12
Er hörte eine Stimme.
»Walker.«
Das Dröhnen blieb, aber nur in seinem Kopf: ein Pulsieren wie von einer dumpfen Pauke, das von seiner Schädelwand abprallte. Bei jedem Schlag flammte ein Sternenregen auf, erlosch und blühte erneut. Sein Körper war eine große Faust, mit aufgeschürften Knöcheln.
»Jonathan Walker.«
River öffnete seine Augen und stellte fest, dass er von einem Zwerg gefangen gehalten wurde.
Er war da, wo er schon immer gewesen war; eingerollt am Fuße eines unzerstörbaren Baumes, dem Einzigen, was die Erde am Himmel befestigte. Das zerstörte Gebäude war geschrumpft – oder alles andere war gewachsen –, und sein Herz versuchte, sich aus seinem Käfig zu befreien.
Wie lange war er schon hier? Zwei Minuten? Zwei Stunden? Und wer war der Zwerg?
Er streckte die Glieder. Der Zwerg trug eine rote Kappe und zwinkerte ihn boshaft an. »Na, hat dir die Show gefallen?«
River sprach, und seine Worte schwollen an, während sie seinen Mund verließen. Sein Kopf war von einem Ballon verschluckt worden.
»Griff? Der ist längst weg.« River hätte schwören können, dass der Zwerg auf den Fersen rückwärts kippte wie ein Spielzeug, das man nicht umwerfen konnte. Dann tauchte er wieder in Rivers Gesichtsfeld auf. »Der wird wohl kaum während einer Artillerieübung hier rumhängen, oder?«
Er zerrte River auf die Beine, und es stellte sich heraus, dass er überhaupt kein Zwerg war, sondern ein mittelgroßer Mann. Es sei denn, River wäre geschrumpft. Ein Trauma konnte so was bewirken. Er schüttelte den Kopf, und als er aufhörte, schwankte die Umgebung weiter. Er blickte auf, was sich ebenfalls als Fehler erwies, aber zumindest hatte sich der Himmel beruhigt. Keine neuen Feuergarben rissen ihn auf. Er sah wieder den Zwerg an, der keiner mehr war.
»Sie kenne ich doch«, sagte er, und diesmal gehorchte ihm seine Stimme mehr oder weniger.
»Wir sollten uns lieber vom Acker machen.«
River presste die Hände gegen die Schläfen. Damit hörten für einen Augenblick die Schwankungen auf. »Sind wir hier in Gefahr?«
»Die Nacht ist noch jung.«
Der Mann mit der roten Mütze – kein Zwerg, aber die Mütze war offenbar echt – drehte sich um und verließ die Ruine. River stolperte hinter ihm her.
Lamb wischte sich mit einer fleischigen Hand über das Gesicht. »Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund, mich zu wecken.« Er hatte in seinem Stuhl geschlafen und schien immer noch nicht richtig wach zu sein. Doch als Roderick Ho in seiner Tür erschienen war, den Ausdruck in der Hand, hatte er sofort die Augen aufgeschlagen, und für einen Moment hatte Ho sich wie ein Kaninchen gefühlt, das in den Käfig eines Löwen spaziert war.
»Ich habe etwas gefunden«, sagte er.
Catherine erschien. Falls auch sie geschlafen hatte, sah man ihr das nicht so offensichtlich an wie Lamb, der große rote Flecken im Gesicht hatte. »Was hast du gefunden, Roddy?«
Sie war der einzige Mensch, der ihn so nannte. Ho war unentschlossen, ob er es dabei belassen wollte oder ihm lieber wäre, dass ihn mehr Leute so anredeten.
Er sagte: »Ich weiß nicht genau, was es bedeutet. Aber es ist etwas Ungewöhnliches.«
»Das war nicht der beste Schlaf, den ich je hatte«, sagte Lamb. »Aber wenn Sie mich geweckt haben, um ›Twenty Questions‹ zu spielen, stecke ich Sie mit Cartwright in ein Büro, wenn er wieder da ist.«
»Es geht um das Dorf. Upshott. Die Einwohnerzusammensetzung.«
»Es ist ein ziemlich kleines Dorf«, erwiderte Catherine.
