13
London schlief, wenn auch unruhig, jedes zweite Auge war weit geöffnet. Das Lichtband oben auf dem Telecom Tower entfaltete sich wieder und wieder, Ampeln sprangen in gleichbleibender Sequenz um, und die elektronischen Werbetafeln an den Bushaltestellen rotierten und stoppten, rotierten und stoppten und machten die geistesabwesenden Fahrgäste auf unschlagbare Hypothekenangebote aufmerksam. Es waren weniger Autos unterwegs als tagsüber, aus denen lautere Musik dröhnte, und die pulsierenden Bässe in ihrem Hecksog wummerten ihnen noch lange nach. Aus dem Zoo ertönten dumpfe Schreie und gedämpftes Knurren. Und auf einem von Baumschatten verdunkelten Bürgersteig lehnte ein Mann am Geländer und rauchte. Die Glut am Ende seiner Zigarette leuchtete im Rhythmus seiner Atemzüge hell auf, als wäre auch er Teil des Herzschlags der Stadt und führte in immerwährender Wiederholung dieselben kleinen Bewegungen durch, die ganze Nacht lang.
Unsichtbare Augen beobachteten ihn. Dieser Abschnitt des Bürgersteigs blieb nie unbeachtet. Merkwürdig, dass er so lange ungestört dort hatte stehen dürfen. Eine halbe Stunde kroch langsam dahin, bevor endlich ein Auto auftauchte und anhielt. Der Fahrer sprach durch das heruntergelassene Fenster. Er klang müde, obwohl dies vielleicht weniger mit der späten Stunde als mit dem Mann zu tun hatte, mit dem er gezwungenermaßen reden musste.
»Jackson Lamb«, sagte er.
Lamb warf seine Zigarette über das Geländer. »Hast dir Zeit gelassen«, antwortete er.
Als River wieder zu sich kam, starrte er in den Himmel, und der Boden rollte unter ihm dahin. Er lag auf einem Wagen. Zweifellos dem, den er im Hangar gesehen hatte. Ja, er war darauf gefesselt, mit derselben Wäscheleine, festgezurrt wie Gulliver: Handgelenke, Knöchel, über die Brust, über den Hals. In seinem Mund steckte ein zusammengeknülltes Taschentuch, das mit Klebeband an seinem Platz gehalten wurde.
Tommy Moult schob den Wagen.
»Taser«, sagte er. »Falls es dich interessiert.«
River wölbte den Rücken und krümmte die Handgelenke, aber die Leine hielt. Was nachgab, war seine Haut.
»Du könntest einfach still liegen bleiben«, schlug Moult vor. »Oder willst du noch eine Ladung aus dem Taser haben? Ich habe keine Kartuschen mehr, aber ich könnte dir eine im Kontaktmodus verpassen. Tut ziemlich weh.«
River hielt still.
»Es liegt an dir.«
Der einzige Name, der nicht auf Catherines Liste stand, war Tommy Moult. Er hatte sich seltsamerweise gar nicht darüber gewundert, warum sich Moult an einem Dienstagabend hier herumtrieb, obwohl er sich normalerweise nur am Wochenende blicken ließ.
Ein Rad schlug gegen einen Stein, und wenn River nicht festgebunden gewesen wäre, wäre er hinuntergeschleudert worden. Die Wäscheleine schnitt ihm in den Hals, und er stieß ein undefinierbares Geräusch aus: Schmerz, Wut, Frustration, alles gedämpft durch den Knebel in seinem Mund.
»Hoppla.« Moult hörte auf zu schieben und wischte sich die Hände an der Hose ab. Er sagte noch etwas, das aber der Wind davonwehte.
River verdrehte den Kopf, um den Druck auf seinen Hals zu verringern. Er war weniger als einen Meter vom Boden entfernt. Alles, was er sehen konnte, war schwarzes Gras.
Und er dachte wieder daran, was er im Hangar gefunden hatte, auf dem Wagen gestapelt, an den er jetzt gefesselt war. Was bedeutete, dass es nicht mehr auf dem Wagen lag.
Er nahm an, dass es sich stattdessen im Flugzeug befand.
Sie saßen im Auto. Auf Nick Duf‌fys Wange zeichnete sich eine Kissenfalte ab. »Was hast du denn gedacht?«, fragte er. »Es ist zwei Uhr morgens, und du stehst vor der Haustür von Regent’s Park, rauchst wie ein Verrückter und drehst Däumchen. Du hast Glück, dass niemand die Vollstrecker rausgeschickt hat.«
Die Vollstrecker waren die Jungs in Schwarz, die auftauchten, kurz bevor es heftig wurde.
»Ich habe eine Zugangserlaubnis«, betonte Lamb.
