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Heute Abend würde er Herzen brechen.
Das war Neuland. Roderick Ho war nicht ohne Erfahrung in der sensiblen Kunst des Demolierens: Er hatte schon Bonitätsbeurteilungen zerstört, Lebensläufe zerlegt, Facebook-Status geändert und Daueraufträge storniert. Er hatte systematisch die Offshore-Steuerarrangements von ein paar alten Schulkameraden auseinandergenommen – wer ist jetzt der Depp, Arschlöcher? – und einmal jemandem den Arm gebrochen – sie war sechs, er acht Jahre alt gewesen; höchstwahrscheinlich ein Unfall. Aber Herzen, nein, Herzen hatte er noch keine gebrochen. Heute Abend würde er das ändern.
Roddy hatte Shana auf der Aldersgate Street kennengelernt, genauer gesagt: sie getroffen. Sie waren beide unterwegs ins Büro, und sie hatte ihn kaum bemerkt. Na ja, was heißt, kaum – wohl eher gar nicht. Aber er hatte sie bemerkt, und zwar so sehr, dass er beim zweiten Mal, als sie aneinander vorbeigingen, schon halb mit ihr rechnete und beim dritten Mal tatsächlich auf sie wartete, obwohl sie ihn überhaupt nicht zur Kenntnis nahm. Er hatte sie zu ihrer Arbeitsstelle verfolgt, einer Zeitarbeitsfirma in der Nähe von Smithfield. Zurück in Slough House war es ein Leichtes gewesen, mal eben einen Blick ins Intranet der Firma zu
werfen, die Personalakten durchzugehen, und da war sie: strahlend lächelnd auf einem Foto, und andere Infos über sie gab es auch. Shana Bellman. Danach war es nur noch ein Katzensprung zu Facebook, wo Roddy unter anderem herausfand, dass Shana fitnesssüchtig war, also ging er als Nächstes die Mitgliedsdaten der nahegelegenen Fitnessstudios durch. Beim dritten stieß er auf ihre Adresse. Ein paar Stunden später waren sie beste Freunde, das heißt, Roddy Ho wusste jetzt alles, was es über Shana zu wissen gab, bis hin zum Namen ihres Freundes.
Und da kam die Sache mit den gebrochenen Herzen ins Spiel. Der Freund musste weg.
Er lächelte ihr Bild an, ein wehmütiges Lächeln, das von dem Schmerz wusste, der dem Glück vorausging, und verkleinerte ihr Foto auf dem Tab am unteren Ende seines Bildschirms. Dann ließ er zufrieden die Fingerknöchel knacken. Kommen wir zur Sache.
Und so würde es vor sich gehen. Shanas Freund würde auf einer Internet-Chatseite ein Gespräch mit ein paar Schlampen anfangen, das sich innerhalb weniger Sätze von anzüglich zu äußerst explizit entwickeln würde. An diesem Punkt würde der zukünftige Ex durch die Art von dämlichem Tippfehler, der nur schwerlich als unabsichtlich durchgehen konnte, fast als wollte der betrügerische Dreckskerl tatsächlich erwischt werden, Shana versehentlich in den gesamten Thread kopieren. Und sayonara,
Freund.
Danach wäre alles ein Kinderspiel. Morgen früh – vielleicht auch erst übermorgen, der Staub sollte sich erst mal legen – brauchte Roddy Shana nur noch auf dem Weg nach Smithfield abzupassen und eine freundliche Bemerkung
fallenzulassen: Hey, Schönheit, warum so traurig?
