9
Arkadi Paschkin fragte: »Warum geht es nicht weiter?«
Mitten in der Stadt, alle Straßen dicht, ein großes Schild mit dem Hinweis »Baustelle« und vor ihnen unübersehbar eine rote Ampel. Also, warum geht es nicht weiter?, dachte Louisa. Man musste schon reich sein, um eine solche Frage zu stellen.
Paschkin sagte: »Piotr?«
»Viel Verkehr, Boss.«
»Es ist immer viel Verkehr.« An Louisa gewandt, sagte er: »Wir brauchen eine Eskorte. Morgen, meine ich.«
»Ich glaube, Eskorten sind den Mitgliedern der Königsfamilie vorbehalten«, erwiderte sie. »Ministern. VIP
s.«
»Sie sollten denjenigen zur Verfügung stehen, die dafür bezahlen.« Er blickte Marcus kurz an, als ob er seinen Nettowert schätzen würde, dann kehrte sein Blick zu Louisa zurück. »Man sollte meinen, bei all der Praxis, die Sie haben, beherrschten Sie den Kapitalismus besser als wir.«
»Obwohl es kaum jemanden überraschen dürfte, wie schnell Sie dazugelernt haben.«
»Ist das ein Bonmot? Englisch ist nicht meine Muttersprache.« Ohne den Kopf zu drehen, fragte er bei Piotr und Kyril nach. Kyril antwortete, aber Louisa konnte seinen Tonfall nicht interpretieren. Möglicherweise respektvoll.
Aber vielleicht war es ähnlich wie in New York, wo die Leute einem schon mit der einfachen Frage nach der Uhrzeit einen Heidenschreck einjagen konnten.
Ihre Limousine besaß eine Abtrennung in der Mitte, wobei die Scheibe heruntergelassen war. Louisa und Marcus saßen Paschkin gegenüber, der nach vorne schaute. Unmittelbar hinter dem Wagen ragte ein roter Bus auf, vollbesetzt mit weniger reichen Menschen, die sich sehr langsam durch London bewegten und sich wahrscheinlich nicht weniger ärgerten als Paschkin, der vor Empörung den Kopf schüttelte und begann, die Financial Times
zu lesen.
Der Wagen fuhr an und rollte über ein Hindernis, das vermutlich kein Radfahrer war.
Louisa blinzelte, als der Schmerz sie in die Augäpfel stach, aber es war schnell wieder vorbei. Wenn man nach außen hin den Anschein wahrte, dass man sich unter Kontrolle hatte, dann hatte man sich auch ziemlich bald unter Kontrolle.
Paschkin gab einen spöttischen Laut von sich und blätterte eine Seite um.
Er sah aus wie ein Politiker und sprach auch wie einer; er hatte wahrscheinlich Charisma. Vielleicht hatte Marcus recht, dass Paschkin nach dem höchsten Amt strebte und dieser Minigipfel weniger mit Ölabkommen zu tun hatte als mit Versprechungen unter dem Tisch über zukünftiges Verhalten, zukünftige Gefälligkeiten. Das konnte doch eigentlich nur positiv sein, es sei denn, die Sache lief aus dem Ruder. Politische Allianzen gingen oft nach hinten los: Ein paar Hände wurden geschüttelt, ein paar Waffen verkauft, aber für die Regierung sah es nie gut aus, wenn die
folternden Dreckskerle irgendwann von ihren eigenen Leuten aufgeknüpft wurden.
Marcus regte sich neben ihr und streifte mit seinem Bein ihres. Dann sauste ein Fahrrad vorbei, und diesmal spürte Louisa statt eines Stichs in den Augen, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte, und zum hundertsten Mal spulte sich die logische Kette in ihrem Kopf ab: dass Min sich möglicherweise betrunken hatte, nach einem Streit, der so trivial war, dass Louisa sich nicht mal mehr daran erinnern konnte, worum es gegangen war. Und dass Min anschließend mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und überfahren worden war – ja, auch das war denkbar. Aber nicht eines nach dem anderen. Nicht diese beiden Dinge in Folge. Dies zu glauben, hätte bedeutet, von einer Art kosmischer Kontinuität auszugehen, einer organisierten Zufälligkeit von Ereignissen. Nein, es musste etwas dahinterstecken, ein menschliches Zutun. Und das konnte nur dieser Job sein, den sie jetzt erledigte, und damit diese Leute in diesem Auto betreffen. Oder andere, die von dem Treffen wussten und es verhindern oder es in etwas anderes verwandeln wollten.
Sie begann, im Geiste eine Liste von allen anzulegen, denen sie misstraute, und musste sofort aufhören. Sie hatte nicht den ganzen Tag Zeit.
Und dann, so plötzlich, als würde ein Zahn aus seiner Verankerung gerissen, befreite sich der Wagen aus dem Verkehrschaos und fuhr ungehindert weiter. Hoch über ihnen bohrten sich Gebäude aus Glas und Stahl in den Himmel, und auf den Bürgersteigen schlängelten sich schick angezogene Männer und Frauen meist ohne Zusammenstöße
aneinander vorbei. Min Harper war seit drei Wochen tot. Und hier saß Louisa und erledigte ihren Job.