»Nur mit der Maßgabe, dass du niemals versuchst, sie zu benutzen«, erwiderte Duf‌fy. »Und ich werde aus dem Bett gejagt, weil die Kollegen bei der Bereitschaft Angst haben, dass du den Laden stürmst. Die können sich alle noch an deine Bombendrohung vom letzten Jahr erinnern.«
Lamb nickte selbstgefällig. »Gut zu wissen, dass man mich nicht vergessen hat.«
»Oh, du hast bleibende Erinnerungen hinterlassen. Wie Herpes.« Duf‌fy wies mit einem Nicken auf das nahe gelegene Gebäude. »Du kommst auf keinen Fall rein, also, was immer du willst, pack es in ein Memo. Lady Di wird begeistert sein. Und jetzt, weil ich ja zu den Guten gehöre, bringe ich dich zum nächsten Taxistand. Aber nur, wenn er auf meinem Heimweg liegt.«
Lamb klatschte einmal, zweimal, dreimal in die Hände. Dann noch einmal, und dann noch ein paarmal mehr. Er zog es so lange durch, bis jeglichem Humor in der Geste längst die Luft ausgegangen war, und erst dann sagte er: »Oh, tut mir leid. Warst du fertig?«
»Verpiss dich, Jackson.«
»Vielleicht später. Nachdem du mich in den Park gebracht hast.«
»Hast du mir eigentlich zugehört?«
»Aber ja, ganz genau. Weißt du, wir könnten das auf deine Weise machen, aber dann müsste ich vom Taxistand aus zurücklaufen und etwas weniger subtil vorgehen. Was bedeutet, dass es einen Aufstand gibt und ganz nebenbei deine Karriere den Bach runtergeht.« Er zog seine Zigarettenschachtel heraus, starrte ins leere Innere und warf sie dann auf den Rücksitz. »Es liegt an dir, Nick. Ich habe schon seit Monaten niemandem mehr die Karriere versaut. Es macht Spaß, nur der Papierkram ist lästig.«
Duf‌fy blickte nach vorn auf die Straße, als fahre er das Auto und die Strecke vor ihm drohe, kompliziert zu werden.
»Wenn du nicht schon wüsstest, dass du Mist gebaut hast, wären wir jetzt auf dem Weg.« Lamb streckte die Hand aus und tätschelte Duf‌fys Hand, die umso weißer geworden war, je mehr sich sein Griff um das Lenkrad verkrampfte. »Wir machen alle mal einen Fehler, mein Sohn. Dein letzter war, Rebecca Mitchell einen Freifahrtschein zu erteilen, ohne sie richtig in die Zange zu nehmen.«
»Sie war sauber.«
»Ja, du hast sie als Jungfrau dargestellt. Das mag sie ja sein, war sie aber früher nicht. Nicht damals, als sie Flaschendrehen mit zwei netten Herrn aus – woher kamen die noch mal? – ach ja, Russland gespielt hat. Und diese Dame mäht zufällig Min Harper um, der ein Paar Gorillas beschattet hat, und zufällig sind die gerade zu Besuch bei uns aus – woher war das noch mal? Möchtest du wirklich, dass ich die Leerstellen ausfülle?«
»Taverner war mit dem Bericht zufrieden.«
»Und ich bin mir sicher, dass sie es auch weiterhin sein wird. Bis ihn jemand ans Licht hält und auf die Macken hinweist.«
»Kapierst du das nicht, Lamb? Sie – war – zufrieden – damit.« Bei jedem Wort schlug er auf das Lenkrad. »Sie hat mir aufgetragen, eine Schleife drumzubinden und ihn abzuheften. Du legst dich also nicht mit mir an, sondern mit ihr. Viel Glück dabei.«
»Werd erwachsen, Nick! Was auch immer sie befohlen hat, du bist derjenige, der es ausgeführt hat. Also, wenn jemand den Wölfen zum Fraß vorgeworfen wird, dann rate mal, wer.«
Einen Moment lang saßen sie schweigend da. Duf‌fy hämmerte immer noch unausgesprochene Worte auf das Lenkrad. Dann wurde das Klopfen unregelmäßig, stockte und hörte auf, als würden die Worte in seinem Geist versiegen. »Verdammt!«, sagte er schließlich. »Mein Fehler war es, nach Mitternacht ans Telefon zu gehen.«
»Nein«, erwiderte Lamb. »Dein Fehler war zu vergessen, dass Min Harper einer von meinen Leuten war.«
Sie stiegen aus und machten sich auf den Weg nach Regent’s Park.
Lange bevor die Reise zu Ende war, schrie jeder Nerv in Rivers Körper nach Entspannung. Er fühlte sich wie ein Tamburin, das im Rhythmus von jemand anderem rasselte.
Moult sah ebenfalls aus wie durch die Mangel gedreht. Alle fünf Minuten musste er anhalten und sich ausruhen. Vorhin auf dem Weg zum Clubhaus hatten sie sich vor einer Patrouille verbergen müssen. Diesmal passierte nichts. Moult kannte den Zeitplan, das war klar. Wer auch immer er war, er wusste, was er tat.
