, neuere Häuser, die sich noch nicht ganz in die Umgebung eingefügt haben; sie sind zu sauber, zu geschniegelt. Durch die Lücken zwischen ihnen kann man jedoch immer noch den Ausblick auf den anderthalb Kilometer entfernten Waldrand genießen, und auch wenn eine Betonmischmaschine hie und da verrät, dass manche der Lücken hätten zugebaut werden sollen, gibt es kaum andere Anzeichen von Bautätigkeit. Diese Betriebsamkeit ist vor Jahren zum Erliegen gekommen. Ein neuer Aufschwung könnte kommen, sobald die Zeiten besser werden, doch die Finanzkrise bleibt so undefiniert wie ein
spekulatives Bauprojekt: Man kann seine mögliche Form in der Luft skizzieren, aber nicht seine Wände berühren, um seine Grenzen auszumachen. Und dann beschreibt die Straße erneut eine Kurve, zwischen dem Geschäft und St. John of the Cross, wie die Kirche richtig heißt: dreizehntes Jahrhundert, Postkartenidylle, schmiedeeisernes Tor, gepflegter Friedhof, dessen älteste Bewohner einst im Herrenhaus lebten und sich vermutlich in ihren Gräbern umdrehten, als es zum Mehrfamilienhaus umgebaut wurde. Der Gottesdienst in St Johnno findet mittlerweile jedoch nur noch alle zwei Wochen statt. Kundenfreundlichere Öffnungszeiten hat der Dorfladen: täglich von acht bis zehn, wobei er keinerlei Ähnlichkeit mit den schicken Boutiquen der hübscheren Ortschaften in der Umgebung hat und sich in seinen Regalen hauptsächlich das stapelt, was die Leute wirklich anstatt exotischer Delikatessen brauchen: Konserven, Milchprodukte, Tiefkühlprodukte; Säcke mit Holzkohle, Säcke mit Katzenstreu, schwankende Türme aus Toilettenpapier; Shampoo, Seife und Zahnpasta; Kühlregale mit Bier und Wein; Saftpackungen und Milchflaschen.
Viele Einheimische brauchen zu Fuß nicht weiter zu gehen als bis zum Laden; die Straße hingegen führt weiter, vorbei an ein paar weiteren bunt zusammengewürfelten Häusern, bevor sie zu einer kleinen Landstraße schrumpft, die auf beiden Seiten von hohen Hecken gesäumt wird und tiefe Schlaglöcher aufweist. Nach anderthalb Kilometern erreicht sie den Truppenübungsplatz – nachdem die amerikanische Basis aufgegeben wurde, kam das englische Militär, und wo einst Flugzeuge einer befreundeten Streitmacht starteten und landeten, finden jetzt Heeresübungen statt. Wenn rote
Flaggen gehisst sind, sollte man tunlichst nicht über die freien Felder südöstlich von Upshott wandern, und manchmal fallen nach Einbruch der Dunkelheit große Leuchtkugeln vom Himmel und erhellen das Gelände für Nachtübungen. Neben der Straße, abgegrenzt durch einen zweieinhalb Meter hohen Maschendrahtzaun, führt die letzte verbliebene Start- und Landebahn, an deren einem Ende ein Hangar und ein Clubhaus stehen wie Häuser auf einem Monopoly-Brett. Dort finden an mehreren Abenden pro Woche zivile Aktivitäten statt, und an den meisten Wochenenden im Frühjahr und Sommer hebt dort morgens ein einmotoriges Flugzeug ab, das über Upshott kreist, bevor es am fernen Horizont verschwindet – wobei es bisher jedes Mal zurückgekehrt ist.
Es ist also ein ruhiger Ort, trotz des regelmäßigen Gewehrknatterns, ja, vielleicht sogar ein wenig verschlafen, auch wenn der Schein trügt, da die meisten Einwohner außerhalb arbeiten und in der Regel ab acht Uhr unterwegs sind. Also wäre harmlos
vielleicht die bessere Bezeichnung – wie Jackson Lamb erwähnte, ist es keineswegs Afghanistan.
Doch selbst in harmlosen Ortschaften ertönen nachmittags manchmal Schreie.
»O nein!«, schrie River … zu spät. Nicht einmal ein Ganzkörperschutz hätte ihm etwas genützt. Da half nur noch beten, aber selbst dafür war es zu spät: Nur ein Echo hallte in seinem leeren Schädel wider, während sich sein ganzer Körper zusammenkrampfte, dann noch ein zweites Mal, und dann erschlaffte, jedenfalls gefühlt, und seine Augen sich hinter den zusammengekniffenen Lidern entspannten und die Dunkelheit, die ihn umfing, weicher wurde.
Nach einer Weile sagte seine Partnerin: »Meine Güte!«, aber es klang nicht positiv überrascht. Sie rollte sich von ihm herunter und zog sich die Bettdecke hoch bis zu den Schultern. River lag reglos da, sein Herzschlag beruhigte sich allmählich wieder, und ein Schweißfilm bedeckte seine Haut – er hatte lange genug durchgehalten, um ins Schwitzen zu geraten.
Aber er bezweifelte, dass ihm das als mildernde Umstände angerechnet würde.
Es war nachmittags, an einem Dienstag in Rivers dritter Woche in Upshott, und er lag in dem von Gardinen abgedunkelten Schlafzimmer eines der Häuser im neuen Wohngebiet auf der nördlichen Anhöhe, einem Haus, das unter seinem Decknamen Jonathan Walker gemietet worden war. Jonathan Walker war Schriftsteller. Aus welchem anderen Grund sollte jemand außerhalb der Saison nach Upshott kommen? Selbst wenn Upshott eine Saison gehabt hätte. Jonathan Walker verfasste Thriller und konnte dies mit einem Amazon-Titel beweisen: Kritische Masse,
das trotz seines Nichtvorhandenseins mit einer Ein-Stern-Rezension bedacht worden war. Er arbeitete derzeit an einem Roman, der in den achtziger Jahren auf einem US
-Militärstützpunkt spielte. Daher Upshott, außerhalb der Saison.
