14
Morgen. Licht. Überraschend hell drang es durch die Gardinen, aber es war in letzter Zeit tatsächlich sonnig und warm für diese Jahreszeit gewesen. Sommer im April, voller falscher Versprechungen. Ehe man sich’s versah, würden die Temperaturen wieder fallen.
Louisa erwachte nicht direkt, sondern stellte eher fest, dass sie schon seit einiger Zeit wach war. Die Augen offen, der Verstand rege. Keine besonders zusammenhängenden Gedanken; nur kleine mentale Post-its der täglichen Aufgaben, angefangen mit Aufstehen, Duschen, Kaffeetrinken. Dann Wichtigeres: die Wohnung verlassen, Marcus treffen, Paschkin einsammeln. Alles andere – wie gestern Abend – war nur eine schwarze Masse, die im Hintergrund brodelte und so lange wie möglich ignoriert werden sollte wie Wolken an einem sonnigen, aber wechselhaften Tag.
Sie stand auf, duschte, zog sich an, trank Kaffee. Dann verließ sie die Wohnung, um sich mit Marcus zu treffen.
Catherine war so früh wieder in Slough House, dass es sich anfühlte, als wäre sie gar nicht weg gewesen, aber auf ihrem Weg durch die Stadt spürte sie die merkliche Spannung. Die U-Bahn war voller Leute, die sich miteinander unterhielten. Einige trugen Plakate – STOPPT DIE CITY war der häufigste Slogan. Auf anderen stand: BANKER : NEIN . An der Haltestelle Barbican zündete sich jemand eine Zigarette an. Anarchie lag in der Luft. Heute würde es Scherben geben.
Doch so früh sie auch dran war, Roderick Ho war ihr zuvorgekommen. Das war nicht ungewöhnlich – oft schien es, als würde Ho in Slough House wohnen, wie sie vermutete, weil er seine Online-Aktivitäten lieber von einer Service-Adresse aus durchführte –, aber anders als sonst hatte er gearbeitet. Als sie an seiner offenen Tür vorbeikam, blickte er auf. »Ich habe etwas gefunden«, sagte er.
»Diese Liste, die ich dir gegeben habe?«
»Die Leute von Upshott.« Er wedelte mit einem Ausdruck. »Jedenfalls drei von ihnen. Ich habe sie bis zum Anschlag zurückverfolgt. Natürlich sind sie bis über beide Ohren bürokratisch gedeckt, aber das frühe Zeug ist alles nur Schuh ohne Fußabdruck.«
»Ist das einer dieser Internetausdrücke?«
Ho lächelte plötzlich. Das war noch seltsamer als Leute, die in der U-Bahn plauderten. »Ab jetzt, ja.«
»Und was heißt das?«
»Also, zum Beispiel Andrew Barnett. Laut seinem Lebenslauf besuchte er in den frühen sechziger Jahren das St.-Leonards-Gymnasium in Chester. Es ist jetzt eine Gesamtschule mit einer guten IT -Abteilung, und zu ihren Projekten gehört unter anderem, die Schulakten online zu stellen.«
»Und da ist er nicht zu finden«, ergänzte Catherine.
Ho schüttelte den Kopf. »Damals muss es eine sichere Sache gewesen sein. Die Typen konnten über ihre Kindheit und Jugend alle möglichen Dokumente ausstellen, die sie nur wollten. Aber das war vor dem Internet, und sie konnten nicht wissen, dass das Papier irgendwann fadenscheinig werden würde.«
Catherine sah den Ausdruck an. Neben Barnett hatte Ho auch Butterf‌ield und Salmon auseinandergenommen und ähnliche Lücken in ihrer Biographie gefunden. Und es musste noch mehr geben; sicher wiesen auch die übrigen Lebensläufe Macken auf. Dann stimmte es also. Eine sowjetische Schläferzelle hatte sich in einem kleinen englischen Kaff eingenistet. Vielleicht, weil sie keine Aufgabe mehr gehabt hatte. Oder aus einem anderen Grund, den man noch nicht herausgefunden hatte.