Bis Lambs Taxi den Waschsalon in der Nähe von Swiss Cottage erreichte, wäre es billiger gewesen, das Hemd zu entsorgen und mehrere neue zu kaufen. Während das Taxi im endlosen Verkehrsstrom davonschwamm, zündete Lamb sich eine Zigarette an und betrachtete die Poster in den Fenstern des Waschsalons: eine Kneipenquiznacht, Stand-up-Comedy, die morgige Stop-the-City-Demo, ein tierfreier Zirkus. Niemand achtete auf ihn. Als er seine Zigarette fertig geraucht hatte, trat er sie aus und ging hinein.
An beiden Wänden waren Maschinen aufgereiht; die meisten von ihnen schwappten rhythmisch und machten Geräusche wie Lambs Bauch, wenn er um drei Uhr nachts aufwachte, nachdem er zu viel getrunken hatte. Ein vertrautes Geräusch. In der Mitte des Raums standen Bänke, auf denen vier Personen saßen: ein junges Paar, verschlungen wie ein ineinandergreifendes Puzzle, eine alte Frau, die sich hin- und herwiegte, und, am anderen Ende, ein kleiner, dunkelhaariger Mann mittleren Alters im Regenmantel, der in den Evening Standard
vertieft war.
Lamb setzte sich neben ihn. »Haben Sie eine Ahnung, wie diese Dinger funktionieren?«
Der Mann sah nicht auf. »Ob ich eine Ahnung habe, wie Waschmaschinen funktionieren?«
»Ich nehme an, man braucht Geld.«
»Und Waschpulver«, sagte der Mann. Jetzt blickte er auf. »Mein Gott, Lamb. Warst du noch nie in einem
Waschsalon? Das ist doch fast so altmodisch, wie eine Postkarte in der Mitte durchzureißen.«
Lamb ließ die Tüte auf den Boden fallen. »Ich war in einer höheren Undercover-Klasse«, erwiderte er. »Der mit den Casinos und Fünf-Sterne-Hotels. Edelnutten. Die Wäsche haben wir dem Zimmerservice überlassen.«
»Klar, und ich bin mit dem Jet zur Arbeit geflogen, bevor sie mich gefeuert haben.«
Lamb streckte die Hand aus, und Sam Chapman schüttelte sie.
Bad Sam Chapman war Rudelführer der Dogs gewesen, vor Nick Duffy, bis er sich auf eine spektakuläre Intrige einließ, bei der eine Wagenladung Geld im Spiel war. Daraufhin wurde ihm sein Arsch auf einem Tablett serviert: Job weg, Pension weg, keine Referenzen. Höchstens die Tatsache, dass er mit heiler Haut rausgekommen war, sprach für ihn. Er arbeitete nun für eine Detektei, die sich darauf spezialisierte, entlaufene Teenager zu finden oder zumindest Kreditkartendaten von den gequälten Eltern einzusammeln. Seit Chapmans Ankunft hatte sich ihre Erfolgsrate verdreifacht, doch blieben immer noch zu viele Kinder vermisst.
»Also, wie läuft’s denn so im Geheimdienst?«, fragte Sam.
»Tja, ich könnte deine Frage beantworten …«
»Aber anschließend müsstest du mich dann töten«, schloss Chapman.
»Vorher würdest du vor Langeweile sterben. Und, hast du was für mich?«
Bad Sam gab ihm einen Umschlag. Seiner Dicke nach zu urteilen, enthielt er vielleicht zwei zusammengefaltete Blatt Papier.
»Und das hat drei Wochen gedauert?«
»Ich habe nicht deine Ressourcen, Jackson.«
»Die Agentur hat keinen Einfluss?«
»Die Agentur hält für alles die Hand auf. Gibt es einen besonderen Grund, warum du das nicht intern regeln kannst?«
»Ja. Ich traue den Arschlöchern nicht.« Er hielt inne.
»Okay, manchen schon. Aber ich traue ihnen nicht zu, anständige Arbeit zu leisten.«
»Ach, stimmt ja. Deine Crew mit den besonderen Bedürfnissen.« Chapman schnippte mit seinem Zeigefinger gegen den Umschlag in Lambs Hand. »Ich war übrigens nicht der Erste.«
»Das hoffe ich doch. Diese Mistkuh hat einen von uns umgebracht.«
»Aber ich habe trotzdem etwas Interessantes festgestellt«, fuhr Sam fort.
Einer der Jugendlichen auf der Bank stand abrupt auf, und Sam hielt inne. Es war der Junge, oder vielleicht das Mädchen – oder vielleicht waren beide Jungen oder beide Mädchen –, aber wie auch immer, sie fütterten den nächsten Trockner unter Münzengeklapper, so dass er erneut zum Leben erwachte, und dann setzten sie sich wieder hin und wickelten sich umeinander.