Lamb knurrte: »Das ist Legoland. Mit weniger Annehmlichkeiten. Haben Sie irgendetwas gefunden, was wir bisher noch nicht wussten?«
»Weniger Annehmlichkeiten, ganz recht.« Ho fühlte sich schon wieder zuversichtlicher. Er erinnerte sich daran, dass er ein Cyber-Krieger war. »Es gibt da rein gar nichts. Als die Amis noch da waren, gab’s alles Mögliche, aber nur auf der Basis, und keiner auf der Liste hatte irgendetwas damit zu tun.«
Lamb zündete sich eine Zigarette an. »Die erste heute«, bemerkte er, als Catherine ihm einen Blick zuwarf. Es war zehn Minuten nach Mitternacht. »Hören Sie mal, Roddy.« Er klang sehr freundlich. »Dieser ganze Mist, den ich Ihnen auf‌trage? Die Beschimpfungen? Die Drohungen?«
»Schon okay«, sagte Ho. »Ich weiß, es ist nicht so gemeint.«
»Ich meine jedes einzelne Wort davon, mein Sohn. Aber all das wird dir wie Peanuts vorkommen im Vergleich zu dem, was du erleben wirst, wenn du dich jetzt nicht endlich mal klar ausdrückst! Capisce? «
Der Cyber-Krieger verzog sich. »Keiner von ihnen hatte etwas mit der Luftwaffenkaserne zu tun. Etwas anderes muss sie nach Upshott gezogen haben, aber da ist nichts. Also –«
»Schon mal was von Stadtflucht gehört?«, fragte Lamb. »Das passiert, wenn in den Städten zu viele unerwünschte Personen auftauchen.« Er hielt inne. »Nichts für ungut.«
»Schon, aber wenn das passiert, dann normalerweise nach und nach«, entgegnete Ho. »Und so war das in diesem Fall nicht.«
Der Rauch von Lambs Zigarette hing reglos in der Luft.
Catherine sagte: »Was meinst du damit, Roddy?«
Und dies war der Triumph seiner Nacht, wenn auch mit weniger Blondinen als in seinen Träumen. »Die Leute, die ich meine, sind alle innerhalb weniger Monate ins Dorf gezogen. Und zwar jede Menge von ihnen.«
»Wie viele?«, fragte Lamb.
Ho übergab Catherine seinen Ausdruck und sagte: »Siebzehn. Siebzehn Familien. Und alle sind zwischen März und Juni 1991 in Upshott angekommen.«
Und dieses eine Mal hatte er die Genugtuung, Lamb sprachlos zu sehen.
Als er den Hang hinaufstürmte, den Grif‌f Yates ihn vorhin hinuntergeführt hatte, musste sich River auf halbem Weg ausruhen. Aber das Pochen in seinem Kopf ließ nach, und er spürte allmählich wieder, dass er am Leben war, obwohl er genauso gut als feiner roter Nebel über diese Landschaft hätte versprüht werden können.
Der Gedanke, Grif‌f wiederzusehen, motivierte ihn zusätzlich.
Rotkäppchen wartete oben auf ihn. Von ihm war kaum mehr als ein dunkler Umriss erkennbar, aber Rivers Gehirn arbeitete wieder, und ein Name tauchte darin auf. Er sagte: »Sie sind Tommy Moult. Der vor dem Dorfladen die Samenpäckchen aus seinem Fahrradkorb verkauft.« Von dort kannte River ihn, obwohl sie nie über ein Hallo hinausgekommen waren. »Was machen Sie hier um diese Zeit?«
»Ich lese Streuner auf.« Unter Moults Mütze ragten weiße Haarbüschel hervor. Er musste über siebzig sein, hatte ein tief zerfurchtes Gesicht und kleidete sich, als lebte er unter einer Hecke, mit einer alten Tweedjacke, die nach Erde roch, und einer Hose, die um seine Knöchel herum verknotet war. Behelfsmäßige Fahrradclips, vermutete River, obwohl auch weniger hygienische Gründe möglich schienen. Seine Stimme war rauh und kehlig: der örtliche Dialekt, über Kieselsteine gegossen. Ein unwahrscheinlicher Retter, aber immerhin.
»Vielen Dank jedenfalls.«
Moult nickte, drehte sich um und ging weiter. River folgte ihm. Er hatte keine Ahnung, in welche Richtung sie unterwegs waren. Sein innerer Kompass kreiselte wie verrückt.
Über die Schulter hinweg sagte Moult: »Ihnen wäre sowieso nichts passiert. Die zielen nicht auf die Gebäude. Wenn sie es täten, wären sie nur noch Trümmer und die Bäume Streichhölzer. Sehen Sie die Hügel auf dem offenen Feld da hinten?«
»Nein.«
»Das sind bronzezeitliche Hünengräber. Kein Artilleriefeuer in diese Richtung. Sonst gibt’s Ärger.«
»Ich nehme an, Grif‌f weiß das auch.«
»Er wollte nicht, dass Sie in Stücke gerissen werden, wenn Sie’s genau wissen wollen.«
»Ich werde das im Hinterkopf behalten, wenn ich ihn das nächste Mal sehe.«
»Er wollte Ihnen nur Angst einjagen.« Moult blieb stehen, so plötzlich, dass River ihn beinahe umgerannt hätte. »Aber Sie sollten vielleicht wissen, dass Grif‌f in die junge Kelly Tropper verliebt ist, seitdem sie ohne Stützräder fahren kann. Und nachdem Sie beide sich nähergekommen sind – und das mitten am Tag –, na ja, da können Sie sich vielleicht denken, dass er Ihnen das übelnimmt.«
»Grundgütiger«, sagte River. »Das war ja – das war doch erst heute Nachmittag.«
Tommy Moult blickte hinauf zum Himmel.