Seine Partnerin sagte: »Ich hatte früher ein T-Shirt, auf dem stand: Jungs gesucht – Erfahrung nicht nötig
. Wen Gott strafen will, dem erfüllt er seine Wünsche, stimmt’s?«
»Tut mir leid«, sagte er. »Ist schon eine Weile her.«
»Komisch, hab ich mir irgendwie gedacht.«
Ihr Name war Kelly Tropper, und sie arbeitete an der Theke im Downside Man:
Sie war Anfang zwanzig, zierlich,
flachbrüstig, mit krähenfarbenem Haar; eine Aneinanderreihung von Adjektiven, die River unliterarisch gefunden hätte, wenn er tatsächlich Schriftsteller gewesen wäre. Dazu hatte sie zartweiße, glatte Haut und eine seltsam abgeflachte Nase, als würde sie sie gegen eine Glasscheibe drücken, und er hatte einmal gehört, wie sie sich selbst als zynisch bezeichnete. Sie wickelte ihr Bein um seins. »Du schläfst jetzt nicht ein, oder?« Sie erforschte ihn mit einer Hand. »Hmm. Ein bisschen Leben steckt noch drin. Dauert aber noch ein paar Minuten.«
»Wir könnten uns ja zwischendurch etwas unterhalten.«
»Bist du dir sicher, dass du keine Frau bist? Nein, Moment. Du bist zu schnell gekommen, um eine Frau zu sein.«
»Das bleibt bitte unter uns, ja?«
»Kommt darauf an, wie du dich in Runde zwei schlägst. Das Schwarze Brett im Dorf ist nicht nur zur Zierde da.« Sie bewegte ihr Bein. »Celia Morden hat dort einmal eine Rezension von Jez Bradley angepinnt. Sie hat behauptet, sie wäre es nicht gewesen, aber alle wussten, dass sie es war.« Sie lachte. »So was gibt es bei dir in der Großstadt nicht, oder?«
»Nein, aber wir haben diese Sache namens Internet. Da sollen sich ähnliche Dinge abspielen, habe ich gehört.« Das brachte ihm einen Biss in den Arm ein. Sie hatte Zähne. Er fragte: »Bist du hier geboren?«
»Oh, wird es jetzt persönlich?«
»Na ja, es sei denn, es ist ein Geheimnis.«
Sie biss ihn erneut, diesmal ein wenig sanfter. »Meine Eltern sind hierhergezogen, als ich zwei Jahre alt war. Sie wollten aus London raus. Dad ist eine Weile gependelt, hat dann aber in einer Kanzlei in Burford angefangen.«
»Also nicht Ackerbau und Viehzucht.«
»Kaum. Hier in der Gegend wohnen hauptsächlich Großstadtflüchtlinge. Aber wir behandeln Fremde gut, findest du nicht auch?« Sie streichelte ihn wieder.
»Gibt’s denn hier viele?«
Sie nahm ihn fester in die Hand. »Was soll das heißen?«
»Ich habe mich nur gefragt, ob es hier im Ort … viel Fluktuation gibt.«
»Hmm.« Jetzt streichelte sie ihn wieder. »Ich hoffe, das hast du wirklich so gemeint. Aber du klingst trotzdem wie ein Immobilienmakler.«
»Hintergrundrecherche«, improvisierte er. »Für das Buch. Du weißt schon, wo es doch jetzt hier so ruhig ist, nachdem die Amerikaner abgezogen sind.«
»Die Amerikaner sind schon seit Jahren weg.«
»Trotzdem …«
»Na ja, es ist ziemlich öde. Aber neuerdings ist mehr los.« Ihre Augen funkelten. Sie waren erstaunlich grün, fand River. Er hoffte, dass ihr plötzlich etwas einfiele, woran sie bisher nicht gedacht hatte: ein Glatzkopf, der vor ein paar Wochen hier aufgetaucht war; ein Name, eine Adresse … Drei Wochen, und er hatte noch keinerlei Hinweis auf Mr B gefunden. River gehörte mittlerweile zum akzeptierten Stammpublikum im Downside Man,
und die Einheimischen begrüßten ihn mit Namen; er wusste, wer wo wohnte und welche Häuser leerstanden. Aber von Mr B hatte er weder Haut noch Haar erspäht, eine blöde Formulierung angesichts seines blanken Schädels, aber es fiel ihm schwer, sich auf seine Gedanken zu konzentrieren, während Kelly ihn streichelte, dann mit den Lippen weitermachte und »schon
besser« hauchte, und dann dachte River an gar nichts mehr, und anstatt ein Agent im Einsatz war er mit einer netten jungen Frau undercover, die eine bessere Performance verdient hatte als eben.
Die er glücklicherweise diesmal bieten konnte.
Es war der Tag vor dem Gipfel, und Arkadi Paschkin war eingetroffen. Er wohnte im Ambassador an der Park Lane. Der Verkehr draußen war ein wütendes Chaos, ein mit anderen Mitteln ausgetragener Faustkampf. In der Lobby jedoch hörte man nur das Rieseln von Wasser aus einem kleinen Brunnen und ein höfliches Murmeln an der Rezeption, deren Angestellte aussahen wie von den Hochglanzseiten der Vogue
. Reichtum hatte Louisa Guy einst fasziniert, wie es fliegende Vögel taten: So ein Versuch, etwas zu erfassen, was auf ewig außerhalb der eigenen Reichweite lag, konnte schwindelerregend sein. Doch drei Wochen nach Mins Tod beobachtete sie das Leben der Reichen nur noch unter einzelnen Sicherheitsaspekten. Draußen abgefeuerte Schüsse würden in der Lobby klingen wie das Knallen von Champagnerkorken. Jemand, der von einem Auto niedergemäht wurde, konnte nicht mit Unterstützung rechnen; die gereinigte Luft würde ihn nicht tolerieren.
Hinter ihr sagte Marcus Longridge: »Cool.«
Marcus und Louisa waren jetzt ein Team. Es gefiel ihr nicht, aber es war Teil eines Deals, den sie kürzlich abgeschlossen hatte. Dieser Deal war nach außen hin einer mit dem Service, genauer: mit Spider Webb, aber in Wirklichkeit war es einer, den sie mit der Realität abgeschlossen hatte. Das Schwierige war, sich nicht anmerken zu lassen, wie viel
sie bereit gewesen war zu geben. Was sie gewollt hatte, war, ihre Arbeit zu behalten, insbesondere die Aufgabe, die ihr und Min übertragen worden war. Was sie bereit gewesen war zu geben? Alles.
Paschkin bewohnte das Penthouse. Wie hätte es auch anders sein können? Der Aufzug war leiser als Marcus’ Atemzüge, und seine Türen öffneten sich direkt in die Suite, wo Piotr und Kyril warteten. Letzterer lächelte, schüttelte Marcus die Hand und sagte zu Louisa: »Schön, Sie wiederzusehen. Wir haben von Ihrem Kollegen gehört. Herzliches Beileid.«
Sie nickte.
Kyril blieb beim Aufzug, während Piotr sie durch den großen, in gedeckten Tönen gestalteten Raum führte, der dick mit Teppichen ausgelegt war und nach Frühlingsblumen duftete. Louisa fragte sich, ob der Geruch durch die Lüftungsschlitze gepumpt wurde. Paschkin erhob sich zur Begrüßung von einem Sessel. »Willkommen«, sagte er. »Sie sind also die Herrschaften vom Energieministerium.«
»Louisa Guy«, sagte Louisa.
»Marcus Longridge«, fügte Marcus hinzu.
Paschkin war Mitte fünfzig und ähnelte einem britischen Schauspieler, auf dessen Namen Louisa in dem Moment nicht kam. Er war durchschnittlich groß, aber breitschultrig, hatte dichtes schwarzes Haar mit absichtlich nonchalantem Schnitt und einen Schlafzimmerblick unter dicken Augenbrauen. Auch sein Brusthaar war üppig, wie man unter einem weißen Hemd mit offenem Kragen erkennen konnte, das er in dunkelblaue Jeans gesteckt trug. »Kaffee? Tee?« Er wandte sich mit hochgezogener Augenbraue an Piotr, der im Hintergrund wartete. Wenn sie nicht gewusst hätte,
dass er ein Bodyguard war, hätte Louisa ihn für einen Butler gehalten oder jedenfalls für das russische Äquivalent. Einen Diener. Einen persönlichen Assistenten.