Lamb wartete.
Chapman sagte: »Irgendjemand hat sie überprüft, und ich nehme an, man hat ihr daraufhin ein sauberes Gesundheitszeugnis ausgestellt.«
»Weil sie sauber ist?«
»Nein, weil die ihren Job nicht richtig gemacht haben. Auf den ersten Blick scheint sie sauber zu sein, aber wenn
man weit genug zurückgeht, sieht die Sache schon ganz anders aus.«
»Und du hast dir die Mühe gemacht.«
»Ja, habe ich. Ganz im Gegensatz zu meinem Nachfolger oder dem Lakaien, den er damit beauftragt hat.« Chapman knallte ohne Vorwarnung die Zeitung auf die Bank. Der Schlag brachte die alte Frau für einen Moment zum Innehalten; die jungen Leute reagierten gar nicht. »So ein Scheiß!«, fluchte Bad Sam. »Mich schmeißen sie raus, nur damit die Bücher stimmen. Wenn ich inkompetent gewesen wäre, hätte ich immer noch einen Job.«
»Ja, aber wahrscheinlich hätte ich dich dann an der Backe.« Lamb steckte den Umschlag in die Gesäßtasche. »Du hast was gut bei mir.«
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, fuhr Bad Sam fort. »Vielleicht haben sie sie nicht richtig auf den Grill gelegt, weil sie von vornherein wussten, was sie finden würden.«
Jackson Lamb erwiderte: »Wie gesagt, ich traue den Scheißkerlen nicht über den Weg.« Er stand auf. »Lass von dir hören!«
»Du hast dein Hemd vergessen«, rief Sam ihm hinterher.
Im Vorbeigehen sah Lamb das knutschende Paar an. »Ich werde dieses Hemd nie vergessen«, sagte er freundlich.
Im wirbelnden Blechkarussell auf der Straße brauchte er fünf Minuten, um ein Taxi zu finden.
River schlenderte den Weg zum Downside Man
hinunter und dachte über seine Aufgabe nach. Er musste die Kontaktperson finden, denn Mr B war nach Upshott gekommen, um
mit jemandem Verbindung aufzunehmen: mit seinem Chef oder seinem Agenten. Doch wer das sein konnte, war River bisher schleierhaft.
Er hatte nicht lange gebraucht, um sich im Dorf zu integrieren. Ihm hatte ein bisschen davor gegraut, und er hatte sich ein Wicker-Man-Szenario vorgestellt, bei dem ihn Einheimische mit finsteren Masken bedrohten, aber er war einfach jeden Abend im Pub aufgetaucht und hatte den Abendgottesdienst in St. Johnno besucht, und mehr war nicht nötig gewesen. Alle waren freundlich zu ihm, und noch hatte niemand versucht, ihn in Brand zu setzen.
Seine Tarnung als Schriftsteller war hilfreich. Von außen betrachtet, war Upshott weniger kultiviert als andere Cotswolds-Dörfer; es war nicht so pittoresk, es gab keine Galerien, keine Cafés, keine Buchhandlung; nirgendwo konnten sich kulturell interessierte Menschen treffen und sich austauschen. Aber dennoch bildete der Ort genauso ein Sammelbecken der Bürgerlichkeit wie seine Nachbarn: Ein Plakat für eine kürzlich veranstaltete landesweite Kunstwoche zeigte vier lokale Veranstaltungsorte an, und in einer der restaurierten Scheunen entlang der Hauptstraße befand sich eine Keramikwerkstatt mit happigen Liebhaberpreisen. Ein Autor passte hier hinein wie eine Hand in einen Handschuh.
Die meisten Einheimischen, die er bisher kennengelernt hatte, waren im Ruhestand oder arbeiteten am Computer von zu Hause aus, so dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von ihrem Wohnort bestritten. Diejenigen, die in der USAF
-Kaserne gearbeitet hatten, waren schon vor langer Zeit weitergezogen, aber eine Handvoll Landarbeiter und
einige Handwerker waren geblieben, die Werkstätten betrieben oder im Kundendienst arbeiteten – ein Schreiner, ein Elektriker, zwei Klempner –, und selbst diese kultivierten einen Hauch von hochwertiger Handwerkskunst mit dementsprechenden Rechnungen.
Die wenigsten Einwohner Upshotts waren hier geboren und aufgewachsen. Die Mittzwanziger, die man zu sehen bekam, waren die Nachkommen von Zugezogenen, genau wie Kelly; ihr Vater, ein Anwalt, praktizierte in der Nähe. Kelly hatte einen Abschluss in Politikwissenschaft, und ihr Job in der Kneipe war keine Lebensentscheidung, sondern mehr ein Wassertreten, während sie überlegte, was sie als Nächstes tun sollte. Es schien, dass ein Abschluss in Politikwissenschaft ungefähr so nützlich war, wie es sich anhörte. Aber sie schien glücklich zu sein: Sie war das Zentrum einer Gruppe von Freunden, die als Immobilienmakler oder Grafikdesigner oder Architekten bis hinaus nach Worcester arbeiteten, aber jeden Abend nach Upshott zurückkehrten und die Kneipe bevölkerten, wenn sie nicht in ihrem Clubhaus auf dem Truppenübungsplatz waren und das kleine Flugzeug von Ray Hadley flogen und warteten. Was, so dachte River, die eigentliche Nabelschnur war: Wenn sie die Freiheit des Himmels wollten, mussten sie immer wieder in den Ort zurückkehren. River, der nicht viel älter war als sie, vermutete, dass sie noch jung genug waren, um diesen Preis bereitwillig zu zahlen.