»Gestern Nachmittag. Und er weiß davon? Sie wissen davon?«
»Kennen Sie den Begriff Global Villag e?«
River starrte ihn wortlos an.
»Tja, Upshott ist die Dorfversion davon. Jeder weiß alles über jeden.«
»Der Scheißkerl hätte mich umbringen können!«
»Er würde vermutlich einwenden, dass nicht er Sie umgebracht hätte.«
Und Moult machte sich wieder auf den Weg, River hinterher. »Der Rückweg kommt mir weiter vor als der Hinweg«, sagte er nach einer Weile.
»Die Strecke ist immer dieselbe.«
Da fiel der Groschen. »Wir sind nicht unterwegs zurück zur Straße, oder?«
»Das wäre doch jammerschade«, erwiderte Moult, »die ganze Anstrengung auf sich zu nehmen, zu Tode erschreckt zu werden und dann mit eingekniffenem Schwanz nach Hause zu schleichen.«
»Okay, und wohin gehen wir jetzt?«
»Wir werden das Einzige aufsuchen, was es hier wert ist, gefunden zu werden«, antwortete Moult. »Ach, und übrigens: Es ist streng geheim.«
River nickte, und sie setzten ihren Weg durch die Dunkelheit fort.
»Okay«, sagte Lamb schließlich. »Wahrscheinlich lasse ich Sie deswegen immer noch hier arbeiten. Und jetzt zurück zu deinen Spielzeugen, Tasten-Boy. Wenn sie alle Schläfer sind, dann leben sie schon sehr lange unter falscher Identität. Und da liegt der Schlüssel. Sie müssen hervorragend gedeckt sein, aber irgendwo muss es einen Lichtspalt geben. Finden Sie ihn!«
»Es ist kurz nach zwölf!«
»Danke«, sagte Lamb. »Meine Uhr geht vor. Und wenn Sie damit fertig sind, führen Sie eine Background-Recherche über Arkadi Paschkin durch, der genau so geschrieben wird, wie ich es ausgesprochen habe.« Er machte eine Pause. »Gibt es einen Grund dafür, warum Sie noch hier rumstehen?«
Catherine sagte: »Das war gute Arbeit. Bravo, Roddy.«
Ho ging.
An Lamb gewandt, sagte sie: »Würde es dich umbringen, mal ein bisschen netter zu ihm zu sein?«
»Wenn er seinen Job nicht machen würde, wäre er hier überflüssig.«
»Er hat das hier gefunden.« Catherine wedelte mit dem Ausdruck. »Ach, und übrigens – ›Lichtspalt‹?«
Lamb schwieg einen Augenblick lang.
»Gott, ich werde alt«, sagte er. »Sag es ihm bloß nicht, aber das war unbeabsichtigt.«
Sie ging hinaus in die kleine Küche und setzte Teewasser auf. Als sie zurückkam, hatte er seinen Stuhl zurückgeschoben und starrte an die Decke, eine nicht angezündete Zigarette im Mund. Catherine wartete. Endlich sprach er.
»Was hältst du davon?«
Es schien eine echte Frage zu sein.
Sie sagte: »Ich gehe davon aus, dass das kein Zufall ist.«
»Nein, kein Ausverkauf in Upshott oder so. Und wie Ho gesagt hat: Es gibt ansonsten keinen anderen Grund, dorthin zu ziehen.«
»Also ist ein ganzes Schläfernetzwerk in ein Cotswold-Dorf eingefallen und hat es – äh – übernommen?«
»Klingt nach The Twilight Zone, was?«
»Aber zu welchem Zweck? Das ganze Dorf ist im Grunde genommen ein Altersheim.«
Er antwortete nicht.
Der Wasserkocher blubberte, und sie ging wieder hinaus und goss Tee auf. Sie kam mit zwei Tassen zurück und stellte sie vor Lamb auf den Schreibtisch. Er reagierte nicht.