»Sehr gut, Roddy.«
»Ja.«
Vielleicht war sie zu viel mit Lamb zusammen, denn sie fügte hinzu: »Ist mal was anderes, als nur im Netz zu surfen.«
»Tja, kann sein.« Er schaute weg und wurde rot. »Bei diesem Archivscheiß bräuchte ich bloß mal eine Nacht durchzuarbeiten, dann könnte ich ihn in einer Sitzung beenden. Das hier ist wirklich etwas anderes.«
»Wirklich gute Arbeit«, sagte sie. »Danke.« Sie schaute auf die Uhr. Es war neun. Louisa und Marcus mussten jetzt unterwegs sein, um Arkadi Paschkin abzuholen. Was sie erinnerte zu fragen: »Hast du auch Paschkin überprüft?«
Und jetzt veränderte sich sein Gesichtsausdruck wieder, und Ho sah so aufgesetzt mürrisch aus wie immer. Das Leben mit Computern zu verbringen, verlängerte irgendwie die Adoleszenz. Wahrscheinlich gab es eine Studie darüber. Und wahrscheinlich fand man sie online. »Äh, ich hatte vielleicht ein bisschen was zu tun?«
»Natürlich. Aber bitte, hol es sofort nach.«
Es war schade, ihn ein wenig enttäuscht stehenzulassen, aber Roddy Ho hatte nun mal die Eigenheit, sich an sein eigenes Drehbuch zu halten.
Sie trafen sich um kurz nach neun in der Nähe des Hotels. Die U-Bahnen waren brechend voll, die Straßen verstopft, ein riesiges Polizeiaufgebot stand bereit, und überall hatten sich Kamerateams, Übertragungswagen und Gaffer postiert. Im Hyde Park versammelten sich Menschenmassen, und Gerüche von hundert verschiedenen Frühstücksvariationen wehten herüber. Instruktionen aus einem Lautsprecher: Dies ist eine angemeldete Kundgebung. Sie wird daher von der Polizei begleitet gingen in Musik und Stimmengewirr unter. Die Atmosphäre war von wachsender Aufregung geprägt, als warte die größte Party der Welt auf ihren DJ .
»Da ist wohl jemand auf Krawall gebürstet«, begrüßte sie Marcus. Er deutete hinüber zu einer Gruppe Zwanzigjähriger, die auf dem Weg in den Hyde Park waren und ein Spruchband mit FUCK THE BANKS über ihre Köpfe hielten.
»Das sind bloß verärgerte Bürger«, beschwichtigte ihn Louisa. »Sonst nichts. Bist du bereit?«
»Natürlich.« Heute trug er einen grauen Anzug, eine lachsrosa Krawatte, eine schicke Sonnenbrille: Er sah gut aus, stellte sie fest, nicht anders, als sie andere irrelevante Details bemerkte. »Und du?«
»Alles klar.«
»Sicher?«
»Hab ich doch gerade gesagt, oder?«
Sie bogen um die Ecke.
Er sagte: »Louisa, wegen dem, was ich gestern Abend gesagt habe …«
Sein Handy klingelte.
Man konnte es nicht als Schlaf bezeichnen. Eher war es Überlastung: Schmerz, Stress, alles polterte Hals über Kopf umeinander wie ein Streit, der in einer Waschmaschine gefangen war; immer und immer wieder, bis sein Rhythmus River aus dem Bewusstsein schaukelte und ihn in einen selbstgegrabenen Brunnen fallen ließ. In dieser kreisförmigen Dunkelheit knabberten immer dieselben halb durchgekauten Fakten an ihm wie Ungeziefer: der Dünger, der auf das Flugzeug geladen wurde, das Kelly heute Morgen fliegen würde; ihre Skizze von der Stadt aus der Vogelperspektive, mit dem Blitz, der ein hohes Gebäude traf. Ein Flugzeug allein war bereits eine Bombe, obwohl man daran nicht als Erstes dachte, wenn man eines sah. Erst wenn man es mit Säcken voller stickstoffreichem Dünger belud, betonte man seine potentielle Explosivität.