Doch all das bot keinerlei Erklärung dafür, was Mr B hierhergezogen hatte. Vielleicht hatte Lamb recht, und die ehemalige amerikanische Basis war der Kern. Ihretwegen hatte es Upshott überhaupt auf die Landkarte geschafft,
auch wenn die Basis selbst damals nicht auf den Karten erschienen war. Aus diesem Grund hatte River die Militärbasis zum Mittelpunkt seiner Tarnung gemacht, zur Kulisse für seinen angeblichen Roman. Und jetzt war sie weg, und an ihrer Stelle befand sich ein Schießübungsplatz des Verteidigungsministeriums, was die Wahrscheinlichkeit, dass dort etwas Geheimes fünfzehn Jahre lang überlebt hatte, noch geringer machte … Dennoch musste man ihn überprüfen, schon deshalb, weil River die Ideen ausgingen. Außerdem musste er ihn sich so ansehen, wie Mr B es getan hatte, falls er es denn getan hatte: nach Einbruch der Dunkelheit und nicht durch den offiziellen Eingang. Und genau das hatte River für später geplant.
Und weil er hier ein Fremder war und keine Lust hatte, in einem Graben zu landen oder verhaftet zu werden, würde er nicht allein gehen.
Wie Marcus bemerkt hatte, trug The Needle ihren Namen wegen des Mastes an der Spitze, aber auch alles andere an ihr sah scharf aus. Ihre 320 Meter schossen aus einem flachen Krater in die Höhe, der mit rotem Ziegelstein gepflastert, terrassenförmig angelegt und mit riesigen Bronzegefäßen geschmückt war. Aus den Gefäßen ragten Bäume, die noch zu mickrig waren, um Schatten zu spenden, doch die Größe der Pflanztöpfe deutete an, dass sie dereinst hoch und dicht belaubt aufragen würden. Hier und da standen Steinbänke, um die herum kleine Friedhöfe von Zigarettenstummeln platt getreten waren, und an den Fassaden von The Needle waren in regelmäßigen Abständen Scheinwerfer angebracht. Nachts wurde sie erleuchtet wie ein Rummelplatz. Bei
Tageslicht und aus diesem Blickwinkel sah sie düster, ein wenig monströs und fehl am Platze aus – als suche sie Ärger.
Von den achtzig Stockwerken gehörten die ersten zweiunddreißig zu einem Hotel, das noch nicht eröffnet hatte, sonst hätte Paschkin dort zweifellos eine Suite gebucht. Der Rest war privat vermietet und noch nicht vollständig belegt. Aber die Sicherheitsmaßnahmen waren streng und in letzter Zeit sogar noch verschärft worden, nach dem Einzug von Rumble, dem aus dem Nichts aufgetauchten Apple-Rivalen, der kurz davor stand, eine neue Version seines bahnbrechenden E-Readers auf den Markt zu bringen, sowie dem Diamantenhändler de Koenig und BiffordJenningsWhale, den Börsenmaklern in chinesischem Besitz. Hier, neben all den anderen Banken, Versicherungen, Inter-Dealer-Brokern und Risikomanagementberatern, hatten die wohlhabenden Botschaften von Steuerparadiesen ihren Sitz, angezogen von den hellen Lichtern und der großartigen Aussicht. Wie die Vereinten Nationen im Kleinformat, wenn auch ohne die erklärte Absicht, etwas Gutes zu tun, außer für sich selbst.
Bei ihrem ersten Besuch, mit Min im Schlepptau, hatte Louisa die Treppe zur darunterliegenden Etage genommen, war aber vom Flur aus nicht hineingelangt. Die Treppenhaustüren ließen sich nur nach außen öffnen, bei Feuer oder anderen Notfällen, und die Geschäftsaufzüge – separat von denen des Hotels – waren nur eingeschränkt zugänglich. Kameras überwachten jede Lobby. Was die Suite anging, die Spider Webb an Land gezogen hatte, so wusste sie nicht, wem sie gehörte. Dieser Punkt war in den Unterlagen bewusst ausgelassen worden. Doch die Besitzer, wer immer sie waren, schienen offen für Webbs
Überredungskünste zu sein, aber andererseits war er auch ein Sammler von Geheimnissen anderer Leute. Min hatte ihn lächerlich gefunden, aber Spider Webb war die Art von Witz, über den man erst lachte und sich dann schnell umblickte, ob er es gehört hatte.