Sie sagte: »Es ist nicht einmal eine Schlafstadt. Es gibt keine direkte Bahnverbindung nach London oder anderswohin. Upshott hat eine Kirche, einen Laden und ein paar Bestellshops für Versandhändler. Es gibt eine Töpferei. Einen Pub. Unterbrich mich, sobald es sich nach einem Angriffsziel anhört.«
»Die Militärbasis gab es noch, als sie hingezogen sind.«
»Wenn sie aber irgendetwas damit zu tun gehabt hätten, wären sie längst wieder weggezogen. Oder sie hätten getan, was immer ihre Absicht war, solange die Amerikaner noch da waren. Aber wer kauft denn ein Haus, um eine verdeckte Operation durchzuführen, um Himmels willen? Die Hälfte der Leute hat Hypotheken aufgenommen. Dadurch hat Ho sie gefunden.«
Lamb sagte: »Bitte, sprich weiter. Ich halte Stille nicht aus.«
Ohne den Blick von der Decke abzuwenden, begann er, nach seinem Feuerzeug zu kramen.
Sie sagte: »Wenn du die anzündest, öffne ich ein Fenster. Hier drin stinkt es ohnehin schon.«
Lamb nahm die Zigarette aus dem Mund, hielt sie über seinen Kopf und rollte sie zwischen den Fingern hin und her. Sie konnte ihn denken hören.
Er sagte: »Siebzehn.«
»Siebzehn. Darunter viele Familien. Glaubst du, die Kinder wissen Bescheid?«
»Wie viele Kinder sind es?«
Catherine sah auf dem Ausdruck nach. »Ein Dutzend. Die meisten sind inzwischen weit über zwanzig, aber mindestens fünf haben noch immer eine starke Bindung an das Dorf. River sagt …« Lamb richtete sich mit einem Ruck auf, und sie hielt inne, weil sie den Faden verlor. »Was ist?«
»Warum gehen wir eigentlich so selbstverständlich davon aus, dass sie voneinander wissen?«
Sie sagte: »Äh … Weil alle seit zwanzig Jahren da wohnen?«
»Aha. Ich kann mir das Partygeplauder lebhaft vorstellen.« Mit künstlich hoher Stimme fuhr er fort: »Ach, habe ich eigentlich schon erwähnt, dass Sebastian und ich für den Kreml spionieren? Noch etwas Chablis?« Er nahm die Suche nach seinem Feuerzeug wieder auf. »Schläfer arbeiten solo. Sie haben keinen Führungsoffizier, nur einen Anrufcode. Mach das. Over and out. Aber bis dahin können Jahre vergehen, und in dieser Zeit halten sie keinen Kontakt zu anderen.«
Sein Gesicht hatte seinen typischen Ochsenfrosch-Ausdruck angenommen. Er fand das Feuerzeug und zündete seine Zigarette an, allerdings auf Autopilot. Er reagierte nicht einmal, als Catherine den Raum durchquerte, die Jalousie hochzog und das Fenster öffnete. Dunkle Nachtluft strömte herein, begierig, diesen unbekannten Raum zu erkunden.
Er sagte: »Überleg doch mal. Die Mauer fällt. Die U dSSR bricht auseinander. Wofür auch immer das Netzwerk gedacht war – zu diesem Zeitpunkt war es nutzlos geworden. Vielleicht hat das Mastermind, das es leitet und von dem wir annehmen, dass es derselbe Typ ist, der sich Alexander Popow ausgedacht hat, beschlossen, es einzumotten. Aber anstatt seine Leute nach Hause zurückzupfeifen, schickt er sie in die Pampa. Warum?«
Catherine folgte seinem Gedankengang. »Sie haben viele Jahre damit verbracht, sich in die englische Gesellschaft zu integrieren. Sie haben alle einen Job, sind alle erfolgreich auf ihren Gebieten, und dann werden sie angewiesen, aufs Land zu ziehen, wie unzählige andere Durchschnittsbürger, die es geschafft haben. Vielleicht schlafen sie gar nicht mehr. Vielleicht sind sie zu dem geworden, was sie vorgeben zu sein.«
»Und führen ein normales Leben«, ergänzte Lamb.
»Ich hatte also recht. Der Ort ist ein einziges Altersheim.«
»Obwohl es den Anschein hat, als plane jemand, sie zu wecken.«
»So oder so«, bemerkte Catherine, »ist es wahrscheinlich ratsam, River Bescheid zu sagen.«
Moult öffnete den Kühlschrank und holte aus dem Gefrierfach eine Flasche hervor, die so vereist war, dass River das Etikett nicht lesen konnte. Dann nahm er Gläser aus einem Regal und stellte sie auf die Werkbank. Er öffnete die Flasche, schenkte beide Gläser voll und gab River eines davon.
»Ist das alles?«, fragte River.