»Nein danke, ich nicht.«
»Nein, für mich auch nichts, danke.«
Sie setzten sich in Sessel rings um einen kostbaren, antiken Teppich.
»So«, sagte Arkadi Paschkin. »Alles ist bereit für morgen, ja?«
Er sprach sie beide an, richtete sich aber an Louisa, das war offensichtlich.
Und in Ordnung für sie.
Denn in dieser entsetzlichen, entsetzlichen Nacht, in der Min Harper gestorben war, hatte Louisa das Gefühl gehabt, durch eine Falltür zu stürzen; sie hatte diesen inneren Zusammenbruch erlitten, der eintritt, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird und man keine Ahnung hat, wie tief der Sturz sein wird. Es hätte sie danach überraschen sollen, wie schnell sie die Tatsache von Mins Tod akzeptiert hatte, als hätte sie die ganze Zeit darauf gewartet, dass das Schlimmstmögliche eintrat. Aber es konnte sie nichts mehr überraschen. Es war alles nur Information. Die Sonne ging auf, die Zeiger der Uhr rückten weiter, und sie passte sich deren vorgegebenem Muster an. Es waren Informationen. Ein neuer fester Ablauf.
Nur, dass sie seither Schmerzen im Kiefergelenk hatte und sich ihr Mund ab und zu mit Speichel füllte, mehrmals hintereinander, minutenlang. Es war, als weinte sie aus der falschen Körperöffnung. Und wenn sie im Dunkeln lag, fürchtete sie, dass ihr Körper nach dem Einschlafen vergäße
zu atmen und auch sie sterben würde. In manchen Nächten hätte sie das begrüßt. Aber in den meisten hielt sie sich stattdessen an den Deal.
Es war der Deal, der sie davon abhielt, weiter zu fallen, oder der zumindest eine Landung versprach, die das Überleben ermöglichte. Der Deal war der Ast, der aus der Klippe ragte, der offene Lastwagen, der unten am Felsen mit einer vollen Ladung aus der Kissenfabrik stand. Entstanden war er in Regent’s Park. Mins Tod war vier Tage her, und das Wetter hatte sich wie zum Trost aufgeheitert. In den oberen Stockwerken des Parks gab es Verhörsuiten, in denen eher Wasserspenderrituale als Waterboarding gepflegt wurden und wo es bequeme Sitzgelegenheiten gab und gerahmte Poster mit Motiven aus Filmklassikern an den Wänden hingen. Seit Louisa zum letzten Mal dort gewesen war, waren die Räumlichkeiten neu dekoriert worden, und selbst wenn alles andere in ihrem Leben normal gewesen wäre, hätte es seltsame Gefühle in ihr wachgerufen. Als wäre sie in die Schule zurückgekehrt und hätte festgestellt, dass die Klassenzimmer der Oberstufe in ein Aromatherapiezentrum verwandelt worden wären.
James Webb heuchelte Mitgefühl wie aus dem Lehrbuch. »Mein Beileid zu Ihrem Verlust. Wir alle haben Min als Kollegen sehr geschätzt und werden ihn vermissen.« Offenbar ein amerikanisches Lehrbuch.
»Wenn er so toll gewesen wäre, wäre er nicht in Slough House gewesen, oder?«, entgegnete Louisa.
»Na ja …«
»Oder besoffen mit dem Fahrrad durch den dichten Verkehr gefahren. Im Regen.«
»Sie sind wütend auf ihn.« Webb schürzte die Lippen. »Haben Sie mal mit jemandem darüber geredet? Das kann … hilfreich sein.«
Es hätte ihr mehr geholfen, ihm die Faust in den offenen Mund zu rammen. Aber sie hatte auf die harte Tour gelernt, was andere von Trauernden erwarten, also log sie: »Ja, das habe ich.«
»Und haben Sie sich Urlaub genommen?«
»So viel, wie ich brauchte.«
Einen Tag.
Er wandte den Blick zu den Fenstern, die einen Ausblick auf den Park jenseits der Straße boten, und da Vormittag war, herrschte draußen viel Vorschulverkehr: Frauen, Kinderwagen, Kleinkinder, die Wiesenränder erkundeten. Ein Auto hatte eine Fehlzündung, und ein Taubenschwarm flatterte auf, drehte eine Acht durch die Lüfte und landete auf dem Rasen.
»Ich möchte nicht unsensibel klingen«, fuhr Webb fort, »aber ich muss das leider fragen. Sind Sie bereit, weiter an dem Auftrag zu arbeiten?«
Er senkte dabei die Stimme. Offiziell war das ein Trauermeeting, aber sie waren allein, und Louisa hatte gewusst, dass er den Job in The Needle erwähnen würde.
»Ja«, sagte sie.
»Ich könnte nämlich auch –«
»Nein, es geht mir gut. Natürlich bin ich wütend, wütend auf ihn. Er hat eine Dummheit begangen, und die hat ihn … na ja, das Leben gekostet. Also bin ich wütend, natürlich. Arbeiten kann ich aber trotzdem. Mehr noch, ich brauche meine Arbeit.«
Sie fand, dass sie sich richtig ausgedrückt hatte – mit dem richtigen Maß an Emotionen. Wenn er sie als Zombie betrachtet hätte, wäre das genauso ungünstig gewesen, als hätte er sie für hysterisch gehalten.
»Sind Sie sicher?«
»Ja.«
Er sah erleichtert aus. »Na ja. Okay, also. Das ist gut. Das ist gut. Es wäre, äh, unangenehm, wenn man jetzt noch mal alles umkrempeln –«
»Ich möchte Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten.«
Spider Webb blinzelte und fuhr fort: »Dann halten Sie mich über die Entwicklung auf dem Laufenden.« Ein Satz aus einem anderen Lehrbuch, und zwar aus dem Kapitel darüber, wie man Untergebenen mitteilt, dass das Meeting vorüber ist.
Er brachte sie zur Tür. Draußen wartete jemand, der sie nach unten bringen, ihr den Besucherausweis abnehmen und sie zum Tor hinausbegleiten würde, aber diese Zeichen des Exils, die früher einen Bienenschwarm in ihrem Kopf freigesetzt hätten, spielten momentan keine Rolle. Sie war noch immer für den Needle-Job zuständig. Das war der Deal, und das war alles, was zählte.
Als er ihr die Tür aufhielt, sagte Webb: »Sie haben natürlich recht.«
»Wie bitte?«
»Harper hätte nicht mehr fahren sollen, nachdem er getrunken hatte. Es war ein Unfall, nichts weiter. Wir haben sehr sorgfältig ermittelt.«
»Ich weiß.«
Sie ging.
Vielleicht, dachte sie, als sie nach unten gebracht wurde, vielleicht würde sie, sobald das vorbei war und sie herausgefunden hatte, warum Min gestorben war, und die Verantwortlichen getötet hatte, zurückkehren und Spider Webb aus dem Fenster werfen, aus dem er so gern hinausschaute.
Je nach ihrer momentanen Stimmung.