Und dann: Hey, Männer sind Idioten. Erzähl mir davon
. Und dann, nachdem sie sich dankbar zum Abendessen oder ins Kino oder sonst wohin hatte ausführen lassen: Hey Baby, willst du das mal in den Mund –
»Roddy?«
»Huch!«
Catherine Standish war leiser als ein Lufthauch. »Ich störe dich nur äußerst ungern, wenn du gerade so beschäftigt bist«, sagte sie. »Aber du musst mir einen Gefallen tun.«
Wenn er genau in der Mitte seines Wohnzimmers stand, war Spider Webb exakt drei Schritte vom nächsten ebenfalls frei stehenden Möbelstück entfernt, und zwar seinem Sofa, das lang genug war, um sich der Länge nach darauf auszustrecken, mit Bewegungsspielraum an Kopf- und Fußende. Nach ein paar weiteren Schritten erreichte man die Wand, gegen die man sich mit ausgebreiteten Armen lehnen konnte, ohne auf Hindernisse zu stoßen. Und während man das tat, konnte man die Aussicht genießen, die Spider durch die großen Glastüren zu seinem Balkon hatte: Baumkronen und Himmel – die Bäume ordentlich aufgereiht, weil sie einen Kanal säumten, über den lautlose Boote glitten, verziert in royalen Rot- und Grüntönen. Das musst du mir erst mal nachmachen, dachte er – eine Phrase, die natürlich auf jeden x-Beliebigen anwendbar war, aber in Spider Webbs persönlichem Vokabular hatte sie einen ganz bestimmten Empfänger.
Das musst du mir erst mal nachmachen, River Cartwright.
River Cartwright bewohnte eine Einzimmerwohnung
im East End. Von dort aus blickte er auf eine Reihe von Garagen, und in unmittelbarer Umgebung befanden sich drei Pubs und zwei Clubs, was bedeutete, dass River, wenn er sich endlich einen Weg durch Prolls, Nutten, Besoffene und Meth-Heads gebahnt hatte, noch längst nicht schlafen konnte. Sie randalierten und lärmten, bis es Zeit war, nach Hause zu gehen, um ihre Stütze einzustreichen. Was wunderbar metaphorisch für den Lauf war, den das Schicksal genommen hatte: River Cartwright war ein beschissener Verlierer, während James Webb Höhen erklomm wie Spidermans schlauerer Bruder.
Es hätte anders kommen können. Früher einmal waren sie Freunde gewesen. Sie hatten gemeinsam ihre Ausbildung absolviert, und man erwartete von ihnen, dass sie die kommenden hellen Köpfe des Geheimdienstes wurden, aber es kam anders: Spider war gezwungen worden, maßgeblich dazu beizutragen, dass River zum Slow Horse degradiert wurde; und in der Folge hatte River viele Monate später bewiesen, was für ein erbärmlicher, beschissener Loser er war, indem er Webb mit einer geladenen Waffe ins Gesicht geschlagen hatte.
Doch dieser Schmerz hatte nach einer Weile nachgelassen. Es hatte gedauert, das schon, aber die Tatsachen blieben bestehen: Spider lebte in dieser Wohnung, arbeitete im Regent’s Park und stand auf Diana Taverners täglicher Kontaktliste, während River in Slough House seine unendlich langsam dahintickende Zeit absaß, gefolgt von lärmenden Nächten am Arsch der Stadt. Der Bessere hatte gewonnen.
Und nun würde der Bessere am nächsten Morgen Arkadi Paschkin in Londons schickstem neuen Gebäude treffen,
und wenn alles wie geplant verliefe, würde er den wichtigsten Agenten rekrutieren, den der Secret Service in den letzten zwanzig Jahren angeworben hatte. Ein potentieller zukünftiger Regierungschef Russlands in der Tasche von Regent’s Park, und alles, was es Webb kosten würde, waren Versprechungen.
Danach wäre Lady Dis tägliche Kontaktliste nur noch Kleinkram. Außerdem würde jeder, der eine langfristige Allianz mit Taverner einging, früher oder später abgesägt werden. Sich eng an Ingrid Tearney zu halten, war die bessere Entscheidung. An der Seite Tearneys würde er als Kronprinz gehandelt werden. Und trotz der vielen Modernisierungsmaßnahmen, die der Service verabschiedet hatte, galt das eine Menge.