»Wieso, hattest du eine Zitronenscheibe erwartet?«
»Wir sind zehn Kilometer im Stockfinsteren durch den Matsch gestiefelt, und Ihr großes Geheimnis besteht darin, dass Sie wissen, wo es Alkohol umsonst gibt?«
»Es waren nur knapp drei Kilometer«, betonte Moult. »Und es ist schon wieder zunehmender Mond.«
In der Heide hatten sie sich zu Boden werfen müssen, als ein Jeep vorbeifuhr. Seine Scheinwerfer erhellten Ausschnitte der nächtlichen Landschaft, in der es hier und da glitzerte – Insekten, die umherhuschten wie hauchzarte Glasscherben und das Licht der Sicherheitsstreife reflektierten. Nicht lange danach waren sie durch den Zaun geklettert, aber nicht an der Stelle, zu der Grif‌f Yates River geführt hatte; stattdessen waren sie auf einem asphaltierten Stück herausgekommen. Erst nachdem sie schon über eine Minute darauf entlanggegangen waren, hatte River gedämmert, was es war: keine Straße, sondern eine Landebahn. Und dann nahm das Gebäude vor ihnen Gestalt an: der Hangar, in dem der Fliegerclub sein Flugzeug untergestellt hatte. Daneben stand ein kleineres Gebäude, das eigentliche Clubhaus, das sich als bessere Garage mit zusätzlichen Annehmlichkeiten entpuppte – den Kühlschrank, den Moult plünderte, ein paar Stühle, ein alter Schreibtisch mit Papierkram, ein Stapel Pappkartons, halb abgedeckt von einer Plastikfolie. Beleuchtet wurde der Raum von einer nackten Glühbirne an der Decke. Der Schlüssel zu all diesen Kostbarkeiten hatte auf einem Vorsprung über der Tür gelegen, wo River als Erstes gesucht hätte, wenn Tommy Moult nicht bereits gewusst hätte, dass er dort war.
Tommy Moult schaute auf sein leeres Glas, als wundere er sich, wohin der Inhalt verschwunden war.
River sagte: »Ich nehme an, Sie sind kein vollwertiges Clubmitglied?«
»Es ist ja nicht mal ein richtiger Club«, erwiderte Tommy. »So mit Satzung und Mitgliederlisten.«
»Das heißt also nein.«
Er zuckte mit den Schultern. »Wenn hier wirklich niemand reinkommen sollte, würden sie den Schlüssel so verstecken, dass ihn keiner findet.«
Am Kühlschrank hingen mit Magneten angeheftete Fotos. Eines davon zeigte Kelly im Fliegeroutfit: Overall, Helm, breites Lächeln. Weitere, neben Rechnungen und Zeitungsausschnitten, zeigten Kellys Freunde: Damien Butterf‌ield, Jez Bradley, Celia und Dave Morden; andere kannte River nur vom Sehen. Ein älterer Mann, der neben dem gepflegten Flugzeug stand, das der Stolz und die Freude des Fliegerclubs war, sah mit seiner gebügelten Hose und dem Blazer mit den silbernen Knöpfen ganz nach dem Piloten aus. Sein weißes Haar war makellos frisiert, seine Schuhe glänzten frisch geputzt.
»Das ist Ray Hadley, oder?«
»Ja«, sagte Tommy.
»Wie kann er sich sein eigenes Flugzeug leisten?«
»Vielleicht hat er im Lotto gewonnen.«
Hadley war der Gründer des Clubs, sofern ein Club, der keiner war, einen Gründer haben konnte. Er hatte Kelly und Co. dazu angeregt, Flugstunden zu nehmen; durch ihn waren diese Garage und der Hangar daneben in den Mittelpunkt ihres Lebens gerückt.
Bei einem ihrer ersten Gespräche hatte River Kelly gefragt, wie sie sich das leisten konnten, und ein wenig befremdet hatte sie ihm erklärt, dass ihre Eltern es bezahlt hätten. »Es ist nicht viel teurer als Reitunterricht«, hatte sie erklärt.
Über dem Schreibtisch hing ein Kalender, auf dem die Tage dieses Monats mit kleinen quadratischen Kästchen markiert waren. Manche waren mit rotem Marker fett durchgestrichen worden. Der letzte Samstag, bemerkte River, und der Dienstag davor. Und morgen. Darunter waren Urlaubspostkarten mit Klebeknete an der Wand angebracht worden: Strände und Sonnenuntergänge. Alles weit weg.
Das Handy in seiner Tasche vibrierte.
»Ich geh mal kurz raus«, sagte er zu Tommy, und draußen überprüfte er die Nummer des Anrufers, bevor er sich meldete.
Es war Catherine Standish, nicht Lamb.
»Ich muss dir was Komisches erzählen«, verkündete sie.