Während Kelly duschte, zog River Boxershorts und ein Hemd über, wanderte durch das Schlafzimmer und sammelte Klamotten ein. Einige, so stellte sich heraus, waren noch unten. Na ja, ursprünglich war sie ja auch nur auf einen Kaffee vorbeigekommen. Im Wohnzimmer fand er ihr Shirt sowie ihre Umhängetasche, ein sperriges Ding, das seinen Inhalt über den Boden ergossen hatte. Er richtete sie auf und packte ihr Handy, ihr Portemonnaie, ein Taschenbuch und ihr Skizzenbuch wieder ein, wobei er Letzteres zunächst durchblätterte: der nahegelegene Wandrand, die Straße hinten am Ortsausgang, eine Gruppe von Leuten, die sich auf der Terrasse hinter dem Pub versammelt hatte. Gesichter konnte sie nicht so gut. Aber es war eine schöne Studie von St Johnno dabei und eine weitere vom Friedhof, auf dem jeder Grabstein als bleistiftgrauer Stumpf hervorragte, um den langes Gras wucherte, und es gab mehrere Studien des Ortes aus der Vogelperspektive – Kelly Tropper flog. Die letzte Seite war merkwürdig, weniger eine Skizze als ein Entwurf: eine stilisierte Stadtansicht, deren höchster Wolkenkratzer von einem gezackten Blitz getroffen wird. Darunter standen einige gekritzelte Wörter.
»Jonny?«
»Komme!«
Er brachte ihr das Shirt mit ins Schlafzimmer, wo sie in ein Handtuch gehüllt dastand.
»Du siehst …«
»… wunderschön aus?«
»Ich wollte nass sagen«, erwiderte er. »Aber wunderschön geht auch.«
Sie streckte ihm die Zunge heraus. »Da ist aber jemand sehr selbstzufrieden.«
Er lag auf dem Bett und genoss den Anblick, während sie sich anzog. »Ich wusste nicht, dass du zeichnest«, sagte er.
»Du hast mein Skizzenbuch angeschaut, stimmt’s?«
»Es war rausgefallen und aufgeklappt«, gab er zu.
»Ich kann keine Gesichter, das weiß ich selbst. Aber hier braucht man ein Hobby.«
»Und Fliegen ist –«
»Kein Hobby.« Ihre grünen Augen blickten jetzt ernst. »Dabei fühlt man sich so lebendig, wie es nur geht. Du solltest es mal ausprobieren.«
»Vielleicht mache ich das tatsächlich. Wann fliegst du das nächste Mal?«
»Morgen.« Sie lächelte, wurde aber sofort wieder ernst. Sie verbarg etwas vor ihm. »Aber leider kannst du morgen nicht mitkommen.« Sie küsste ihn. »Ich muss los. Wir müssen den Kühlschrank auffüllen, bevor wir aufmachen.«
»Ich komme später mal vorbei.«
»Prima.« Sie hielt inne. »Das war schön, Mr Walker.«
»Fand ich auch, Ms Tropper.«
»Aber das bedeutet nicht, dass du ohne meine Erlaubnis in meinen Sachen rumschnüffeln darfst«, fuhr sie fort und biss ihm ins Ohrläppchen.
Als er die Haustür ins Schloss fallen hörte, rief er Lamb an.
»Wenn das nicht 007 ist! Haben Sie schon was gefunden?«
»Nein, nichts als Sackgassen und verständnislose Blicke«, antwortete River. Er starrte auf seine nackten Zehen. »Wenn Mr B jemals hier war, ist er sofort weiter, ohne sich irgendwo sehen zu lassen.«
»Na so was. Also könnte es sein, dass er sich, äh, versteckt? Oder so?«
»Wenn er jemals hier gewesen ist. Vielleicht hat er sich gar nicht hier aufgehalten und ist schon weitergefahren, bevor der Taxifahrer auf ›frei‹ schalten konnte.«
»Vielleicht sind Sie aber auch einfach zu nichts zu gebrauchen. Wie groß ist dieses Kaff? Drei Hütten und ein Ententeich? Haben Sie schon im Kuhstall nachgesehen?«
»Warum sollte er den ganzen weiten Weg von London aus hierherkommen, um sich in einem Kuhstall zu verstecken? Wenn es einen gäbe. Es gibt aber keinen.« River entdeckte eine Socke, die an der Vorhangstange hing. »Er hält sich nicht hier auf. Weder als Mr B noch unter einem anderen Namen. Das garantiere ich Ihnen.«
»Haben Sie sich schon unters Volk gemischt?«
»Äh, ja, ich habe schon Fortschritte gemacht.«
»O Gott«, stöhnte Lamb. »Sie vögeln eine Einheimische.«
»Die meisten Leute hier sind entweder Rentner, Pendler oder machen Heimarbeit, aber viele Häuser stehen leer. Es heißt, die Schule würde demnächst geschlossen werden, was ja immer ein Zeichen dafür ist, dass ein Ort langsam ausstirbt …«
»Wenn ich einen rührseligen Sermon will, lese ich den Guardian
. Was ist mit dem Truppenübungsplatz?«
»Na ja, es wird nicht gern gesehen, wenn man da herumspaziert, aber die testen doch keine Geheimwaffen, oder? Die robben im Dreck und schießen mit Platzpatronen.«
»Aber früher waren die Amis da. Wer weiß, was für Spielzeug sie in ihren Schränken versteckt hatten?«
»Keine Ahnung, aber davon wird jetzt wohl kaum noch etwas übrig sein.«
»Aber falls es Beweise dafür gibt, dass irgendwas nicht koscher war, könnte es trotzdem unangenehm für Sie werden«, erwiderte Lamb.
Als wärst du ein Experte auf diesem Gebiet, dachte River. »Stimmt.« Er holte seine Socke von der Gardinenstange. »Deshalb habe ich angerufen. Ich gehe heute Abend mal nachsehen.«
»Wurde auch Zeit.« Lamb hielt inne. »Sind Sie angezogen? Sie klingen nicht angezogen.«
»Ich bin angezogen«, sagte River. »Wie geht’s Louisa?«
»Sie geht arbeiten. Wie immer.«
»Okay. Schon klar. Ich meinte, wie es ihr geht?«
Lamb sagte: »Ihr Freund wurde von einem Auto umgenietet. Ich gehe davon aus, dass sie morgens nicht mit einem fröhlichen Liedchen auf den Lippen erwacht.«
»Haben Sie in dem Unfall ermittelt?«
»Haben wir die Plätze getauscht, als ich mal kurz nicht aufgepasst habe?«
»War nur eine simple Frage.«
»Besoffener Radfahrer im Stadtverkehr. Was klingt daran nicht nach Organspender?«
»Sie können mich mal, Jackson«, sagte River tapfer. »Harper war einer von Ihren Leuten. Wenn er vom Blitz getroffen worden wäre, würden Sie das Wetter verhören. Ich will nur wissen, was dabei herausgekommen ist.«
Schweigen trat ein, und River hörte ein Feuerzeug klicken. Dann sagte Lamb: »Harper war betrunken. Er hat nach der Arbeit im Pub gegenüber ein paar Bier getrunken. Später hat er irgendwo ordentlich Wodka getankt. Er und Louisa hatten sich gestritten.«
River kniff die Augen zusammen. Alles klar. Es hat Streit gegeben, man betrinkt sich. Typische Reaktion. »Wo hat er den Wodka getrunken?«
»Wissen wir nicht. Raten Sie mal, wie viele Bars und Kneipen es westlich der City Road gibt.«
»Taucht er auf –«
»Komisch, warum haben wir daran nicht gedacht?« Lamb inhalierte beim Sprechen. »Die Kameras an der Oxford Street haben ihn im Vorbeifahren erwischt, zumindest glauben wir, dass er das war. Aber es sind Schwarzweißaufnahmen, und alle Radfahrer sehen mehr oder weniger gleich aus. Vom Tatort haben wir keine Bilder. Die Kamera funktionierte nicht, weil ein Auto gegen den Mast gefahren war.«
»Was für ein Zufall.«
»Ja. Allerdings einer der Zufälle, wie sie an einem Verkehrsknoten- und Unfallschwerpunkt ständig passieren. Für die Dogs ist das nichts Verdächtiges.«
»Aha.« River konnte nicht feststellen, wie er das meinte. Die Dogs waren die Dogs. »Na gut, das war’s dann. Ich rufe später noch einmal an.«
»Tun Sie das. Und, Cartwright? Wenn Sie das nächste Mal
zu mir sagen, ich könnte Sie mal, dann sehen Sie zu, dass Sie irgendwo weit weg sind.«
»Ich bin weit weg«, entgegnete River.