Louisa schüttelte abrupt den Kopf. Nicht darüber nachdenken. Nicht an Min denken. Mach deinen Job. Sammle deine eigenen Geheimnisse.
»Gibt es ein Problem?«
»Nein. Alles in Ordnung.«
Arkadi Paschkin nickte.
Und behalte deine Gedanken für dich, fügte sie hinzu. Es gefiel ihr nicht, dass Paschkin sie ansah, als könne er in ihrem Gesicht lesen wie in einem offenen Buch.
Sie standen im Aufzug und sausten nach oben. Ihre Namen waren bei der Ankunft eingetragen worden, da aufgrund der Sicherheitsvorschriften jederzeit in einem Register festgehalten wurde, wer sich augenblicklich im Gebäude aufhielt. Für das Treffen mit Webb würden sie das Prozedere umgehen: Webb hatte eine Keycard für den Lastenaufzug organisiert, der von der Tiefgarage aus zugänglich war. Sie wollten über der Stadt, aber unter dem Radar sein. Niemand würde wissen, dass sie dort waren.
Heute jedoch waren sie durch das Atrium geführt worden, wo jetzt ein kleiner, üppiger Regenwald gedieh. Dieser, das Öko-Alibi des neuen Hotels, war in den vergangenen drei Wochen angepflanzt worden. Die Gäste würden durch das Unterholz spazieren können, wenn sie der Großstadt müde waren, und auf einen Drink und ein paar Saunagänge wieder rauskommen, wenn sie der Natur überdrüssig
wurden. Überall rings um das Grün erledigte eine sich stetig verringernde Anzahl von Menschen eine Fülle von Aufgaben, die mit der Eröffnung eines Weltklasse-Hotels verbunden waren, obwohl bis dahin noch ein Monat Zeit war.
»In China«, bemerkte Paschkin, »werden Gebäude dieser Größenordnung, sogar mit diesem ganzen ausgefallenen, diesem ausgefallenen …«
Als er nicht weiterwusste, warf er Piotr barsch ein Wort zu, und dieser antwortete: »Schnickschnack.«
»… diesem ausgefallenen Schnickschnack innerhalb eines Monats hochgezogen.«
Marcus erwiderte: »Ich nehme an, man hält sich dort nicht lange mit Gesundheits- und Sicherheitsaspekten auf.«
In der Suite marschierte Paschkin um den Tisch herum, als würde er ihn ausmessen. Er sagte mehrmals etwas auf Russisch: kurze, abgehackte Sätze, die Louisa für Fragen hielt, denn auf jeden gaben Piotr oder Kyril eine noch kürzere Antwort. In der Zwischenzeit postierte sich Marcus an der Tür, die Arme verschränkt. Er war im Außeneinsatz gewesen, erinnerte sich Louisa; bestimmt hatte er bedeutendere Jobs als diesen hier erledigt, bevor er die Nerven verloren hatte, sofern ihn das nach Slough House gebracht hatte. Im Moment schien er von der grandiosen Aussicht unbeeindruckt zu sein und beobachtete die meiste Zeit Piotr und Kyril.
Paschkin war mit den Daumen in den Jackentaschen und geschürzten Lippen stehen geblieben. Er hätte ein potentieller Mieter sein können, der nach irgendwelchen Macken suchte, um den Preis zu drücken. Er wies mit einem Nicken auf die Kameras, die über den Türen angebracht waren, und sagte: »Ich nehme an, sie sind ausgeschaltet.«
»Ja.«
»Und es gibt hier keinerlei Aufnahmegeräte irgendwelcher Art.«
»Nein.«
Als ginge er eine geistige Checkliste durch, fuhr er fort: »Was passiert im Notfall?«
»Es gibt Treppen«, antwortete Louisa. »Auf der Nord- und Südseite.« Sie deutete in die entsprechenden Richtungen. »Die Aufzüge werden stillgelegt und nehmen keine Personen auf. Die Schächte sind verstärkt und alle Türen feuerfest. Sie öffnen sich automatisch.«
Er nickte. Louisa fragte sich, mit welcher Art von Notfall er rechnete. Andererseits war es Notfällen eigen, dass man sie nicht erwartete.
Wenn man anfing, darüber nachzugrübeln, musste man aufpassen, sich nicht in entsprechende Gedankengänge zu verstricken.
Paschkin sagte: »Es sind viele Treppen bis nach unten.«
»Es könnte schlimmer sein«, entgegnete sie. »Stellen Sie sich vor, Sie müssten sie rauflaufen.«
Das brachte ihn zum Lachen; ein Bullern tief aus seinem kräftigen Körper heraus. »Ein gutes Argument. Was für ein Notfall könnte einen dazu zwingen, siebenundsiebzig Stockwerke hinaufzulaufen?«
Egal, was für einer, dachte sie, wenn er anfangs noch nicht ernst war, würde er es garantiert sein, bis man oben angekommen war.