In seinem taumelnden Verstand tauchte zudem immer wieder dasselbe Bild auf: von Kelly Tropper – warum? –, die ihren Stolz und ihre Freude in Londons höchstes Gebäude lenkte, um einen neuen Ground Zero in die Augen der Welt einzubrennen.
Immer wieder, bis River endlich den Kontakt zum Hier und Jetzt verlor und – nachdem er sich längst heiser geschrien hatte – das Bewusstsein verlor.
Während Marcus telefonierte, beobachtete Louisa die Aufstellung zur Demo. Es war, als würde man zusehen, wie eine Schwarmintelligenz Gestalt annahm: Die vielen verschiedenen Teilchen, aus denen ein Bewusstsein entstehen würde, fügten sich zusammen. Marcus hatte wahrscheinlich recht. Es würde später Ärger geben. Aber das war ein Nebenschauplatz, den man vernachlässigen konnte, ebenso wie den Rest des Dekors. Sie fragte sich, ob gestern Abend ihre einzige Chance gewesen war, Paschkin allein zu erwischen. Ob er nach Hause fliegen würde, sobald die Gespräche beendet waren, und sie niemals erfahren würde, warum Min gestorben war.
Marcus sagte: »Tut mir leid.«
»Fertig? Das hier ist ein Job und kein Ausflug.«
»Ab jetzt kommt kein Anruf mehr«, versprach er. »Und du wirfst Paschkin nicht aus einem Hochhausfenster, versprochen?«
Sie antwortete nicht.
»Hallo?«
»Hat Lamb dich dazu angestiftet?«
»Ich kenne Lamb nicht so gut wie du. Aber ich glaube nicht, dass das Wohlergehen seiner Mannschaft oberste Priorität für ihn hat.«
»Ach, also kümmerst du dich jetzt um mein Wohlergehen, was?«
»Jetzt komm schon. Paschkins Gorillas sind nicht nur zur Zierde da. Wenn du ihrem Boss auch nur einen Schritt zu nahe kommst, nehmen sie dich auseinander.«
»Wie sie es mit Min getan haben.«
»Was auch immer mit Min passiert ist, wir werden es klären. Aber es hat keinen Sinn, sich zu rächen, wenn es dich selbst das Leben kostet, und glaub mir, was du gestern Abend vorhattest, wäre genau darauf hinausgelaufen. Und was dir Paschkins Schläger erspart hätten, hätte der Service beendet.«
Plötzlich ertönte Gesang von der anderen Straßenseite und mündete in stürmischem Gelächter.
»Louisa?«
»Warum bist du bei uns?« Sie hatte nicht geplant, ihn das zu fragen, es kam ganz spontan heraus. »In Slough House, meine ich?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Du schwingst dich zu meinem Führungsoffizier auf, also tut es das durchaus. Ich habe nämlich das Gerücht gehört, du hättest die Nerven verloren. Hast dem Druck nicht standgehalten. Also vielleicht sorgst du dich nur deshalb um mein Wohlergehen, damit dein Leben weiter in ruhigen Bahnen verläuft und ich dir keinen Ärger mache.«
Marcus starrte sie einen Moment lang über seine Sonnenbrille hinweg an. Dann schob er sie wieder auf die Nase. Als er sprach, war sein Ton sanfter, als sein Blick verheißen hatte. »Tja, das klingt plausibel. Totaler Quatsch, aber plausibel.«
»Also hast du nicht die Nerven verloren.«
»Nein, Blödsinn! Ich spiele, das ist alles.«
Jemand rief seinen Namen.
Es klang jedenfalls so. Es war nicht sein Name, aber es hörte sich so an – es zerrte River aus der Dunkelheit, und als er die Augen öffnete, schienen Flecken von Tageslicht durch die Zweige über ihm. Der Himmel war klar und weit, und er musste die Augen wieder schließen, sie fest zusammenkneifen, um sich vor dem grellen Blau zu schützen.
»Walker? Johnnie?«
Er spürte, wie Hände an ihm herumfummelten, und plötzlich lösten sich seine engen Fesseln, und er konnte sich wieder richtig bewegen, was neue Schmerzen durch seine Glieder zucken ließ.