»Entschuldigung angenommen.«
River legte das Handy beiseite und ging duschen.
»So«, sagte Paschkin und wandte sich an sie beide, sprach aber mit Louisa. »Alles bereit für morgen, ja?«
»Wir haben alles unter Kontrolle.«
»Und ich will Ihnen ja nicht auf die Füße treten, aber Sie sind doch nicht vom Energieministerium.«
Longridge öffnete den Mund, aber Louisa versetzte ihm einen Klaps. »Das stimmt.«
»MI
5, richtig?«
»Eine Zweigstelle.«
Marcus sagte: »Die Details sind nicht wichtig.«
Paschkin nickte. »Natürlich nicht. Ich will Ihnen ja auch keine Unannehmlichkeiten bereiten. Ich bin nur gerade dabei, den … Rahmen abzustecken. Meine Männer sind für meinen Schutz verantwortlich …«
Kyril hatte er an der Tür, Piotr in seiner Nähe platziert. Die beiden waren wie ausgewechselt, nicht mehr so direkt, fast fröhlich wie vor drei Wochen, am Tag, als Min …
»Und Sie, nehme ich an, haben den Auftrag, dafür zu sorgen, dass alle anderen Arrangements reibungslos verlaufen.«
»Das werden sie«, versprach Marcus.
»Es freut mich, das zu hören. Ob Sie vom Energieministerium sind oder nicht: Sind Sie sich darüber im Klaren, dass Ihre Regierung daran interessiert ist, eine für beide Seiten vorteilhafte Vereinbarung hinsichtlich des
Brennstoffbedarfs zu treffen, die mein Unternehmen erfüllen kann?« Sein Gesicht nahm einen bescheidenen Ausdruck an. »Natürlich nicht genug, um Ihr ganzes Land zu versorgen. Aber um Reserven anzulegen. Falls anderweitig Engpässe auftreten sollten.«
Er sprach fließend Englisch, mit einem mäßig starken Akzent, von dem Louisa annahm, dass er ihn kultivierte. Ein tiefes, sexy Grollen schadete nie, wenn man Verhandlungen führte, egal, zu welchem Thema.
»Angesichts der unbestreitbar sensiblen Situation liegt es in unser aller Interesse, dass das Treffen reibungslos verläuft. Und in diesem Zusammenhang habe ich eine Bitte.«
Louisa beobachtete, wie sein Mund die Worte formte, und hatte den Eindruck, dass sie kleine Aufziehpuppen waren, die er aufzog und absetzte, um sie über den Riesenteppich wackeln zu lassen. »Ja?«, sagte sie.
»Ich würde gerne hinfahren. Heute Nachmittag.«
»Wohin möchten Sie?«
»Zur Nadel«, sagte er. »So heißt doch das Gebäude, oder?«
»Ja, richtig, die Nadel – the Needle.«
»Wegen des Masts an der Spitze«, ergänzte Marcus.
Paschkin sah ihn höflich an, aber Marcus hatte nichts hinzuzufügen. Er richtete seinen Blick wieder auf Louisa. »Ich möchte mir den Raum ansehen. Mich darin bewegen.« Er tippte sich mit dem rechten Zeigefinger gegen den obersten Hemdknopf. »Bevor wir zum Geschäft übergehen. Ich möchte mich dort wohlfühlen.«
Louisa sagte: »Geben Sie mir fünf Minuten. Ich muss kurz telefonieren.«
Nachdem er mit River gesprochen hatte, saß Lamb eine Weile mit einer Miene da, die Catherine Standish seinen gefährlichen Gesichtsausdruck nannte. So sah er aus, wenn er über etwas anderes nachdachte als das, was er als Nächstes essen oder trinken sollte. Irgendwann schaute er auf die Uhr, seufzte, erhob sich mit einem tiefen Grunzen und nahm ein Hemd vom Boden. Er zerknüllte es in der Faust und ging hinüber in Catherines Büro.
»Hast du eine Tüte für mich?«
Blinzelnd schaute sie von ihrem Schreibtisch auf.
Lamb wedelte mit dem Hemd. »Hallo, jemand zu Hause?«
»Da drin«, sagte sie und deutete auf eine Segeltuchtasche, die an ihrem Kleiderständer hing.
Lamb fuhr mit einer Hand hinein und zog ein halbes Dutzend Plastiktüten raus. In eine stopfte er sein Hemd, die anderen fielen auf den Boden. Dann wandte er sich zum Gehen.
»Heute früher Feierabend?«, fragte sie.
Lamb hob die Tüte über den Kopf, ohne sich umzudrehen. »Waschtag«, sagte er und verschwand die Treppe hinunter.
Sie starrte ihm eine Weile hinterher, schüttelte dann den Kopf und arbeitete weiter.
Vor ihr lagen Lebensfragmente, Biographieschnipsel, die aus Online-Quellen und offiziellen Aufzeichnungen stammten: HMRC
, DMLV
, ONS
, das Übliche. Es war, als würde man Buchstabensuppe mit einer Gabel essen.
Raymond Hadley, zweiundsechzig, war achtzehn Jahre lang British-Airways-Pilot gewesen. Jetzt beschäftigte er
sich mit Lokalpolitik und Umweltfragen, wobei ihn sein Engagement nicht daran hinderte, ein kleines Flugzeug zu besitzen.
Duncan Tropper, dreiundsechzig, Anwalt. Früher war er Partner in einer hochkarätigen Kanzlei im West End gewesen, heute arbeitete er ein paar Tage pro Woche bei einer Firma in Burford.
Anne Salmon, sechzig, war Dozentin für Wirtschaftswissenschaften an der University of Warwick.
Stephen Butterfield, siebenundsechzig, war alleiniger Eigentümer von Lighthouse Publishing gewesen, einem kleinen Verlag, der sich auf linksgerichtete Publikationen spezialisiert hatte, bis ein Großkonzern ihn geschluckt und einen dampfenden Haufen Geld an seiner Stelle hinterlassen hatte.