Der Einsatz lohnte sich also, und bisher hatte er alles richtig gemacht – von dem Moment an, als Paschkin Kontakt mit ihm aufgenommen hatte, hatte Webb hoch gepokert, wie es der mögliche Gewinn verlangte. Und das Glück war auf seiner Seite gewesen. Roger Barrowbys Sicherheitsüberprüfung hatte ihm in die Hände gespielt und ihm das perfekte Alibi geliefert, um Einzelheiten der Sicherheitsmaßnahmen an Slough House auszulagern, dessen lahme Gäule Befehle befolgen würden, ohne dass ihre Aktivitäten in den Büchern des Parks erschienen. Sogar der Ort war schnell festgelegt: Paschkin hatte The Needle verlangt, und Webb hatte nur drei Tage gebraucht, um eine Suite zu ergattern. Der Pächter war ein hochrangiges Handelsberatungsunternehmen, das derzeit ein Waffengeschäft zwischen einer britischen Firma und einer afrikanischen Republik einfädelte und nur zu gerne mit einem MI
5-Agenten zusammenarbeitete. Der
Zeitpunkt, den Paschkin vorgegeben hatte, ließ sich ebenfalls einrichten. Webb fuhr sich mit der Zunge über größtenteils neue Zähne, die ihn jedes Mal an River Cartwrights Angriff erinnerten. Alles war bis in die letzten Details geplant gewesen. Ohne Min Harpers Tod wäre es eine Veranstaltung wie aus dem Lehrbuch gewesen.
Andererseits war Harper gestorben, weil er betrunken gewesen war, Ende, aus. Nichts wies auf Probleme in letzter Minute hin, also musste Webb nur seinen Kopf aufs Kissen legen und den Schlaf der Gerechten schlafen, erfüllt von den leichtherzigen Träumen und der Vorfreude auf den Erfolg, die River Cartwright wie Erinnerungen aus einem anderen Leben erscheinen mussten.
Das musste er jetzt also tun. Bald. In Kürze.
Doch vorerst blieb Spider Webb stehen, blickte sich in seiner hellen, gut ausgestatteten Wohnung um, gratulierte sich zu seinem schönen Leben und hoffte, dass ihm niemand mehr in die Suppe spucken würde.
Von ihrem Büro aus beobachtete Shirley, wie Catherine Standish in Hos Büro ging und die Tür hinter sich schloss. Irgendwas ging hier vor sich. Das war mal wieder typisch: Wenn Shirley nützlich sein konnte, wurde ihr irgendein mieser Job aufgebürdet. Ansonsten ließ man sie draußen in der Kälte stehen.
Sogar Marcus Longridge hatte es besser als sie. Longridge war in Min Harpers Fußstapfen getreten, jedenfalls, was den Job anging. Was Louisa Guy betraf, bezweifelte Shirley, dass er irgendwann in absehbarer Zukunft Harpers Nachfolge antreten würde. Louisa war seit Harpers Tod zu einem
Gespenst geworden, als ob sie aktiv eine symbiotische Beziehung verlängerte: Er war tot, also war sie ein Geist. Aber trotzdem war sie da draußen, bei einem Live-Job, während Shirley festsaß und über ihren Monitor hinweg auf die geschlossene Tür eines anderen schaute.
Sie hatte Mr B gefunden – und zwar gleich zweimal. Sie hatte ihn nach Upshott verfolgt und in Gatwick festgenagelt, was so war, als würde man einer Elritze durch einen Schwarm folgen. Aber sie wusste nicht, was diese Triumphe einbrachten, denn keiner erzählte ihr irgendwas.
Es war spät, und sie hätte schon vor Stunden nach Hause gehen sollen, aber sie wollte nicht. Sie wollte wissen, was los war.
Shirley wusste sehr gut, wie man sich unbemerkt anschlich, aber sie fackelte nicht lange, marschierte raus in den Flur und legte das Ohr an Hos Tür. Sie hörte ein Raunen, konnte aber nichts verstehen: Catherine sprach leise, und Ho füllte die Pausen durch beredtes Schweigen. Das einzige deutlich vernehmliche Geräusch war ein Knarren. Ein sehr leises Knarren. Das Problem war, dass es von hinten kam.
Langsam drehte sie sich um.
Jackson Lamb blickte vom nächsten Treppenabsatz auf sie herab wie ein Wolf, der gerade ein Schaf von seiner Herde getrennt hatte.