Marcus, Louisa und die anderen beiden Russen gingen zum Fenster. Das letzte Mal, als sie hier gewesen war, war sie von der immensen Weite überwältigt gewesen, dem
Himmelsblau, das die ganze große Stadt überspannte. Es war schön, stank aber nach Reichtum, was sie an diesem Tag belastet hatte. Es machte ihr bewusst, dass sie dringend Geld und eine schönere Wohnung für sich und Min brauchte; ein größeres Stück von all dem Platz. Und Min war natürlich auch da gewesen, in Griffweite. Sie hatten nicht viel Geld und nicht genug Platz gehabt, aber sie hatten verdammt viel mehr gehabt, als sie jetzt hatte.
Ein Rettungshubschrauber schwebte in Sichtweite und flog von Ost und West. Sie beobachtete seinen lautlosen Flug; eine orangefarbene Libelle, die sich ihrer lächerlichen Gestalt nicht bewusst war.
»Vielleicht«, sagte Paschkin, »sollten wir einmal probeweise die Treppe hinuntergehen, ja? Um zu sehen, wie wir im Ernstfall zurechtkommen.«
Sie drehte sich um. Marcus war zum Tisch gegangen und lehnte sich mit aufgestützten Händen darüber. Es war, als hätte er mitten in der Bewegung innegehalten, aber sein Gesichtsausdruck war undurchdringlich.
»Ich habe eine bessere Idee«, sagte sie. »Lassen Sie uns den Aufzug nehmen.«
Hinten im Taxi öffnete Jackson Lamb den Umschlag, den Chapman ihm gegeben hatte, und tatsächlich steckten nur zwei Seiten darin. Er las sie und war daraufhin während der restlichen Fahrt so geistesabwesend, dass er fast vergessen hätte, eine Quittung zu verlangen.
Im Büro angekommen, erwartete ihn Standish mit so geröteten Wangen, als wäre sie gerade die vier Treppen hinaufgestiegen. »Mr B hat einen Namen!«, verkündete sie.
»O Gott. Du hast recherchiert.«
Er wand sich aus seinem Mantel und warf ihn beiseite. Sie fing ihn auf und legte ihn sich über den Arm. »Andrei Tschernitski«, stieß sie finster hervor. »Jedenfalls hat er bei der Ausreise am Flughafen einen Pass auf diesen Namen benutzt. Er hat eine Akte im Park.«
»Lass mich raten. Zweitklassiger Schnüffler.« Lamb fuhr sich mit einer Hand durch sein fettiges, allmählich dünner werdendes Haar und fläzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Nicht aus den oberen Rängen des KGB
, aber ein interessanter Nebendarsteller, wenn ein paar kräftige Hände gebraucht wurden.«
»Du wusstest es bereits?«
»Ich kenne die Sorte. Wann ist er ausgereist?«
»Am Morgen nach dem Mord an Dickie Bow.«
»Aha, kein ›mutmaßlich‹ mehr. Glaubst du mir jetzt allmählich, Standish?«
»Ich habe dir von Anfang an geglaubt. Ich weiß nur nicht, ob es richtig war, River alleine auf Erkundung loszuschicken.«
Lamb erwiderte: »Klar, ich hätte einen Bericht schreiben und ihn Roger Barrowby präsentieren können, der offensichtlich inzwischen der Chef da drüben ist. Er hätte ihn drei anderen zum Lesen und Begutachten gegeben und bei einem positiven Ergebnis ein Interimskomitee gebildet, um mögliche Reaktionen zu untersuchen. Anschließend …«
»Ich hab’s verstanden.«
»Das freut mich! Ich habe mich schon selbst gelangweilt. Gehe ich recht in der Annahme, dass du Ho für deine Recherchen rekrutiert hast? Oder spielt er immer noch Computerspiele während der Arbeitszeit?«
»Ich bin sicher, dass er intensiv mit dem Archiv beschäftigt ist«, erwiderte Catherine.
»Und ich bin sicher, dass er intensiv an meinem Arsch arbeitet.« Lamb hielt inne. »Das war schräg. Tu so, als hätte ich es nicht gesagt.«
»Andrei Chernitsky«, drängte Catherine. »Hast du ihn von früher gekannt?«
»Wenn das so wäre, meinst du nicht, dass ich es erwähnt hätte?«
»Nur, wenn du in der richtigen Stimmung gewesen wärst«, entgegnete sie. »Ich frage nur deswegen, weil Dickie Bow ihn offensichtlich wiedererkannt hat. Was darauf hindeutet, dass Chernitsky in Berlin gewesen ist.«
»Es hieß nicht umsonst ›Schnüffler-Zoo‹«, sagte Lamb. »Jeder Depp ist da irgendwann mal aufgetaucht.«
Er fand seine Zigaretten und steckte sich eine in den Mund. »Du hast eine Theorie, oder?«
»Ja. Ich …«
»Ich habe nicht gesagt, dass ich sie hören will.« Er zündete die Zigarette an. Der Geruch von frischem Tabak füllte den Raum und verdrängte den Geruch von altem Tabak. »Was macht eigentlich deine reguläre Arbeit? Sollten nicht Berichte auf meinem Schreibtisch liegen?«
Catherine sagte: »Nachdem Dickie Bow entführt worden war …«
»Wir haben es früher ›einsacken‹ genannt.«
»Nachdem Dickie Bow eingesackt worden war …«
»Ich habe wirklich keine andere Wahl, als mir das anzuhören, oder?«
»… hat er gesagt, seine Entführer wären zu zweit gewesen.