Als Catherine weg war, schloss Lamb das Fenster, zog die Jalousie herunter und schenkte sich ein Glas von dem Talisker ein, den er dem Klischee entsprechend in seiner Schreibtischschublade aufbewahrte. Während er trank, richtete er den Blick in die Ferne. Ein Beobachter hätte meinen können, er versinke in ein trunkenes Nickerchen, aber im Schlaf war Lamb unruhiger als jetzt – er neigte zu schreckhaften, ruckartigen Bewegungen und fluchte manchmal in fremden Sprachen. Jetzt aber saß Lamb reglos und still da, obwohl seine Lippen glänzten. Jetzt spielte Lamb einen Felsbrocken.
Und dann sagte er urplötzlich laut: »Warum Upshott?«
Wenn Catherine da gewesen wäre, hätte sie erwidert: Warum nicht? Irgendwo mussten sie ja hin.
»Und wenn sie woanders wären, würde ich fragen, warum dort?«, antwortete Lamb. »Aber sie sind nirgendwo anders. Sie sind in Upshott.«
Und wer auch immer entschieden hatte, sie dort hinzuschicken, hatte ein Kremlhirn in einem Kremlkopf. Was bedeutete, dass derjenige nicht mal ein Frühstück bestellen würde, ohne die Konsequenzen abzuwägen. Was wiederum bedeutete, dass es einen Grund für Upshott gab, der nichts mit einer Landkarte und einer Stecknadel zu tun hatte.
Mit geschlossenen Augen stellte sich Lamb die Generalstabskarte vor, die er einmal pro Tag studiert hatte, seitdem er River Cartwright zum Agenten vor Ort gemacht hatte. Upshott war ein kleiner Ort inmitten größerer Ortschaften, von denen keine einzige strategische Bedeutung besaß; sie schmiegten sich einfach in das Herz der britischen Landschaft und zogen Touristen und Fotografen an. Es waren Ortschaften, in denen man Antiquitäten und teure Pullover kaufte. Ortschaften, die man besuchte, wenn man die Nase voll von der Stadt hatte. Ortschaften, die man im Geiste heraufbeschwor, wenn man sich das typische England vorstellen wollte, nachdem man mit Buck House, Big Ben und der Mutter aller Parlamente durch war.
Jedenfalls nahm Lamb an, dass ein Kremlhirn in einem Kremlkopf sich solche Ortschaften vorstellte, wenn es an England dachte.
Lamb rührte sich und setzte sich auf. In einer einzigen fließenden Bewegung schenkte er sich noch einen Scotch ein und trank ihn. Dann betastete er mit seiner fleischigen Hand seinen Kragen, um sicherzugehen, dass er bereits seinen Mantel trug.
Es war spät, aber er war noch hellwach. Und in Lambs Welt war es so: Wenn er noch wach war, gab es keinen Grund, warum ein anderer schlafen sollte.
Er brauchte ein russisches Gehirn zum Zerpflücken, daher verließ er Slough House und machte sich in westlicher Richtung auf den Weg.
River sagte: »Du hast was?«
Catherine wiederholte: »Die Hälfte aller Leute, die du erwähnt hast, Butterf‌ield, Hadley, Tropper, Mor –«
»Tropper?«
Catherine hielt inne. »Ist was Besonderes an der Familie?«
»Nein. Wer sonst noch?«
Catherine las die Namen vor: Butterf‌ield, Hadley, Tropper, Morden, Barnett, Salmon, Wingfield, James und alle anderen – die Namen von siebzehn Leuten und Familien, von denen River die meisten kennengelernt hatte. Wingfield – er hatte eine Wingfield in St Johnno getroffen. Sie war in den Achtzigern; eine dieser vogelartigen alten Damen mit stechendem Blick und scharfem Schnabel. Früher hatte sie bei der BBC gearbeitet.