Sie spazierten durch den Park zurück. Der Verkehr machte sich weiterhin durch ein insektenhaftes Summen bemerkbar, und hoch über ihnen zogen Flugzeuge in verschiedenen Höhen Schleifen beim Landeanflug auf Heathrow. Arkadi Paschkin hatte Louisa untergehakt. Ihre Tasche war jetzt
leichter. Als sie gegen ihre Hüfte baumelte, fühlte sie nur das Übliche: Handy, Lippenstift, Portemonnaie. Aber ihr Herz klopfte wie wild.
Paschkin wies auf die Formen der Bäume hin; wie das Licht der Straßenlaternen hinter zitternden Blättern aussah, als schwebe ein Geist vorbei. Er klang sehr russisch, als er das sagte. Als ein Motorrad laut knatternd angelassen wurde, verstärkte er kurz seinen Griff, obwohl er nichts dazu sagte; und kurz darauf tat er es wieder, als wolle er betonen, dass ihn der plötzliche Lärm unbeeindruckt ließ und dieser nur zufällig mit seiner Entscheidung zusammengefallen war, ihren Arm zu drücken.
Sie sagte: »Bestimmt ist es schon spät«, und ihre Stimme klang, als käme sie vom anderen Ende eines Spiegelsaals.
Sie gelangten wieder auf den Bürgersteig. Schwarze Taxis donnerten in einem stetigen Strom vorbei, der nur hin und wieder von einem Bus unterbrochen wurde. Durch getönte Fenster blickten Gesichter auf Londons glitzerndes Defilee.
Paschkin sagte, womöglich nicht zum ersten Mal: »Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Louisa?«
War es das? Sie fühlte sich, als wäre sie betäubt worden.
»Sie frieren ja.« Und er legte seine Jacke über ihre Schultern wie ein Gentleman in einem Märchen, Angehöriger einer ausgestorbenen Gattung, abgesehen von ein paar Exemplaren, die manchmal eine Frau zu beeindrucken versuchten, die sie ins Bett kriegen wollten.
Sie erreichten den Vorplatz seines Hotels, einen breiten, mit Terrakottatöpfen gesäumten Abschnitt des Bürgersteigs, und Louisa blieb stehen und spürte für einen Moment das Ziehen seines Armes, bevor auch er innehielt.
Sein Gesicht drückte höfliches Erstaunen aus.
»Ich sollte jetzt gehen«, sagte sie. »Wir haben morgen viel zu tun.«
»Noch ein kleiner Schlummertrunk?«
Sie fragte sich, in wie vielen Sprachen er das sagen konnte.
»Nein danke, es ist kein so guter Zeitpunkt.« Sie ließ seine Jacke von ihrer Schulter gleiten, und als er danach griff, wurden seine Augen kälter, als würde er ihre abendliche Konversation neu bewerten und zu dem Schluss kommen, dass er keine grundlegenden Fehler gemacht hatte, sondern dass dieser unbefriedigende Ausgang auf falsche Signale ihrerseits zurückzuführen war. »Es tut mir leid.«
Er machte eine leichte Verbeugung. »Keine Ursache.«
Ich wollte eigentlich mit nach oben gehen. Er wäre nicht überrascht darüber gewesen, das von ihr zu hören, dieser Mann mit mehr Geld als die Königin. Ich hatte geplant, mit nach oben zu gehen, einen Absacker zu trinken und, wenn nötig, mit dir zu vögeln. Alles, um dich in einen Zustand zu versetzen, in dem ich dich wie eine Sonntagsgans verschnüren und Antworten von dir hätte erzwingen können. Zum Beispiel: Was hat Min herausgefunden, das das Todesurteil für ihn bedeutete?
»Ich rufe Ihnen ein Taxi.«
Sie küsste ihn auf die Wange. »Das war noch nicht alles«, versprach sie, aber zum Glück hatte er keine Ahnung, was sie meinte.