Wohin sie unterwegs waren, behielt er für sich.
Als er das nächste Mal stehen blieb, kratzte er sich durch die Mütze den Kopf, und alles verrutschte, als wäre sein Kopf in Schieflage geraten. Er erhaschte Rivers Blick und grinste boshaft.
»Wir sind gleich da.«
»Ins Archiv.«
Duf‌fy sah im Inneren des Gebäudes blasser aus, und seine Mimik war angespannt, als ob er demnächst platzen und zu einem leeren, wütenden Beutel schrumpfen würde. »Ins Archiv«, wiederholte er.
»Das ist immer noch unten, oder?«
Duf‌fy rammte den Finger gegen den Aufzugknopf, als wäre er Lambs Kehle. »Ich dachte, dein Computernerd Ho arbeitet an einem Archiv.«
»Tja, aber er hat vielleicht nicht so viel getan, wie er gerne vorgibt.«
Einige Stockwerke tiefer – aber noch einige Stockwerke über den untersten – betraten sie einen blau beleuchteten Korridor. Am hinteren Ende stand eine Tür offen, und das Licht, das durch die Öffnung fiel, war wärmer, bibliothekarischer. Zum Teil wurde es von einer sitzenden, seltsam quadratischen Gestalt abgeschirmt: einer Frau in einem Rollstuhl, ziemlich rundlich, mit buschigem, kurzem grauen Haar und einem Gesicht, das fast clownesk weiß gepudert war. Als sie sich näherten, verwandelte sich das Misstrauen in ihrem Blick in Freude, und als die beiden Männer sie erreichten, breitete sie die Arme aus.
Lamb beugte sich zu ihr hinunter, um sie zu umarmen, während Nick Duf‌fy zusah, als wäre er Zeuge einer UFO -Landung.
»Molly Doran«, sagte Lamb, als die Frau ihn aus ihrer Umarmung entließ. »Du siehst nicht einen Tag älter aus.«
»Einer von uns muss ja in Form bleiben«, erwiderte sie. »Du hast zugenommen, Jackson. Und in dem Mantel siehst du aus wie ein Landstreicher.«
»Ich habe ihn neu gekauft!«
»Wann?«
»Nachdem wir uns das letzte Mal gesehen haben.«
»Das war vor fünfzehn Jahren.« Sie ließ seine Hände los und sah Duf‌fy an.
»Nicholas«, sagte sie freundlich. »Los, verpiss dich. Ich dulde keine Dogs in meiner Abteilung.«
»Wir können gehen, wohin wir wollen.«
»O nein.« Sie drohte ihm mit ihrem kurzen, dicken Zeigefinger. »Ich – dulde – keine – Dogs – in – meiner – Abteilung.«
»Er wollte gerade gehen, Molly«, versicherte ihr Lamb und fuhr an Duf‌fy gewandt fort: »Du findest mich hier.«
»Aber es ist mitten in der –«
»Ich warte auf dich.«
Duf‌fy starrte ihn an und schüttelte den Kopf. »Er hat mich immer vor dir gewarnt. Sam Chapman.«
»Er hatte auch das eine oder andere über dich zu sagen«, entgegnete Lamb. »Nachdem er Rebecca Mitchell gründlich überprüft hatte. Hier.« Er zog den Tablettenbehälter hervor, den er aus Katinskys Büro mitgenommen hatte. »Lass das analysieren, wenn du schon mal da bist.«
Was immer Duf‌fy erwiderte, ging unter, als sich die Aufzugstüren schlossen.
Lamb wandte sich an Molly Doran. »Warum haben sie dich zur Nachtschicht eingeteilt?«
»Damit ich die jungen Leute nicht vergraule. Sie werfen einen Blick auf mich, sehen ihre Zukunft und verziehen sich schnellstens in die Stadtverwaltung.«
»So was Ähnliches hab ich mir gedacht.«
Ihr Rollstuhl, kirschrot mit dick gepolsterten Samtarmstützen, hatte den Wendekreis eines Doughnuts. Sie drehte ihn auf der Stelle und fuhr Lamb voraus in einen langgestreckten Raum mit hohen Schränken, die auf Schienen standen wie Straßenbahnwaggons, so dass sie bei Nichtgebrauch zusammengeschoben werden konnten: eine riesige Akkordeonstruktur. Jede Reihe enthielt Akten über Akten mit verstaubten Informationen, einige davon so alt, dass der Letzte, der sie konsultiert hatte, längst selbst zu Staub zerfallen war. Hier verbargen sich die alten Geheimnisse von Regent’s Park. Wobei das alles natürlich auf Stecknadelkopfgröße geschrumpft hätte aufbewahrt werden können, wenn es die Mittel gegeben hätte, es in diese Form zu komprimieren.