Seine Frau Meg, neunundfünfzig, war Mitbesitzerin einer Boutique.
Andrew Barnett, sechsundsechzig, war Beamter (im Ruhestand); er hatte irgendetwas im Verkehrsministerium gemacht, was – zum ersten Mal in Catherines Laufbahn – tatsächlich nichts anderes bedeutete, als dass er irgendetwas im Verkehrsministerium gemacht hatte.
Und so weiter und so fort. Ein Finanzdienstleister, zwei Fernsehproduzenten (einer BBC
, einer freiberuflich), ein Chemiker, der bei Porton Down gearbeitet hatte, Grafiker, Lehrerinnen, Ärzte, ein Journalist, Wirtschaftsflüchtlinge (Bau, Tabak, Werbung, Erfrischungsgetränke): insgesamt eine ganze Menge erfolgreicher Fachleute, denen es gelungen war, anspruchsvolle Berufe mit einem ruhigen Leben im Cotswold-Dorf Upshott zu verbinden. Wie Catherine
annahm, die Art von ruhigem Leben, für die man einen anspruchsvollen Beruf brauchte, um es zu finanzieren. Viele waren in den Vorruhestand gegangen. Die meisten hatten Kinder. Alle fuhren Autos.
Und, so rief sich Catherine ins Gedächtnis, nichts davon ging sie etwas an, geschweige denn, dass die Recherchen zu ihrem Job gehörten, wobei es in ihrem Job von größter Wichtigkeit war, sich in nichts einzumischen, was einen nichts anging. Aber sie vermisste River Cartwright irgendwie. Und hoffte, dass er wohlbehalten zurückkehren würde und nicht tot.
Die Cotswolds, Standish. Nicht das verdammte Afghanistan.
Da hatte Lamb natürlich recht, aber andererseits wachte er über River mit Argusaugen wie über ein – na ja – Opferlamm, voller Neugier, was als Nächstes passieren würde. Und da dem Einsatz ein Mord vorausgegangen war, war nicht garantiert, dass sich Rivers ländliches Exil als durchweg idyllisch erweisen würde.
Catherine sah sich Stephen Butterfields Kurzprofil noch einmal an. Ein linksgerichteter Verlag. Zu offensichtlich? Oder in genau dem richtigen Maß?
Ohne weitere Hintergrundinformationen war das unmöglich festzustellen, und obwohl Upshott nur wenige Einwohner zählte, war es ein ehrgeiziges Unterfangen, jeden Bewohner einzeln zu überprüfen. Doch Catherine war überzeugt: Wenn sich alle derzeitigen Einwohner vor ihr aufreihen würden, wäre Mr B nicht unter ihnen. Denn wenn Lamb recht hatte und der bedauernswerte Dickie Bow bei einer Schleppjagd getötet worden war, dann war die Rolle
von Mr B zu Ende gewesen, nachdem er seine Spur gelegt hatte. Die Frage war: Warum führte diese Spur nach Upshott?
Der Hinweis war dieses Wort, Cicadas
. Teil der Popow-Legende, die den MI
5 verwirren und dazu bringen sollte, nach einem Netzwerk zu suchen, das es nicht gab. Aber im Spiegelsaal der Schnüffler musste das nicht bedeuten, dass es nicht doch existieren konnte … Der Kalte Krieg war Geschichte, aber seine Granatsplitter waren noch überall. Vielleicht beherbergte Upshott nach all den Jahren eine Zikade, die sich zum Singen bereitmachte.
Obwohl es andererseits das größte Rätsel überhaupt war, warum man ihre Aufmerksamkeit darauf gelenkt hatte, dachte sich Catherine.
Plötzlich gereizt, ließ sie ihren Stift fallen und stand auf. Es gab immer irgendwelche Ausweichtätigkeiten; winzige sinnlose Dinge, die sie von den größeren, ebenso sinnlosen Aufgaben ablenkten, die Lamb ihr auferlegte. Ein Schmierstreifen an ihrem Fenster, zum Beispiel. Als sie versuchte, ihn wegzuputzen, stellte sie fest, dass er auf der Außenseite war, aber während sie dort am Fenster stand, sah Catherine eine Rauchsäule weiter hinten über den Dächern aufsteigen. Kalte Finger griffen nach ihrem Herz, aber bevor sie es umklammern konnten, erinnerte sie sich daran, dass dort hinten ein Krematorium lag und dass der Rauch, der aus seinem Schornstein quoll, eine private Tragödie und keine öffentliche Katastrophe signalisierte. Und dennoch. Man konnte keinen Rauch über der Skyline der Stadt aufsteigen sehen ohne einen Angstschauer, dass es oder etwas Ähnliches wieder passiert war. Es war so zum Reflex geworden, dass es
undefiniert bleiben konnte.
Sie schrie vor Schreck laut auf, als jemand sie ansprach.
»Oh, tut mir leid, ich wollte dich nicht –«
»Schon gut. Ich war mit den Gedanken woanders, sonst nichts.«
»Ach so. Tut mir trotzdem leid«, wiederholte Shirley Dander. Dann sagte sie: »Du solltest dir das hier vielleicht mal ansehen.«
»Du hast ihn gefunden?«
»Ja«, sagte Shirley.
Webb sagte: »Natürlich. Führen Sie ihn herum.«
»Hat er jetzt das Sagen?«
»Er ist ein reicher Mann. So einer übernimmt gern das Kommando.«
Webb kannte die Schwächen der reichen Männer nur allzu gut. Schließlich drückte er sich gewohnheitsmäßig in den Korridoren der Macht herum.
Louisa sagte: »Okay. Ich wollte nur mal nachfragen.«
»Natürlich. Ist in Ordnung. Das war richtig von Ihnen.« Dann legte er auf.
Kurz verschwamm ihre Sicht, dann klärte sie sich wieder. Spider Webb hatte ihr gerade den Kopf getätschelt. Aber auch das war Teil des Deals: stillzuhalten, egal, welche Scheiße über sie hereinbrach. Hauptsache, sie konnte weiterarbeiten.
Durch die Glastüren der Lobby beobachtete sie drei vorbeifahrende Busse; der dritte war einer der offenen Doppeldecker, von dem aus die Touristen begeistert Ausschau hielten und die Gebäude, den Park und den übrigen Verkehr bewunderten. Es bestand immer die Versuchung,
sich vorzustellen, dass die Touristen kein anderes Leben hatten als das, bei dem man sie beobachten konnte; dass sie ständig vor Sehenswürdigkeiten ah! und oh! machten und unangemessene Kleidung trugen. Min hatte das mal gesagt, und sie würde sich jedes Mal daran erinnern, wenn sie einen Stadtrundfahrtbus sah.
Sie wandte sich an Marcus. »Es ist kein Problem.«
Marcus rief oben an. »Wir treffen uns draußen.« Er beendete das Gespräch. »Sie kommen jetzt.«
Das Warten auf dem Bürgersteig lehrte sie etwas über die Zeitmessung eines reichen Mannes: Jetzt
bedeutete, wenn Paschkin so weit war. Louisa versenkte sich in Meditation und zählte schwarze Autos: sieben, acht, neun. Einundzwanzig.