Im Taxi sagte sie dem Fahrer, er solle sie um die Ecke rauslassen. Er seufzte theatralisch, blieb aber stehen, als er ihren Gesichtsausdruck sah. Nur wenige Augenblicke zuvor hatte sie noch in der Abendluft gestanden, doch nun
erschien sie ihr wie verwandelt und schmeckte dunkel und bitter. Das Taxi fuhr weg. Schritte näherten sich. Louisa drehte sich nicht um.
»Du bist also zur Vernunft gekommen.«
»Ich hatte keine Wahl, oder? Nicht, nachdem du mir meine Ausrüstung weggenommen hast.«
O, nein, sie klang wie ein trotziges Schulmädchen.
Vielleicht fand das auch Marcus. »Tja, wenn du nicht ans Handy gehst«, sagte er. »Ich hätte es dich versuchen lassen können. Aber die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass du ordentlich eins abgekriegt hättest. Oder nicht lebend rausgekommen wärst.«
Louisa antwortete nicht. Sie fühlte sich ausgelaugt. Bereit, unter die Decke zu kriechen, in der Hoffnung, dass der neue Tag niemals anbrach.
Der Verkehr brauste über die nahegelegene Park Lane, während oben am dunklen Himmel Flugzeuge durch die Wolken pflügten, ihre Positionslichter flammrot wie Rubine.
»Zur U-Bahn geht’s da lang«, sagte Marcus.
Shana musste erst einmal warten, und ihr Freund war fürs Erste begnadigt. Das Paar konnte eine weitere Nacht in trügerischer Sicherheit verbringen, denn Roddy Ho hatte noch anderes zu erledigen.
… Eines Tages würde er Catherine Standish auf ihren Platz verweisen und haarklein erklären, warum er nicht alles tun musste, was sie sagte. Es würde ein kurzes Gespräch werden, an dessen Ende sie zweifellos in Tränen aufgelöst wäre, und er freute sich jetzt schon darauf, während er die
Namen, die sie ihm gegeben hatte, auf seinen Computer lud und begann, alles zu tun, was sie gesagt hatte.
Und weil er nun mal so war, wie er war, blühten die digitalen Aufgaben vor Roderick Ho auf und überdeckten die in ihm brodelnden Ressentiments. Catherine schlüpfte hinter seinem Rücken hinaus und verschwand, und die Namensliste wurde zur nächsten Stufe des Online-Spiels, das er ständig spielte.
Und das er, wie immer, nur auf Sieg spielte.
Lamb sagte: »Sie hat draußen an der Tür gehorcht, als du mit Ho gesprochen hast.«
»Und ich war drin, als du sie dabei erwischt hast«, erwiderte Catherine. »Warum habe ich nicht gehört, wie du ihr die Eingeweide rausgerissen hast?«
»Weil sie eine Ausrede hatte.«
Catherine wartete.
Lamb sagte: »Sie wollte hören, wovon du redest.«
»Gute Ausrede«, stimmte Catherine zu. »Meinst du, sie ist Lady Dis Spitzel?«
»Glaubst du das nicht?«
»Sie ist nicht die Einzige, die in Frage kommt.«
»Also nimmst du an, dass es Longridge ist. Bist du etwa eine Rassistin, Standish?«
»Nein, ich –«
»Das ist ja noch schlimmer, als zu glauben, es wäre die Lesbe«, sagte Lamb.
»Ich bin so froh, dass wir dich dazu gebracht haben, unsere Diskriminierungsprobleme zu relativieren.«
»Ho schaut sich die Upshott-Menagerie an?«
Sie war es gewohnt, dass er abrupt das Thema wechselte. »Ja. Ich habe mich so weit allein vorgearbeitet, wie ich konnte. Es gibt viele Kandidaten, aber keine offensichtlichen Verdächtigen.«
»Es wäre schneller gegangen, wenn du ihn gleich beauftragt hättest.«
»Aber das hast du doch ausdrücklich verboten«, entgegnete sie betont. »Ach, hat sich River eigentlich gemeldet?«
»Ja, heute Nachmittag.«
»Und, geht’s ihm gut?«
»Warum nicht? Was immer sich da abspielt, es ist kein perfides Komplott, um Cartwright zu ermorden.«
»Morgen früh findet dieses Treffen statt. Die Paschkin-Sache.«
»Und du glaubst, dass es eine Verbindung gibt«, stellte Lamb fest.