Im Obergeschoss regierten die Königinnen der Datenbank ihr digitales Universum. Hier unten war Molly Doran die Bewahrerin der nicht nachdigitalisierten und daher übersehenen Geschichte.
Mollys Schreibtisch stand in einer Abstellkammer. Seitlich wartete ein dreibeiniger Hocker, aber der Platz davor blieb frei für Mollys Rollstuhl. »Aha. Hier bist du also gelandet.«
»Als ob du das nicht wüsstest.«
»Kontaktpflege war nie meine Stärke. Hab’s nicht so mit anderen Menschen.«
»Ich glaube, keiner von uns beiden ist aus diesem Holz geschnitzt, Jackson.« Sie rollte an ihren gewohnten Platz. »Setz dich. Er wird dein Gewicht schon aushalten.«
Lamb ließ sich auf dem Hocker nieder und starrte ihren gepolsterten Rolli an. »Für manche passt es.«
Sie lachte auf, überraschend glockenhell. »Du hast dich nicht verändert, Jackson.«
»Hab ich nie für nötig gehalten.«
»So viele Jahre undercover, in denen man vorgibt, jemand zu sein, der man nicht ist. Danach hat man wohl die Nase voll davon, so zu tun als ob.« Sie schüttelte den Kopf, als stiegen Erinnerungen in ihr auf. »Fünfzehn Jahre sind vergangen, und hier sitzt du. Also, was brauchst du?«
»Nikolai Katinsky.«
»Ein kleiner Fisch«, sagte Molly.
»Ja.«
»Chif‌frierer. Einer aus dem ganzen verdammten Schwarm, von dem wir uns in den neunzigern nicht trennen konnten.«
»Er hat ein Puzzlestück geliefert«, sagte Lamb. »Aber es hat nirgendwo reingepasst.«
»Kein Seitenteil. Keine Ecke. Nur ein Stückchen vom Himmel.« Mollys Gesichtsausdruck hatte sich verändert, jetzt, wo sie zum Wesentlichen gekommen waren. Ihre krass überschminkten Wangen strahlten rosig; ihre natürliche Farbe schimmerte durch. »Er behauptete, von den Cicadas gehört zu haben, diesem Phantomnetz, das von einem anderen Phantom aufgebaut wurde.«
»Alexander Popow.«
»Alexander Popow. Aber es schien alles nur eines dieser Spiele zu sein, mit denen sich die Moskauer Zentrale amüsierte, bevor sich das Blatt wendete.«
Lamb nickte. Es war warm hier unten, und er fühlte sich allmählich verschwitzt. »Also, was haben wir über ihn?«
»Ist nichts in der Bestie?«
»Die Bestie« war Molly Dorans Sammelbegriff für die verschiedenen Datenbanken des Geheimdienstes: Sie weigerte sich, zwischen ihnen zu unterscheiden, mit der Begründung, dass es nach deren Absturz – der früher oder später kommen musste – sowieso keine Unterschiede geben würde. Nur ein schwarzer Bildschirm neben dem anderen. Und sie wäre diejenige, die die Kerze hielte.
»Nichts als nackte Informationen«, antwortete Lamb. »Und die Aufzeichnungen seines Debrief‌ings. Du weißt, wie es ist, Molly. Die jungen Leute glauben, ein zwanzigminütiges Video würde mehr sagen als tausend Worte. Aber wir wissen es besser, nicht wahr?«
»Willst du hier etwa Süßholz raspeln, Jackson Lamb?«
»Wenn’s sein muss.«
Sie lachte wieder, und das Geräusch flatterte zwischen die Regale wie ein Schmetterling. »Ich habe mir immer Gedanken über dich gemacht, weißt du. Und mich gefragt, ob du zur Gegenseite überlaufen würdest.«
Lamb verzog beleidigt das Gesicht. »Zum CIA
»Ich meinte, den Privatsektor.«
»Ha!« Er sah kurz an sich hinunter, auf sein fleckiges, heraushängendes Hemd, die abgenutzten Schuhe, den offenstehenden Hosenschlitz, und schien sich in diesem Augenblick der Selbsterkenntnis zu verlieren. »Ich nehme nicht an, dass ich mit offenen Armen empfangen würde.« Wobei es ihm nicht einfiel, den Reißverschluss zu schließen.
»Stimmt. Jetzt, wo du leibhaftig vor mir sitzt, sehe ich, dass meine Sorge unbegründet war.« Molly rollte rückwärts vom Schreibtisch weg. »Ich werde mal sehen, was wir so haben. Mach dich in der Zwischenzeit nützlich und setz Wasser auf.«
Im Davonfahren rief sie zurück: »Und wehe, du wagst es, dir eine Zigarette anzuzünden! Dann mach ich Vogelfutter aus dir!«
Sie waren immer noch da.