»River?«
»Bin noch dran.«
»Wir gehen davon aus, dass Mr B in Upshott war, um eine Kontaktperson zu treffen. Es könnte jeder von ihnen sein, River. Es sieht so aus, als ob das Zikadennetzwerk tatsächlich existiert. Und zwar genau da, genau jetzt.«
»Steht ein Tommy Moult auf der Liste? M – O – U – L – T.«
Er hörte, wie sie den Ausdruck durchmischte. »Nein«, sagte sie. »Kein Moult.«
»Hatte ich mir schon gedacht«, sagte River. »Okay. Wie geht es Louisa?«
»Nicht anders als vorher. Morgen findet dieses Treffen statt. Dein alter Freund Spider Webb und seine Russen. Es sei denn …«
»Es sei denn, was?«
»Lamb hat die Frau überprüft, die Min überfahren hat. Die Dogs waren anscheinend voreilig, als sie seinen Tod als Unfall einstuften.«
»Mein Gott«, sagte er. »Weiß es Louisa?«
»Nein.«
»Behalt sie im Auge, Catherine. Sie glaubt sowieso, dass Min ermordet wurde. Wenn sie Beweise erhält …«
»Mach ich. Woher weißt du, dass sie das denkt?«
»Weil ich es tun würde«, sagte er. »Okay. Ich passe auf mich auf. Aber bisher kann ich nur sagen, dass Upshott genau so ist, wie es auf der Karte aussieht. Ein kleines Stückchen Nirgendwo in einer hübschen Gegend.«
»Roddy gräbt noch weiter. Ich melde mich wieder.«
River blieb noch eine Weile in der Dunkelheit stehen. Kelly, dachte er. Kelly Tropper – vielleicht kam ihr Vater in Frage, ein ehemaliger Staranwalt in London; vielleicht war er die Art von Langzeitmaulwurf, den der alte Kreml ins Spiel gebracht haben könnte. Aber seine Tochter war gerade erst geboren worden, als die Mauer fiel. Es gab keinen Grund zu der Annahme, dass sie Teil des Netzwerks sein könnte. Wie hoch waren die Chancen, dass dieses kleine Kaff eine neue Generation von Kalten Kriegern nährte, und wofür würden sie kämpfen, wenn es so wäre? Die Auferstehung der Sowjetunion?
Durch das Fenster sah er Tommy Moult zu, wie er sich Wodka nachschenkte und dann etwas aus der Jackentasche holte und es sich in den Mund steckte. Er spülte es mit dem Alkohol runter. Er trug noch immer seine rote Mütze, und die Haare, die darunter hervorpiekten, verliehen ihm ein lustiges Aussehen. Die Haut spannte sich straff über die Kinnpartie und war mit weißen Stoppeln bewachsen. Zwar glänzten seine Augen lebhaft, aber es umgab ihn ein Hauch von Melancholie. Der fröhliche Touch, den ihm die Mütze verlieh, bildete einen deutlichen Kontrast zu seiner übrigen Erscheinung.
River drehte sich um und betrachtete den Hangar. Die großen Türen zur Landebahn hin waren mit einem Vorhängeschloss versehen, aber es gab einen ungesicherten Seiteneingang. Er ging hinein und lauschte aufmerksam, aber die einzigen Geräusche stammten von dem verlassenen Gebäude, und als er den Strahl seiner Taschenlampe durch das Innere wandern ließ, huschte nichts davor weg. Das Flugzeug nahm aus den Schatten heraus Gestalt an. Eine Cessna Skyhawk – er hatte sie noch nie aus solcher Nähe gesehen, aber er hatte beobachtet, wie sie am Himmel über Upshott kreiste, wo sie wie ein Kinderspielzeug aussah. Viel mehr machte sie jetzt auch nicht her. Sie war kaum höher als River und vielleicht dreimal so lang. Es war eine einmotorige Maschine mit Platz für vier Passagiere, blauweiß lackiert. Als River die Hand auf ihre Schwinge legte, fühlte sie sich kalt an, versprach aber Wärme, die Wärme eines schlummernden Potentials. Er hatte bisher nicht wirklich realisiert, dass Kelly flog. Er hatte es als Tatsache hingenommen, aber nicht gespürt. Jetzt tat er es.
Das übrige Gebäude bestand größtenteils aus freier Grundfläche, alles andere war an den Wänden aufgestapelt. Der Griff eines Plattformwagens ragte auf wie der eines Schaukelpferds. Was immer darauf lag, war in Leinwand gehüllt. Diese war mit einer Wäscheleine am Wagen verschnürt, und River musste mit seiner Taschenlampe im Mund den Knoten aufdröseln, bevor er sie zurückschlagen konnte. Nachdem er das getan hatte, brauchte er einen Moment, um herauszufinden, was dort in drei Säcken übereinandergestapelt lag. Er legte eine Hand darauf. Ebenso wie beim Flugzeug spürte er Kälte und innewohnende Hitze zugleich.
Etwas, was sich wie zwei Dartpfeile anfühlte, traf ihn am Hals.
Ein Lichtblitz erhellte Rivers Gehirn, und die Welt ging in Rauch auf.
In der Wentworth Academy of the English Language war es ruhig, und es brannte kein Licht in ihren Büros im dritten Stock über dem Schreibwarenladen in High Holborn. Lamb passte das gut. Es war ihm lieber, Nikolai Katinsky im Schlaf zu überraschen. Zu dieser Stunde geweckt zu werden, würde Erinnerungen wachrufen und ihn für Fragen zugänglich machen.