Einer von ihnen nannte sich Alexander Popow.« Catherine wedelte den Rauch mit der Hand weg. »Und ich glaube, der andere war Chernitsky. Popows Mann fürs Grobe. Deshalb hat Bow alles stehen- und liegengelassen, um ihm zu folgen. Das war kein verirrter Schnüffler aus alten Zeiten. Es war jemand, an den Bow sich sehr genau erinnern konnte, an dem er sich vielleicht sogar rächen wollte.«
Ungeachtet der Zigarette schien Lamb zu kauen. Vielleicht auf seiner Zunge. Er sagte: »Weißt du, was das bedeuten würde?«
»Hm-hmm.«
»Soll das heißen, du verstehst es, oder willst du mich nur dazu bringen, dass ich es dir erkläre, so dass du hinterher so tun kannst, als hättest du es die ganze Zeit gewusst?«
»Sie haben ihn eingesackt. Sie haben ihn mit Alkohol abgefüllt. Sie haben ihn gehen lassen«, zählte Catherine auf. »Das ergibt überhaupt keinen Sinn, es sei denn, sie wollten, dass er sich die beiden ansah. So dass sie ihm eines Tages einen Mantel in den Weg legen konnten und er ihnen folgen würde wie ein abgerichteter Pudel.«
»Grundgütiger.« Lamb stieß graue Luft aus. »Ich weiß nicht, was mich mehr verstört. Der Gedanke, dass jemand einen 20-Jahres-Plan hatte, oder die Tatsache, dass du ihn bereits durchschaut hast.«
»Popow hat vor zwanzig Jahren einen britischen Spion von der Straße aufgelesen, ohne konkreten Grund, außer ihn als Alarmglocke zu benutzen, wenn die Zeit reif war.«
»Popow hat nie existiert«, erinnerte sie Lamb.
»Aber derjenige, der ihn erfunden hat. Und das war alles sein Plan. Genau wie die Zikaden. Eine Schläferzelle.«
Lamb sagte: »Jeder Plan, den ein sowjetischer Agent vor zwei Jahrzehnten entwickelt hat, hat sein Verfallsdatum weit überschritten.«
»Vielleicht ist es also nicht mehr derselbe Plan. Vielleicht wurde er angepasst. Aber so oder so, er wird abgewickelt. Das heißt, du jagst nicht mehr Gespenster aus deiner Vergangenheit, sondern ein Gespenst aus deiner Vergangenheit springt auf und ab und schreit: ›Guckguck, hier bin ich!‹«
»Und warum?«
»Ich habe keine Ahnung. Aber die Sache erfordert eine kohärentere Reaktion, als nur River Cartwright von der Leine zu lassen. Chernitsky ist aus einem bestimmten Grund nach Upshott gefahren, und der einzig logische Grund wäre, dass sich dort der Drahtzieher dieses Netzwerks befindet. Und wer auch immer das ist: Du kannst deinen Kopf darauf verwetten, dass die bereits wissen, dass River nicht der ist, für den er sich ausgibt.«
Lamb sagte nachdenklich: »Ich könnte auch Rivers Kopf verwetten. Was für mich sicherer und bequemer wäre.«
»Das ist kein Witz. Ich habe die Namen in Rivers Berichten überprüft. Keiner davon schreit ›Sowjetagent‹. Aber wenn das so wäre, hätten sie sich sowieso nicht die ganze Zeit erfolgreich vergraben können.«
»Redest du immer noch mit mir, oder denkst du nur laut nach?« Lamb zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und ließ die Kippe in eine Kaffeetasse fallen. »Bow wurde umgebracht, okay. Traurig, aber Shit happens. Und der Grund für den Mord an ihm war, eine Spur zu legen. Worum es auch immer geht, es geht nicht darum, River Cartwright eine Falle zu stellen. Jemand will aus einem bestimmten Grund
einen von uns dort haben. Früher oder später, wahrscheinlich eher früher, werden wir herausfinden, wer und warum.«
»Also unternehmen wir nichts? Sieht so dein Plan aus?«
»Oh, keine Sorge. In der Zwischenzeit gibt es viel zu tun. Sagt dir der Name Rebecca Mitchell etwas?«
»Das ist die Frau, die Min überfahren hat.«
»Genau. Und da er betrunken war und sie eine Frau ist, nimmt es nicht wunder, dass die Dogs ihr eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt haben. Aber das hätten sie nicht tun sollen.« Er zog Bad Sams Umschlag aus der Gesäßtasche und warf ihn auf den Schreibtisch. »Sie haben nur die letzten zehn Jahre überprüft, in denen sie blitzsauber war, abgesehen davon, dass sie einen aus meiner Mannschaft umgebracht hat. Aber stattdessen hätten sie ihr ganzes Leben nehmen und bei starkem Wind ausschütteln sollen.«
»Und was wäre dabei rausgeflattert?«
»Dass sie früher alles andere als blitzsauber war. In den Neunzigern hat sie mit allen möglichen Typen gevögelt, mit einer besonderen Vorliebe für romantische Slawen. Sie hat sechs Monate mit zwei Charmeuren aus Wladiwostok zusammengewohnt, die ihr ihren Catering-Service finanzierten, bevor sie sich verpissten. Aber natürlich«, fügte er hinzu, »ist das nur ein Indiz, und möglicherweise ist sie schneeweiß wie Schneewittchen. Was meinst du?«
Catherine fluchte, obwohl sie sonst nur selten Schimpfwörter benutzte.