Marcus sagte: »Ölgeschäfte. Na sicher.«
»Was?«
»Das glaubst du doch nicht im Ernst.«
Autos fuhren ungezählt vorbei.
»Er verhandelt mit der britischen Regierung über ein Energieabkommen? Auf eigene Faust?«
»Er besitzt eine Ölgesellschaft.«
»Und Securicor besitzt gepanzerte Fahrzeuge, aber die defilieren nicht am Remembrance Day am Buckingham Palace vorbei.«
»Was willst du mir damit sagen?«
»Dass es einen großen Unterschied zwischen Privatbesitz und nationalen Interessen gibt. Glaubst du, dass der Kreml einem Privatunternehmer derart freie Hand lässt? Träum weiter.«
Louisa hatte Marcus Longridge nicht als Partner gewollt,
aber auch das war Teil des Deals. Allerdings hatte sie gehofft, dass er nicht so viel Aufhebens machen, sondern den Mund halten und Handlangerdienste verrichten würde. Er sollte sich nicht dazu bemüßigt fühlen, Spekulationen anzustellen, und das auch noch laut.
»Hast du sein Profil gelesen? Das ist keiner von den Typen, die eine Fußballmannschaft kaufen oder einen Popstar heiraten. Der hat ein Auge auf das Präsidentenamt geworfen.«
Wenn sie weiterhin nicht antwortete, würde es nach Absicht aussehen. Sie sagte: »Aber warum will er sich dann mit Spider Webb treffen?«
»Umgekehrt. Warum sollte Webb sich nicht mit ihm treffen wollen? Ein Typ mit Aussichten auf den Kreml – ich wette, Spider geht einer ab bei der Aussicht, an einem Tisch mit ihm zu sitzen.«
Jetzt konnte sich Louisa nicht mehr zurückhalten. »Du meinst, Webb will ihn rekrutieren?«
»Ist nur so eine Vermutung.«
»Denn das wäre ja der erste Schritt zum höchsten politischen Amt, oder? Sich an den Geheimdienst eines anderen Landes zu verkaufen.«
»Es geht nicht um Staatsgeheimnisse«, erwiderte Marcus. »Als Agent Einfluss zu nehmen, das wäre seine Rolle. Und für ihn würde die Unterstützung des Westens rausspringen, wenn ihm sein Plan gelingt.«
»Genau. Ein Porträt im Telegraph
ist nur der Anfang. Warte, bis Webb sein Foto im nächstbesten Klatschmagazin sieht.«
»Wir leben im 21. Jahrhundert, Louisa. Wenn du auf der
Weltbühne mitspielen willst, musst du ernst genommen werden.« Er kratzte sich mit dem kleinen Finger an der Nasenspitze. »Webb kann Paschkin mit Leuten zusammenbringen. Dem Premierminister. Einem von den Royals. Peter Judd. Glaub mir, damit würde er bei Paschkin punkten. Er braucht jede internationale Rückendeckung, die er kriegen kann, wenn er zu Hause Furore machen will.«
»Tja, Marcus, wir leben im 21. Jahrhundert«, stimmte Louisa zu. »Aber teilweise auch immer noch im Mittelalter. Wenn Paschkin meint, sich auf Kosten von Putin dem Großen aufplustern zu können, wird demnächst sein Kopf auf einer Stange aufgespießt werden.«
»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.«
Die Aufzugstüren öffneten sich, und Paschkin erschien. Piotr und Kyril folgten ihm wie Wolfshunde.
»Schluss jetzt«, sagte sie, und Marcus hielt die Klappe.
Das Büro im ersten Stock war lauter als das von Catherine. Der Verkehr machte sich stärker bemerkbar; sie konnten Gesichter in den Bussen erkennen, die manchmal minutenlang in einer ununterbrochenen Reihe vorbeizogen, wonach für eine halbe Stunde erst mal gar keiner mehr kam. Aber diese Gesichter studierten die beiden Frauen jetzt nicht.
»Ja, das ist er, tatsächlich.«
Er war es. Catherine war sich ganz sicher.
Auf Shirleys geteiltem Monitor sah man zwei verschiedene Standbilder. Eines stammte von dem Videoüberwachungsmaterial, das sie von DataLok gestohlen hatte: Mr B im Zug nach Westen, mit seltsam starrer Haltung, die sogar ein Foto erlaubte. Hinter ihm sah man eine junge
Frau mitten in der Bewegung; ein unvollständiger Gedanke zeichnete sich auf ihren Gesichtszügen ab. Mr B jedoch saß geduldig und konzentriert da wie eine Schaufensterpuppe auf einem Tagesausflug.
Das andere Bild zeigte dieselbe Kleidung, denselben Gesichtsausdruck, dieselbe Glatze. Erneut bildete Mr B das Zentrum seiner Umgebung, wobei diese Umgebung verschwommener und aktiver war. Er stand in einer Schlange, während die Menschen um ihn herum in reglosem Treiben gefangen waren und Gepäck über glänzende Böden schleppten.
»Gatwick«, stellte Shirley fest.
»Wie überaus unauffällig«, murmelte Catherine.
Aber es bestätigte Lambs Hypothese. Wer eine Spur gelegt hatte, wollte, dass sie bis zum Ende verfolgt wurde. Mr B oder wer auch immer ihm seine Befehle erteilt hatte, hatte gewollt, dass seine Abreise registriert wurde, und wäre zweifellos überrascht gewesen, dass es so lange gedauert hatte. Aber derjenige konnte auch nicht wissen, dass Slough House die Feldforschung betreiben würde. Regent’s Park besaß in allen nationalen Flughäfen Zugang zu den Überwachungsdaten und konnte sie mit modernster Erkennungssoftware auswerten. An der Aldersgate Street musste Shirley Dander gestohlenes Videomaterial von einem veralteten Programm analysieren lassen.
»Ein Morgenflug«, sagte Shirley. »Nach Prag.«
»Wann?«
»Sieben Stunden nachdem er in Upshott abgesetzt worden war. Warum ist er den ganzen Weg dort rausgefahren, wenn er am nächsten Morgen in Gatwick abfliegen wollte?«
»Gute Frage«, sagte Catherine anstatt einer Antwort.
»Okay, wir wissen, wo er hingeflogen ist. Und jetzt lass uns rausfinden, wer er ist.«
Das war richtig von Ihnen.
Webb legte sein Handy ordentlich auf den Schreibtisch: Er mochte es akkurat. Dann strich er sein Haar glatt. Das galt auch für seine Frisur.
Das war richtig von Ihnen,
hatte er zu Louisa Guy gesagt und es ernst gemeint. Alles, was vor morgen geschah, musste er vorher erfahren und abnicken. Wenn er ein Talent besaß – na ja, eigentlich besaß er zahlreiche –, also wenn es eines war, dann die Fähigkeit, Katastrophen abzuwenden.
In jener üblen, üblen Nacht zum Beispiel, als Min Harper gestorben war, erhielt Spider Webb die Nachricht schon früh. Also war er vor Jackson Lamb am Tatort gewesen.