»Arkadi Paschkin«, sagte sie. »Alexander Popow. Findest du das nicht verdächtig?«
»Ach, Quatsch! Ich habe die gleichen Initialen wie … Aber ich mache kein großes Bohei daraus. Wir sind nicht bei Agatha Christie.«
»Ist mir egal, und wenn wir bei Dan Brown wären. Falls die beiden etwas miteinander zu tun haben, wird in Upshott demnächst irgendetwas passieren. Und zwar bald. Wir sollten den Park informieren.«
»Wenn Dander Taverners Maulwurf ist, wissen sie schon Bescheid. Es sei denn, du willst auf diese Initialen setzen.« Lamb kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Meinst du, sie werden eine COBRA
-Sitzung einberufen?«
»Du bist derjenige, der das alles in Bewegung gesetzt
hat. Und jetzt willst du einfach abwarten und Tee trinken?«
»Das nicht, aber ich will auf jeden Fall erst hören, was Cartwright zu sagen hat. Er wollte sich melden, sobald er vom Truppenübungsplatz zurück ist. Oder meinst du etwa, ich bin um diese Zeit noch hier, weil ich nichts Besseres zu tun habe?«
»Ja, ehrlich gesagt, schon«, erwiderte Catherine. »Was soll denn auf dem Truppenübungsplatz passieren?«
»Wahrscheinlich nichts. Aber wer auch immer die Spur gelegt hat, hat das nicht getan, um das, was vermutlich passieren wird, geheim zu halten. Also nehme ich an, dass Cartwright irgendwo einen Hinweis finden wird. So, und jetzt verzieh dich, und lass mich in Ruhe.«
Catherine stand auf, hielt aber im Türrahmen inne. »Ich hoffe, du hast recht«, sagte sie.
»Inwiefern?«
»Dass das, was auch immer vor sich geht, kein Plan ist, um River zu ermorden. Wir haben bereits Min verloren.«
»Wir sind der Schuttabladeplatz für die Versager«, erinnerte sie Lamb. »Unsere Mannschaft wird im Handumdrehen wieder komplett sein.«
Daraufhin ging sie.
Lamb kippte seinen Stuhl nach hinten und blickte eine Weile an die Decke, schloss dann die Augen und versank in Reglosigkeit.
Ho saugte bei der Arbeit an den Zähnen. Standish hatte die Informationen auf die altmodische Art ausgewertet: Sie hatte systematisch nach einem roten Faden gesucht. Da wäre
man ja schneller gewesen, wenn man alles ausgedruckt und mit dem Kugelschreiber abgehakt hätte.
Die Amische-Methode nannte man das. Amisch – das passte zu Catherine Standish. Die Frau trug einen Hut.
Hos Methode hatte keinen Namen, oder jedenfalls fiel ihm keiner dafür ein. Er bewegte sich in seinem Element wie ein Fisch im Wasser und handelte fast intuitiv. Er nahm die Namen und Geburtsdaten, ignorierte alles andere, was Standish geliefert hatte, und ließ sie blind durch Suchmaschinen laufen, legale und illegale. Legal war alles, was gemeinfrei war, sowie verschiedene staatliche Datenbanken, zu denen er durch seine Dienstfreigabe Zugang hatte: Steuern und Sozialversicherung, Gesundheit, Führerschein – er nahm alles, was er als Datenfutter betrachtete.