»Ich bin ganz deiner Meinung.« Lamb nahm die Kaffeetasse, hob sie zum Mund und stellte fest, dass er sie als Aschenbecher benutzt hatte. »Und als hätte ich noch nicht genug zu tun, muss ich mich jetzt auch noch mit diesen
zwielichtigen russischen Dreckskerlen von Spider Webb rumschlagen. Keine Ahnung, was genau sie vorhaben, aber es ist so sensibel, dass sie Harper deswegen umgebracht haben.« Er stellte die Tasse wieder hin. »So, aber nun mal schön eines nach dem anderen, nicht wahr?«
Sie brachten die Russen zum Hotel zurück und machten sich dann auf den Weg zur U-Bahn. Marcus schlug vor, ein Taxi zu nehmen, aber Louisa lehnte mit einem Hinweis auf den Verkehrsinfarkt ab. Insgeheim wollte sie jedoch einfach nicht mit Marcus in einem Taxi sitzen und sein Gerede über sich ergehen lassen müssen. In der U-Bahn würde er eher mal die Klappe halten. So weit die Theorie. Doch auf dem Weg zur Haltestelle fragte er sie: »Und, was hältst du von ihm?«
»Paschkin?«
»Wem sonst?«
Sie sagte: »Er ist unser Job« und klatschte ihre Oyster-Card auf das Lesefeld. Die Tore öffneten sich, und sie schlüpfte durch.
Einen Schritt hinter ihr sagte Marcus: »Er ist ein Gangster.«
Webb hatte sich ähnlich ausgedrückt. Ehemals russische Mafia. Inzwischen aber Establishment oder jedenfalls reich genug, um als solches durchzugehen. Sie wusste zwar nicht, wie das in Russland war, aber in London war es für Reiche ungefähr so verwerflich, ein Gangster zu sein, als trüge man die Krawatte eines Clubs, dem man nicht angehörte.
»Schicker Anzug, gute Manieren und sein Englisch ist besser als meins. Und er besitzt eine Ölgesellschaft. Aber trotzdem ist er ein Gangster.«
Oben an der Rolltreppe warnte ein Plakat vor Verkehrsstörungen aufgrund der morgigen Demo. Da sie sich gegen die Banken richtete, würde es wahrscheinlich zu großem Andrang und eventuell zu Ausschreitungen kommen.
Louisa erwiderte: »Kann sein. Aber wenn Webb sagt, wir behandeln ihn wie einen König, dann tun wir das.«
»Was soll das heißen, dass wir ihm eine minderjährige Masseuse zuführen? Oder seinen Schwanz für eine Packung Koks lutschen?«
»Das waren wahrscheinlich nicht die Annehmlichkeiten, die Webb im Sinn hatte«, erwiderte sie.
In der U-Bahn schloss Louisa die Augen. Ein Teil ihres Gehirns jonglierte mit der Logistik: Die Demo war ein wichtiger Faktor. Man konnte keine Viertelmillion verärgerter Bürger in die Gleichung einbringen, ohne dass es kompliziert wurde. Aber diese Gedanken waren nur ein Alibi, eine Fassade in ihrem Bewusstsein, falls jemand eine Gedankenlesemaschine entwickelt hatte. Schon morgen würden Einzelheiten wie der Weg zu The Needle genauso nützlich sein wie Weihnachts-Tischfeuerwerk.
Marcus Longridge sprach sie an. »Louisa?«
Sie schlug die Augen auf.
»Unsere Haltestelle.«
»Ich weiß«, sagte sie, aber er warf ihr trotzdem einen skeptischen Blick zu. Den ganzen Weg von der Haltestelle hinauf zur Straße hielt er sich ein, zwei Schritte hinter ihr. Seine Aufmerksamkeit brannte ihr im Nacken wie ein Laserpunkt.
Vergiss es. Vergiss morgen. Morgen würde es nicht geben.
Heute Abend war alles, was zählte.