»Verdammt, Mann! Du bist ja fix und fertig!«
Sein Retter war eine verschwommene Gestalt aus undeutlichen Flecken, wie ein Rorschach-Test auf zwei Beinen.
»Komm, ich hol dich hier raus.«
Zwei Arme zogen River hoch, und sein Körper schrie, fühlte sich aber gleichzeitig gut an – er kämpfte sich unter Schmerzen aus der Verkrampfung heraus.
»Hier.«
Eine Flasche wurde ihm an die Lippen gehalten, und Wasser strömte in seinen Mund. River hustete und beugte sich nach vorne, spuckte und übergab sich fast. Dann tastete er blind nach der Flasche, packte sie und stürzte gierig den Rest ihres Inhalts hinunter.
»Scheiße, Mann«, sagte Grif‌f Yates. »Du bist ja wirklich fix und fertig.«
»Ich spiele, das ist alles«, sagte Marcus Longridge.
»Wie bitte?«
»Glücksspiel. Karten. Pferderennen. Alles, was du dir denken kannst.«
Louisa starrte. »Das ist alles?«
»Tja, aber es ist keine Kleinigkeit. Und offensichtlich nicht kompatibel mit einer effizienten Einsatzbereitschaft. Der reinste Witz. Ops können das größte Glücksspiel von allen sein.«
»Warum haben sie dich nicht einfach rausgeschmissen?«
»Wegen eines taktischen Fehlers. Einer der Personalchefs beschloss, ich leide unter einer Art Sucht, und hat mich zu einem Seelenklempner geschickt.«
»Und?«
»Der hat geklempnert.«
»Und?«
Marcus sagte: »Na ja, ich würde nicht sagen, dass es so richtig geholfen hat. Nicht hundertprozentig. Das eben am Telefon war zum Beispiel ein Buchmacher.« Er wurde von einem Hupkonzert unterbrochen; eine improvisierte Symphonie, die wahrscheinlich zum Soundtrack des Tages werden sollte, da der Verkehr auf den Straßen der Stadt heute größtenteils zum Erliegen kommen würde. »Aber jedenfalls hat sich herausgestellt, dass man mich nicht mehr feuern konnte, nachdem ich zu einem Psychologen geschickt worden war. Das hätte gegen geltendes Recht verstoßen. Also haben sie mich stattdessen …«
Also hatten sie ihn stattdessen zu den Slow Horses abgeschoben.
Louisa blickte auf das Hotel, durch dessen große Glastüren sie jeden Moment gehen würden. »Bist du Taverners Spitzel in Slough House?«
»Nö. Warum sollte sie einen wollen?«
»Catherine sagt, sie habe einen.«
»Ich wüsste nicht, warum«, erwiderte Marcus. »Wir sind im Grunde genommen die Außentoilette des Parks. Wenn sie etwas wissen will, kann sie dann nicht einfach Lamb fragen?«
»Vielleicht will sie das lieber nicht.«
»Kann ich verstehen. Aber ich bin kein Spitzel, Louisa, für niemanden.«
»Okay.«
»Das heißt, du glaubst mir?«
»Okay heißt okay. Und das mit dem Glücksspiel ist kein Problem?«
»Letztes Jahr waren wir zwei Wochen in Rom, meine Frau Cassie, die Kinder und ich. Finanziert mit meiner, äh, Sucht.« Wieder schob er die Sonnenbrille hoch. »Also, scheiß auf sie.«
Es war das erste Mal, dass sie etwas von seiner Familie hörte. Als ob er damit ihr Vertrauen gewinnen wollte.
Er sah auf seine Armbanduhr.
»Okay«, sagte Louisa noch einmal, was diesmal bedeutete, dass er recht hatte: Es wurde Zeit. Sie ging ihm voraus in die Hotellobby.
Jetzt, wo sie Partner waren, war es wohl auch besser, wenn er im Vollbesitz seiner Nerven war, dachte sie.
Aber das heute war ein Babysitterjob. Es war nicht so, dass seine Erfahrung im Einsatz gebraucht wurde.