Das Zeug aus seinen illegalen Quellen war wesentlich vielversprechender. Zum einen hatte er ein Hintertürchen zur SOCA
, der Behörde zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Ho beschränkte sich auf kurze Ausflüge, weil die Sicherheitsmaßnahmen ständig verbessert wurden, aber er erhielt dabei fast sofortige Ergebnisse über alles und jeden, der auch nur am Rande bei Strafermittlungen aufgetaucht war. Es war nicht wahrscheinlich, dass dabei ein tief undercover operierender Agent erscheinen würde, aber unmöglich war es nicht, und Ho blieb gern in Übung. Danach kam die Erste Liga. Damals, als er noch Junior-Analyst im Park gewesen war, hatte er einmaligen Zugriff auf das GCHQ
-Netzwerk erhalten und sich aus seinem temporären Passwort einen Klon gebaut. Später hatte er sich zum Administrator hochgestuft und konnte dadurch sämtliche vorhandenen Hintergrundinformationen zu jedem von ihm
gewählten Namen abrufen. Dazu gehörten nicht nur jegliche subversiven Aktivitäten – etwa Beziehungen zu Ausländern aus allen Ländern auf der Verdachtsliste, Reisen in nicht befreundete Länder, zu denen aus historischen Gründen auch Frankreich gehörte, sowie jeder Kontakt, bis hin zu vager geographischer Nähe, mit jedem auf den täglich aktualisierten Verdächtigenlisten –, sondern auch digitale Fußabdrücke, Telefonnutzung, Kreditwürdigkeit, Prozessunterlagen, Tierbesitz: alles. Würde das GCHQ
Userlisten an Direktwerbungsunternehmen verkaufen, könnte es den Krieg gegen den Terror selbst finanzieren. Tatsächlich könnte ein unternehmungslustiger Freelancer das ausnutzen, dachte Ho; ein Thema, das es wert war, genauer untersucht zu werden, wenn auch nicht unbedingt in diesem Moment.
Er schmuggelte sich in die Datenbank, gab die Namen der gesuchten Personen ein, erstellte einen Zielordner für die Ergebnisse und ging wieder raus. Es gab keinen Grund, im Netzwerk herumzulungern, während die Matrix ihre Arbeit verrichtete, die darin bestand, Daten zu sammeln, zu bewerten und wieder auszuspucken, inklusive Überschneidungen, die so deutlich markiert waren, dass sogar eine Amische die Stichpunkte erfassen konnte. Es war so ähnlich wie Tetris spielen. All die vielen kleinen Informationsblöcke fügten sich zu einem Bild zusammen. Genau so, nur viel cooler … Wenn Shana ihn jetzt sehen könnte, wäre ihr Freund Schnee von gestern. Ho versank in einen glücklichen Tagtraum, während die Maschinen die Arbeit für ihn verrichteten.
»Warum hast du mich aufgehalten?«
In der U-Bahn war nicht viel los: ein paar Heimkehrer am
anderen Ende, eine einzelne Frau, die in ihre private kleine iWelt eingestöpselt war, ein betrunkener Mann an den Türen. Aber Louisa verhielt sich trotzdem so unauffällig wie möglich, denn man konnte nie wissen.
Marcus sagte: »Wie ich schon sagte. Wenn du versuchst, Paschkin im Alleingang zu erledigen, kannst du ordentlich auf die Schnauze fallen.«
»Und was geht dich das an?«
»Ich war bei vielen Operationen dabei. Und bei uns war es so, dass wir uns gegenseitig Rückendeckung gaben.« Er wirkte trotzdem nicht beleidigt. »Du glaubst, dass er Harper auf dem Gewissen hat, stimmt’s?«
»Oder dass er den Auftrag gegeben hat, ihn umzubringen. Meinst du, dass ich mich irre?«
»Nicht unbedingt. Aber denkst du nicht, dass er überprüft wurde?«
»Von wem, von Spider Webb?«
»Hat der uns vielleicht nicht alles gesagt?«
»Er ist ein Anzugträger, er ist aus dem Park. Der wäre nicht mal geradeaus, wenn du ihm einen Telegraphenmast in den Hintern rammen würdest.« Sie stand auf. »Ich steige hier um.«
»Fährst du jetzt nach Hause?«
»Ja, Papa.«
»Versprich mir, dass du nicht zurückfährst und es trotzdem versuchst.«
»Du hast mir die Handschellen abgenommen, Longridge. Und mein Spray. Nein, ich fahre nicht noch einmal zurück, mit bloßen Händen.«
»Und du wirst morgen früh da sein.«
Sie starrte ihn einfach nur an.