Hatte River geschlafen? War das möglich? Ein natürliches Betäubungsmittel musste ihn weggebeamt haben, als sein Körper sich weigerte, mehr Schmerzen zu erleiden. Verschiedene Alptraumszenen waren an ihm vorübergezogen. Darunter ein halbvergessenes Bild: die Seite aus Kelly Troppers Skizzenbuch mit einer stilisierten Stadtlandschaft, deren höchstes Gebäude von einem gezackten Blitz getroffen wurde.
Und jetzt waren sie wieder hier, und jeder Knochen in seinem Körper ächzte. Es sei denn, das Geräusch kam von dem Baum, als der Wind seine Äste schüttelte und sie über die zerstörten Wände des Trümmerhauses kratzen ließ.
»Home sweet home«, sagte Tommy Moult.
Lamb lutschte an einem Kugelschreiber, den er gefunden hatte, und blätterte durch Katinskys Akte. Es dauerte nicht lange. »Ist ja nicht gerade viel«, sagte er.
»Wenn er die Zikaden nicht erwähnt hätte«, erwiderte Molly, »hätte man ihn zurückgeschickt. Doch aufgrund dessen hat man ihn behalten und ihm die Grundversorgung eingeräumt. Die Ermittlungen haben ergeben, dass er derjenige war, für den er sich ausgab, und daraufhin hat man sich dickeren Fischen zugewandt.«
»Geboren in Minsk. Hat dort in der Transportverwaltung gearbeitet, bevor er von einem KGB -Talentscout rekrutiert wurde. Danach zweiundzwanzig Jahre in der Moskauer Zentrale.«
»Zum ersten Mal wurde er im Dezember vierundsiebzig erwähnt, als wir einen Dienstplan erhielten.«
»Aber wir haben nie etwas unternommen«, fuhr Lamb fort.
»Die Akte wäre dicker, wenn wir es getan hätten.«
»Seltsam. Man sollte meinen, wir hätten ihn uns wenigstens näher angesehen.«
Er legte die Akte auf Mollys Schreibtisch und starrte in die Dunkelheit des Archivs. Der Stift in seinem Mund hob sich langsam, wippte nach unten und ging wieder hoch. Lamb schien sich dessen nicht bewusst zu sein, und er bemerkte auch nicht, dass er mit einer Hand in den offenen Hosenschlitz fuhr und sich kratzte.
Molly Doran trank in kleinen Schlucken ihren Tee.
»Okay«, sagte Lamb schließlich. Es war still im Archiv, und es wurde noch stiller, als Molly den Atem anhielt. »Was, wenn er kein kleiner Fisch ist? Was, wenn er ein großer Fisch ist, der vorgibt, ein kleiner zu sein? Wie hätte das funktionieren können, Molly?«
»Das wäre ganz schön merkwürdig. Warum sollte jemand sein Licht unter den Scheffel stellen? Und riskieren, mit dem Ausschuss zusammen zurückgeschickt zu werden?«
»Ja, seltsam«, stimmte Lamb zu. »Aber wäre es durchführbar gewesen?«
»Einen Chif‌frierer zu spielen? Ja. Es wäre möglich gewesen. Wenn er ein großer Fisch war, hätte er es tun können.«
Sie wechselten einen Blick.
»Du glaubst, dass er einer der Vermissten ist, stimmt’s?«, fragte Molly. »Einer von denen, die wir beim Zusammenbruch der U dSSR aus den Augen verloren haben.«
Und von denen es mehr als nur ein paar gab. Einige waren wahrscheinlich als Leichen irgendwo verscharrt worden, andere, so vermutete man, hatten sich neu erfunden und erfreuten sich bis heute in verschiedener Gestalt bester Gesundheit.