Die Tür war ebenso wie die von Slough House schwarz, massiv und verwittert, aber während Letztere seit Jahren nicht mehr geöffnet worden war, war diese hier täglich in Gebrauch. Die Zuhaltungen ächzten nicht, als Lamb einen Dietrich ins Schlüsselloch schob, die Angeln quietschten nicht, als er die Tür behutsam öffnete. Einmal drinnen, wartete er eine volle Minute lang, bis er sich an die Dunkelheit und den Atem des Gebäudes gewöhnt hatte, bevor er die Treppe in Angriff nahm.
Man konnte oft beobachten, dass sich Lamb lautlos bewegen konnte, wenn er es so wollte. Min Harper hatte spekuliert, das könne er nur auf heimischem Terrain, da Lamb jedes Knarren und Wippen von Slough House kannte, vor allem das der lauteren Treppenstufen, die erst unter seinem Gewicht nachgegeben hatten. Doch Harper war tot, also was wusste er schon? Lamb schlich lautlos nach oben und hielt an der Tür der Akademie scheinbar kaum lange genug inne, um durch ihr Milchglasfenster zu blinzeln, doch die Pause reichte ihm längst, um sich Eintritt zu verschaffen. Er schloss die Tür hinter sich genauso leise, wie er sie geöffnet hatte.
Wieder blieb er einen Moment lang stehen und wartete, bis sich die atmosphärische Störung, die durch sein Eintreten entstanden war, gelegt hatte, aber diese Vorsicht war überflüssig. Es war niemand da. Die Tür zum nächsten Büro war nur angelehnt, und dort war auch niemand. Das einzig Lebendige war Lamb selbst. Die Strahlen der Straßenlaterne drangen durch die Jalousien, und als sich seine Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, konnte er unter dem Schreibtisch die Form des noch zusammengeklappten Feldbetts erkennen. Die dünne Matratze, die um den Metallrahmen gefaltet war, glich dem Diagramm einer ungewöhnlichen Yogastellung.
Lamb trug keine Taschenlampe bei sich. Eine Taschenlampe in einem abgedunkelten Gebäude schrie förmlich »Einbruch«. Stattdessen schaltete er die Anglepoise-Lampe ein. Sie beleuchtete den Schreibtisch mit kaltem gelben Schein und bildete einen Lichtkreis im Raum. Alles sah genauso aus wie bei seinem letzten Besuch. Dieselben Bücherregale mit den gleichen dicken Katalogen; derselbe Papierkram, der sich auf dem Schreibtisch türmte. Lamb öffnete Schubladen und stöberte durch Papiere. Die meisten waren Rechnungen, aber es befand sich auch ein handgeschriebener Brief darunter, der aus einer eselsohrigen Mappe hervorschaute. Ausgerechnet ein Liebesbrief; nicht einmal ein expliziter, sondern voller Bedauern über den Abschied. Es schien, als hätte Nikolai es für angebracht gehalten, eine Affäre zu beenden. Weder die Tatsache, dass er dies getan hatte, noch dass er sich überhaupt auf eine Affäre eingelassen hatte, überraschte Lamb. Merkwürdig dagegen fand er, dass Katinsky den Brief praktisch offen hatte liegen lassen. Da brauchte jemand nur einzubrechen und seinen Schreibtisch zu durchwühlen. Katinsky war noch nie ein Spieler gewesen – er war ein Chif‌frierer, einer von vielen, und vor seinem Überlaufen ein praktisch Unbekannter im Regent’s Park – aber trotzdem hätte ihn das Geheimdienstleben die Moskauer Regeln lehren müssen, und diese sollten jederzeit beherzigt werden.
Lamb steckte den Brief zurück. Inspizierte einen Terminkalender. Für heute war nichts eingetragen. Auch der Rest des Jahres war ohne Vermerke: eine Reihe von leeren Tagen zog sich dahin. Lamb blätterte zurück und fand Anmerkungen: kurze Erinnerungen, Initialen, Zeiten und Orte. Er legte den Kalender wieder hin. In dem kleinen angrenzenden Büro befand sich ein Aktenschrank, der Kleidung enthielt; in einem Becher auf einem Regal ein Rasiermesser und eine Zahnbürste. Ein Hemd hing an der Rückseite der Tür. Eine blaue Kühlbox in einer Ecke enthielt Schalen mit Oliven und Hummus, Schinkenscheiben und ein Stück schimmliges Brot. In einem Schrank fand er einen Vorrat an leeren Tablettenbehältern, keiner mit Rezeptetikett. »Xemof‌lavin« stand auf einem. Lamb ließ ihn in eine seiner Taschen gleiten und überprüfte dann noch einmal den kleinen Raum. Katinski lebte hier. Er war nur gerade nicht da.
Lamb schaltete die Lampe aus, schloss die Tür hinter sich und ging.