Er spreizte die Hände: Schau, ich habe nichts zu verbergen. »Es kann sein, dass er Min hat ermorden lassen, vielleicht aber auch nicht. Auf jeden Fall haben wir noch einen Auftrag zu erledigen.«
»Ich werde da sein«, versprach sie zähneknirschend.
»Gut. Das beruhigt mich. Und noch was.«
Der Zug fuhr in den Bahnhof ein, und plötzlich tauchten weiße Kacheln und grelle Poster hinter den Fenstern auf.
»Morgen bin ich für die Security verantwortlich. Es liegt in meiner Verantwortung, jegliche Bedrohung für die Zielperson abzuwehren. Weißt du, was ich meine?«
»Gute Nacht, Marcus«, sagte sie und trat hinaus auf den Bahnsteig.
Als der Zug anfuhr, war sie schon durch einen Ausgangstunnel verschwunden.
Marcus blieb auf seinem Platz sitzen. Zwei Personen waren an Louisas Haltestelle ausgestiegen, drei waren eingestiegen, und er wusste genau, wer wer war. Aber da keiner von ihnen eine Bedrohung darstellte, schloss er die Augen, als der Zug schneller wurde, und für jeden Außenstehenden musste es so aussehen, als wäre er eingeschlafen.
Ho wachte auf, reckte den Hals, und der Sabberfaden, der sich vom Mundwinkel bis zur Schulter zog, riss und formte einen Fleck vorne auf seinem Hemd. Er fuhr sich verschlafen über den Mund, tupfte an dem Fleck herum und wischte sich anschließend die Finger an seinem Hemd ab. Dann wandte er sich seinem Computer zu.
Dieser gab ein zufriedenes Summen von sich, jenes
freundliche Geräusch, das er machte, wenn eine Aufgabe, die Ho ihm gestellt hatte, erledigt war.
Ho stand auf. Er musste sich geradezu von seinem Stuhl lösen – seine Kleidung war daran festgeklebt. Im Flur hielt er inne. Slough House lag ruhig da, fühlte sich aber nicht leer an. Lamb, vermutete er, und wahrscheinlich auch Standish. Er gähnte und tappte zur Toilette, pinkelte – größtenteils in die Schüssel –, tappte zurück in sein Büro und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Wischte sich wieder die Finger an seinem Hemd ab und trank einen Energy-Drink. Dann kippte er seinen Flachbildschirm, um sich die Ergebnisse seiner Suche anzusehen.
Während er hinunterscrollte, lehnte er sich nach vorne. Informationen interessierten Ho proportional zu ihrer Nützlichkeit, und die Daten, die er betrachtete, besaßen für ihn keinerlei Relevanz. Aber für Catherine Standish waren sie von Interesse. Sie hoffte, dass sich unter den Namen, die er überprüft hatte, der des Kontakts von Mr B befand, einem sowjetischen Schläfer von damals aus den alten Zeiten. Wenn er herausfände, wer es war, könnte er sie damit beeindrucken. Andererseits wusste sie bereits, dass er hot shit
bei so was war, und obwohl sie wirklich netter zu ihm war als jeder andere in dieser Absteige, durfte man nicht vergessen, dass sie ihn erpresst hatte, um ihr …
Etwas erregte seine Aufmerksamkeit. Er hörte auf zu scrollen, scrollte wieder nach oben und überprüfte ein Datum, das er gerade registriert hatte. Dann scrollte er erneut nach unten zu dem Punkt, an dem er gewesen war.
»Hmpf.«
Ho schob seine Brille mit einem Finger auf die Nase,
schnüffelte dann am Finger und verzog das Gesicht. Er wischte ihn an seinem Hemd ab und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm. Kurz darauf hörte er wieder auf zu scrollen.
»Moment«, murmelte er.
Er scrollte weiter nach unten und hielt wiederum inne.
»Moment mal.«
Er wartete einen Augenblick und dachte nach. Dann gab er ein Schlagwort in das Suchfeld ein, drückte die Eingabetaste und starrte auf die Ergebnisse.
»Moment mal, was soll das denn?«, stieß er hervor.
Diesmal blieb er nicht am Stuhl kleben.