Schließlich war ein gutes Timing essentiell bei der Katastrophenvermeidung. Er ging zum Embankment, setzte sich gegenüber den dunklen Galerien am anderen Ufer und dachte so schnell wie möglich so angestrengt wie möglich nach. Eine Strategie war zu neun Zehnteln Reaktion. Grübelte man zu lange über eine Situation nach, konnte das lähmend wirken.
Er hatte Diana Taverner angerufen. »Wir haben ein Problem.«
»Harper«, sagte sie.
»Sie wissen es schon.«
Sie unterdrückte einen Seufzer. »Webb? Ich bin Vizepräsidentin. Sie sind bestenfalls ein Laufbursche. Natürlich wusste ich vor Ihnen, dass Min Harper getötet wurde.«
»Getötet wurde
?«
»Überfahren wurde. Ein Verb.«
»Ich habe die Lage gepeilt.«
»Ausgezeichnet. Wenn sich sein Zustand ändert …«
»Ich meine …«
»… lassen Sie es mich wissen, dann können wir dem Ganzen eine positive Wendung verleihen. ›MI
5-Agent erwacht wieder zum Leben.‹ Das würde die Bewerberzahlen erhöhen, meinen Sie nicht?«
Als er sich sicher war, dass sie ausgeredet hatte, sagte Webb: »Ich meinte, ich habe mit Nick Duffy gesprochen. Er war als Erster vor Ort.«
»Das ist sein Job.«
»Und er meint, die Sache sei sauber. Es wäre genau das, wonach es aussieht. Ein Unfall.«
Schweigen. Dann: »Wie hat er sich genau ausgedrückt?«
Genau genommen, hatte Duffy gesagt: Wir können nichts dazu sagen, bis wir den Vorfall nicht von allen Seiten beleuchtet haben. Aber Harper riecht wie eine Kneipe, und es war keine Fahrerflucht. Die Unfallverursacherin hat vor Ort gewartet
.
Webb sagte: »Im Großen und Ganzen so, wie ich es gesagt habe.«
»Das wird also in seinem Bericht stehen.«
»Ja, aber es ist das Timing, das mir Sorgen macht. Wegen der Sache mit The Needle, die so kurz bevorsteht …«
»Das gibt’s doch nicht!«, erwiderte Di Taverner. »Er war ein Kollege, Webb. Sie haben mit ihm zusammengearbeitet! Oder haben Sie das schon vergessen?«
»Na ja, so gut kannten wir uns auch wieder nicht.«
»Und bevor Sie sich Gedanken darüber machen, welche
Auswirkungen sein Tod auf Ihre Karriereaussichten haben könnte, sollten Sie sich erst überlegen, welche Auswirkungen er auf meine haben könnte!«
»Habe ich schon getan. Ich denke an uns beide. Sobald Duffys Bericht es als Verkehrsunfall einstuft, können wir natürlich um Harper trauern, und wir können an unseren derzeitigen Aufgaben weiterarbeiten. Aber wenn die Umstände seines Todes genauer untersucht werden, wird man auch die Tage vorher unter die Lupe nehmen. Und wenn Roger Barrowby Wind davon bekommt, dass wir Harper unberechtigterweise eingesetzt haben, während die Überprüfung in vollem Gange war –«
»Was heißt ›wir‹?«
Webb sagte: »Ich habe unser Gespräch natürlich protokolliert. Das war meine Pflicht. Wenn alles gutgeht und wir Arkadi Paschkin auf der Habenseite verzeichnen können, unserer Habenseite, wird jeder zwischen Regent’s Park und Whitehall ein Stück vom Kuchen abhaben wollen. Besonders – tja, Sie wissen schon.«
Ingrid Tearney, sagte sein Schweigen beredt.
»Am besten stellen wir von Anfang an klar, wer die ganze Arbeit erledigt hat.«
Er konnte Diana Taverner förmlich denken hören.
Mit dem Handy am Ohr blickte Webb auf. Es waren keine Sterne zu sehen, aber die ließen sich in London ohnehin nur selten beobachten: das Wetter, die Lichtverschmutzung, die ganze schwere Artillerie, die eine Stadt gen Himmel warf, womit sie normalerweise den Sieg davontrug. Was natürlich nicht bedeutete, dass die Sterne nicht da waren.
Schließlich sagte Taverner: »Was wollen Sie?«
»Nichts. Nicht viel. Einen kurzen Anruf.«
»Bei wem?«
»Nick Duffy.«
»Sagten Sie nicht, für ihn sei alles klar?«
»Doch, schon. Wir müssen ihn nur dazu bringen, diese Version in einem Bericht festzuhalten, selbst wenn es nur ein vorläufiger ist. Um sicherzustellen, dass alle ruhig bleiben, bis die Needle-Sache erledigt und unter Dach und Fach ist.«
Erneutes Schweigen.
»Und wir den Geheimdienstcoup des –«
»Nicht so hastig.« Sie dachte weiter nach. »Es besteht keine Gefahr, dass Harpers Tod irgendetwas mit dieser Operation zu tun hat?«
»Es war ein Unfall.«
»Aber angenommen, es stellt sich heraus, dass es ein sehr praktischer Unfall war, der etwas mit dieser Operation zu tun hatte?«
»Das wird es nicht. Paschkin ist bisher nicht mal im Land. Und wenn irgendjemand Wind davon bekommen hätte, dass er plant, unserer Mannschaft beizutreten, dann wäre ja keineswegs Min Harper der Hauptverantwortliche gewesen. Er war nur ein kleines Rädchen.«
»Ein Slow Horse, wollten Sie sagen.«
»Er wusste ja nicht mal, worum es eigentlich geht. Er hat geglaubt, er würde Babysitter bei einem Ölabkommen spielen.«
Sie sagte: »Ihnen ist schon klar, dass Roger Barrowby Ihr geringstes Problem ist, wenn das rauskommt? Harper war vielleicht nur ein lahmer Gaul, aber vergessen wir nicht, wer für den Pferdestall verantwortlich ist.«
»Keine Sorge, keine Sorge. Ich mache einen großen Bogen um alle empfindlichen Zehen.«
Sie lachte. »Jackson Lamb reagiert so empfindlich wie ein Elefant.« Sie machte ein kleines Geräusch: wechselte das Telefon in die andere Hand oder dergleichen. »Ich werde mit Duffy reden.« Sie legte auf.
Webb dachte in dem Moment – und sah seitdem keinen Grund, seine Meinung zu ändern –, dass die Sache mit den Elefanten die war, dass sie alt wurden und starben. In einer Dokumentation hatte er einmal einen toten Elefanten neben einem Wasserloch gesehen. Innerhalb weniger Stunden kamen die Fliegen, die Vögel und die Hyänen. Danach blieben nur noch Überreste von ihm. Jackson Lamb sei zu seiner Zeit eine Legende gewesen, hieß es, aber das sagte man auch über Robert de Niro.
Das haben Sie richtig gemacht.
Louisa Guy kümmerte sich um ihre Aufgabe, und niemand im Park, außer Lady Di, ahnte etwas von der Paschkin-Operation. Ab übermorgen könnte er, James Webb, die Fäden bei der wichtigsten Anwerbung eines V-Mannes ziehen, die der MI
5 je erlebt hatte.
Er musste nur dafür sorgen, dass alles reibungslos lief.