»Möglich. Er könnte eins dieser Kremlhirne gewesen sein, die uns so viel Ärger gemacht haben. Der rauswollte, nachdem der Krieg verloren war, aber keine Lust hatte, für den Rest seines Lebens von den Gewinnern gepiesackt zu werden.«
Molly sagte: »Es hätte bedeutet, diesen Namen schon Jahre im Voraus auf den Dienstplan zu setzen. Er konnte nicht mal sicher sein, ob wir ihn überhaupt sehen würden.« Sie hielt plötzlich inne. »Oh …«
»Genau«, stimmte Lamb zu. »Oh. Hast du irgendeine Ahnung, wie wir die Informationen in die Hände bekommen haben?«
»Ich könnte das überprüfen«, sagte Molly zögernd. »Möglicherweise.«
Er schüttelte den Kopf. »Das hat keine Priorität. Nicht im Moment.«
»Trotzdem bleibe ich dabei. Er hätte es schon viele Jahre vorher tun müssen, bevor er überhaupt wusste, dass es nötig für ihn sein würde. Dezember vierundsiebzig? Da hat niemand das Ende kommen sehen. Nicht so weit im Voraus.«
»Man musste es nicht kommen sehen«, erwiderte Lamb. »Man brauchte nur zu wissen, dass es möglich war.« Er sah den Kugelschreiber in seiner Hand an, als er sich einmal mehr fragte, wie er dorthin geraten war. »Nichts ist einem Agenten im Einsatz lieber, als seinen Abgang gut gesichert zu wissen.«
»Aber das war noch nicht alles, oder? Ich sehe es dir doch an.«
»Allerdings«, sagte er. »Das war noch nicht alles.«
Tommy Moults Atmung hatte sich wieder normalisiert. Er hatte den Wagen über den Schutt gerollt, der einst der Boden des Hauses gewesen war, eine knochenzermürbende Strecke für River, der allmählich spürte, wie sich seine Zähne lockerten. Er zitterte immer noch, auch nachdem sie längst angehalten hatten. Seine Haut brannte an den Stellen, an denen seine Fesseln einschnitten, und sein Puls pochte ihm in den Ohren. Was ihn noch zusammenhielt, war Zorn; Wut auf sich selbst, weil er zwei Mal in einer Nacht so dämlich gewesen war. Und weil ihm dämmerte, was Moult vorhatte, aber es nicht glauben konnte, obwohl es ihm irgendwie klar war.
Moult riss ihm das Klebeband vom Mund und zog das Taschentuch heraus. River atmete in tiefen Zügen die Nachtluft ein, um den Sauerstoffmangel von zuvor wettzumachen. Er inhalierte so tief, dass er fast würgte. Moult sagte: »Das hast du gebraucht.«
River versuchte zu sprechen. »Was. Machen Sie da. Verdammt noch mal?«
»Ich glaube, das weißt du bereits, Walker. Jonathan Walker, ja? Ein etwas ausgelutschter Name.«
»So heiße ich eben.«
»Quatsch. Den Namen hat sich Jackson Lamb ausgedacht. Aber du wirst ihn nicht mehr lange brauchen.«
Er kannte Lamb; er wusste, dass River ein Agent war. Es hatte wenig Sinn, ihm etwas vorzumachen. River sagte: »Ich sollte mich melden. Schon vor einer Stunde. Man wird nach mir suchen.«
»Wirklich? Ein verpasster Anruf, und schon schicken sie die Küstenwache?« Moult streifte seine rote Mütze ab. Zugleich verschwanden seine Haare, die weißen Büschel, die unten rausgeschaut hatten. Er war glatzköpfig, oder jedenfalls beinahe, bis auf einen Ring von Stoppeln oberhalb der Ohren. »Wenn du dich morgen nicht meldest, machen die sich vielleicht allmählich Gedanken. Aber bis dahin werden sie andere Sorgen haben.«
»Ich habe gesehen, was auf dem Wagen gelegen hat, Moult.«
»Schön. Dann hast du ja was zum Nachdenken.«
»Moult?«
Aber Moult war aus Rivers Blickfeld verschwunden, und er hörte nichts außer Schritten auf unwegsamem Boden.
»Moult!«
Dann war alles still. So vorsichtig er konnte, hob River wieder den Kopf zum Himmel. Er atmete tief durch, brüllte laut und wölbte gleichzeitig den Rücken, als wollte die Wut zugleich aus seinem Bauch entkommen. Der Wagen klapperte, aber die Wäscheleine schnitt noch tiefer ein, und Rivers Brüllen wurde zu einem Schrei, der in die Äste über ihm aufstieg und heulend von den zerbröckelnden Wänden um ihn herum widerhallte. Als er schwieg, war er immer noch gefesselt, rücklings auf einem Plattformwagen in der Dunkelheit. An ein Entkommen war nicht zu denken, und es war niemand in der Nähe, der ihn hörte.
Und ihm wurde bewusst, dass die Zeit knapp wurde.
Hinter dem Puder, der so dick aufgetragen war wie Butter auf dem Brot, verzog Molly Doran keine Miene. Auch nachdem Lamb fertig war, schwieg sie gut eine Minute lang. Dann sagte sie: »Du glaubst also, dass er es war. Katinsky. Dass er damals Dickie Bow entführt hat.«
»Genau.«
»Und dass er all die Jahre darauf gewartet hat, seinen zweiten Schachzug durchzuführen.«
»Nein. Sein damaliger Plan, wie immer der auch aussah, wurde durch das Ende des Kalten Krieges obsolet. Nein, er hat jetzt etwas anderes vor. Aber Dickie Bow kam ihm sehr gelegen.«
»Und die Cicadas ? Gibt es die auch wirklich?«
»Die beste Tarnung für Mitglieder eines Netzwerks ist, wenn die Gegenseite sie für Gespenster hält. Niemand hat nach Alexander Popows Zelle gesucht, weil wir alle sie für eine Legende hielten. Genau wie Popow selbst.«
»Der eine Erfindung Katinskys war.«
»Ja. Was faktisch bedeutet«, sagte Lamb, »dass er es ist. Nikolai Katinsky ist Alexander Popow.«
»Großer Gott, Jackson! Du hast das Gespenst aufgescheucht, stimmt’s?«
Lamb lehnte sich zurück. Im weichen Licht sah er jünger aus, möglicherweise, weil er die alten Geschichten wieder aufleben ließ.
Molly ließ ihn ungestört nachdenken. Die Schatten über den Stapeln waren länger geworden, hier in diesem sonnenlosen Keller, aber die Erfahrung sagte ihr, dass es nur ihr Verstand war, der ihr Streiche spielte und ihre Umgebung an die Rhythmen eines normalen Tages anpasste. Draußen brach langsam der Morgen herein. Regent’s Park, das niemals richtig schlief, würde bald seine Nachtschwärmer abschütteln, dieses Spinnenkrabbeln, das sich in Gebäuden breitmacht, wenn sie dunkel sind. Die Tagschicht wäre schockiert gewesen, von ihrer Existenz zu erfahren.
Als Lamb sich rührte, stupste sie ihn mit einer Frage an. »Also, was hat er vor? Popow?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nicht, was, und ich weiß nicht, warum jetzt.«
»Oder warum er sein Netzwerk in Upshott zusammengezogen hat.«
»Das auch nicht.«
»Tote Löwen«, sagte Molly.
»Was ist damit?«
»Das ist ein Kindergeburtstagsspiel. Man muss so tun, als wäre man tot. Man muss still liegen bleiben und darf sich nicht mucksen.«
»Und was passiert, wenn das Spiel vorbei ist?«, fragte Lamb.
»Tja«, sagte sie. »Ich nehme an, dann ist die Hölle los.«
Sein Handy steckte in seiner Tasche.
Dieses Wissen war in dem Moment genauso nützlich wie das über die Paarungsgewohnheiten von Pinguinen: teils tröstlich, teils rätselhaft, aber ohne konkreten praktischen Nutzen. Das Rätsel war, warum Moult es nicht an sich genommen hatte. Aber das spielte im Grunde keine Rolle, denn es hätte genauso gut an einem Ast des Baumes über ihm hängen können.
Er hatte aufgehört, sich gegen seine Fesseln zu wehren, denn damit fügte er sich nur Schmerzen zu. Stattdessen ging er alles durch, was er über Moults Pläne wusste oder zu wissen glaubte, und sosehr er sich auch das Gehirn zermarterte, er kehrte immer wieder an den gleichen Punkt zurück: die Düngemittelsäcke, die er gefunden hatte, gestapelt auf dem Wagen im Hangar.
Warum hatte Moult ihn überhaupt dorthin geführt, wenn er Geheimnisse enthielt, die er lieber für sich behalten wollte? Und wenn Catherines Informationen korrekt waren und der Ort mit sowjetischen Schläfern durchsetzt war, wie passte Moult da eigentlich hinein? Doch als der Himmel allmählich heller wurde, rückten diese Fragen in den Hintergrund, und das Bild der Säcke mit Kunstdünger trat an ihre Stelle.
Düngemittel, das sich unter den richtigen Bedingungen genau wie eine Bombe verhielt.
Und das River zuletzt neben einem Flugzeug aufgestapelt gesehen hatte wie Gepäck.
Lamb ging hinaus, um eine zu rauchen, doch auf dem Bürgersteig fiel ihm ein, dass die Schachtel vorhin schon leer gewesen war, also ging er zur U-Bahn und kaufte sich ein Päckchen im 24-Stunden-Kiosk. Als er zu Regent’s Park zurückging, zündete er sich die zweite Zigarette an der Kippe der ersten an und blickte in den immer heller werdenden Himmel hinauf. Der Verkehr war inzwischen ein konstantes Rauschen. So begannen die Tage jetzt; als allmähliche Intensivierung von Geräuschen. Als er jünger war, hatten sie wie auf einen Glockenschlag angefangen.
Nick Duf‌fy tauchte wieder auf, genau wie vorhin. Er stieg aus einem parkenden Auto und gesellte sich zu Lamb auf dem Bürgersteig.
»Du rauchst zu viel«, sagte er.
»Wie viel ist zu viel? Verrat du’s mir.«
Auf der anderen Straßenseite regten sich die Bäume, als würden sie von Alpträumen geplagt. Duf‌fy rieb sich das Kinn. Die Knöchel seiner Hand waren rotgescheuert.
Er sagte: »Sie erhält jeden Monat einen Scheck. Und ab und zu einen kleinen Auftrag. Bereitstellung von Unterkunft und Verpflegung für jemanden, der unter dem Radar fliegt. Manchmal dient sie als Briefkasten oder Anrufbeantworter. Alles unwichtiger Kleinscheiß, wie sie sich ausgedrückt hat.«
»Bis Min Harper kam.«
»Der Anruf kam spät. Sie weiß nicht, wer es war. Hat den Code verwendet, auf den sie reagiert. Kommen Sie mit dem Auto in die Tiefgarage hinter der Edgware Road.« Duf‌fy war in den Telegrammstil verfallen, um sich unnötige Worte zu ersparen. »Zwei von ihnen mit, in ihren Worten, einem betrunkenen Typen, den sie anschleppten.«
»Hatte sie sie schon mal gesehen?«
»Nein, behauptet sie.«
Er schwieg für einen Moment. Dann erzählte er Lamb, was Rebecca Mitchell ihm schließlich gestanden hatte: dass einer der beiden Min Harpers Kopf gegen den Betonboden der Garage geschlagen hatte, während der andere Rebecca Mitchells Auto zurücksetzte. Der nächste Schritt war ein Kinderspiel: Sie hievten den Mann aufs Fahrrad und fuhren mit dem Auto in ihn hinein. Nachdem sie sichergestellt hatten, dass sein Hals gebrochen war, hatten sie Fahrrad und Leiche in ihr eigenes Auto geladen und die Szene woandershin verlagert.
Als er fertig war, stand Duf‌fy da und starrte die Bäume an, als vermute er, dass ihr Rascheln eine geheime Unterhaltung war und dass sie über ihn redeten.
Lamb sagte: »Ihr hättet es merken müssen.«
»Sie haben Fotos gemacht. Sie haben die Leiche und das Fahrrad genau so hingelegt, wie sie in der Tiefgarage gefallen waren.«
»Ihr hättet es trotzdem merken müssen.« Lamb warf seine Zigarette weg, dass die Funken sprühten. »Du hast schlampig gearbeitet.«
»Dafür gibt es keine Entschuldigung.«
»Da hast du verdammt noch mal recht.« Lamb wischte sich mit der Rechten über das Gesicht. Sie roch nach Tabak. »Hat sie freiwillig geredet?«
»Nicht wirklich.«
Lamb grunzte.
Nach einer Weile sagte Duf‌fy: »Er muss etwas gesehen haben, was er nicht sehen sollte.«
Oder jemanden, dachte Lamb. Er grunzte wieder und betrat dann durch die große Tür wieder das Gebäude.
Als er diesmal aus dem Aufzug stieg, wurde er von einem aufgeschossenen Jungen empfangen, der ein Sweatshirt mit dem Aufdruck »Property of Alcatraz« und eine dicke schwarze Brille trug. »Sind Sie Jackson Lamb?«, fragte er.
»Was hat mich verraten?«
»Der Mantel, hauptsächlich.« Der junge Mann schüttelte das Pillenfläschchen, das Lamb Duf‌fy vorhin gegeben hatte. »Sie wollten wissen, was das ist.«
»Ja. Und?«
»Es heißt Xemof‌lavin.«
»Stimmt. Ich hätte daran denken sollen, das Etikett zu lesen.«
»Grundlagenforschungsmethode«, sagte der Junge. »Trotz des tollen Namens ist nicht viel drin. Hauptsächlich Aspirin in einer Zuckerhülle. Orange, falls das irgendwie eine Rolle spielt.«
»Lassen Sie mich raten«, sagte Lamb. »Man kann es im Internet kaufen.«
»Bingo.«
»Als Heilmittel für?«
»Leberkrebs«, sagte der Junge. »Wirkt aber nicht.«
»So eine Überraschung.«
Der junge Mann ließ die Flasche in Lambs offene Hand fallen, schob seine Brille hoch und betrat den Lift, den Lamb gerade verlassen hatte.
Mit geschürzten Lippen spazierte Lamb zurück in Molly Dorans Reich.
Sie hatte sich noch mehr Tee gekocht und saß mit der Tasse in der Hand in ihrer Abstellkammer. Dampf stieg in dünnen Spiralen auf und verschwand im Dunkel oberhalb.
Lamb sagte: »Ich habe sein Tagebuch gelesen, habe ich dir das schon erzählt? Er hatte keine Pläne für die Zukunft.«
Molly trank einen Schluck Tee.
»Und er hat sich von der Frau getrennt, mit der er zusammen war.«
Molly stellte ihre Tasse auf den Tisch.
»Und er nimmt ein Quacksalbermittel gegen Krebs.«
Molly seufzte: »O je.«
»Genau«, sagte Lamb. Er ließ die Pillenflasche in den Papierkorb fallen. »Was auch immer er vorhat, zumindest wissen wir jetzt, warum. Er stirbt. Und das ist sein letzter Coup.«