Catherine rief River an und erhielt die Nachricht, die Rufnummer sei nicht erreichbar, anschließend versuchte sie es bei Lamb, mit dem gleichen Ergebnis. Dann studierte sie Hos Ergebnisse. »Nur Schuh, kein Fußabdruck.« Je schwerer man war, desto tiefere Spuren hinterließ man. Doch das frühere Leben der Upshott-Bewohner hätte nicht mal Spuren in Puderzucker hinterlassen.
Stephen Butterf‌ield hatte einen Verlag besessen, und eine kurze Online-Recherche bewies, dass er zu denen gehört hatte, die ständig die Klappe aufmachten: stets bereit, sich zu den Tagesthemen zu äußern, auf Radio 4, im Observer . Er war Mitglied einer parlamentarischen Kommission für Analphabetismus und Treuhänder einer Wohltätigkeitsorganisation, die Schulbücher an Entwicklungsländer lieferte. Aber ging man weiter zurück, so lösten sich seine frühen Jahre im Nebel auf. Das Gleiche galt für die anderen, die Roddy überprüft hatte: leicht- bis mittelgewichtige Persönlichkeiten von Bedeutung; eingebettet in ein Establishment, das sie an seine Stehtische einlud, um sie mit Industriebossen und Ministern in Kontakt zu bringen. Kontrolle gewann man durch Beeinflussung …
Sie fuhr zusammen, als sie bemerkte, dass Ho in ihrer Tür stand. Sie hatte keine Ahnung, wie lange er schon dastand.
Er sagte: »Du verarschst mich, oder?«
»Ich soll dich verarschen? Wieso das denn?«
Er sah sie verwirrt an. »Ich meine, das war ein Witz, oder?«
Catherine besaß die Fähigkeit, so auszusehen, als atme sie tief durch, ohne es tatsächlich zu tun. Und das tat sie jetzt. »Worüber soll ich Witze machen, Roddy?«
Er sagte es ihr.
»Es sollte ein Scherz sein.«
Toller Scherz.
»Sie zielen nie auf die alten Häuser. Wenn man das weiß, ist es eigentlich irgendwie cool.«
Wenn man das weiß war hier wohl ein Schlüsselausdruck.
»Unfassbar, dass Tommy so was gemacht hat!«
River hatte am ganzen Körper Schmerzen und kam nicht so schnell voran, wie er gewollt hätte – sie gingen bergauf. In der Senke hatte er keinen Handyempfang.
Er sagte: »Und alles nur wegen Kelly?«
Mein Gott. Seine Stimme klang wie die eines Neunzigjährigen.
Yates blieb stehen. »Du kapierst das nicht, oder?«
»Doch, schon«, sagte River. »Aber es ist mir egal.«
»Sie ist alles, was ich je –«
»Ach, werd erwachsen!« Sie entscheidet selbst, was sie will, hätte er beinahe hinzugefügt, aber beim Gedanken an Kellys Entscheidungen blieben ihm die Worte im Hals stecken. Er versuchte es noch einmal mit dem Handy, konnte aber die Finger kaum bewegen. Immer noch kein Empfang. Plötzlich wurden Motorgeräusche laut, und er blickte auf, halb in der Erwartung, Kelly zu sehen, wie sie in ihrer fliegenden Bombe das Blau durchkreuzte – aber wenn sie schon darin säße, würde sie nicht über Upshott brummen.
Sie müsste jetzt schon in der Luft sein. Er musste Alarm auslösen.
Ein Flugzeug ist auf dem Weg, sich in The Needle zu stürzen – unser 9 / 11 .
Am selben Tag befand sich ein russischer Oligarch mit politischen Ambitionen im siebzigsten Stockwerk.
Falls er sich irrte, würde das Lahmlegen von King’s Cross allerdings wie der Höhepunkt seiner Karriere aussehen.
Doch wenn er recht hatte und nicht beizeiten vor der Gefahr warnte, würde er den Rest seines Lebens damit verbringen, um unzählige Tote zu trauern.
»Los, komm.«
»Das ist die falsche Richtung«, erwiderte Grif‌f.
»Nein, ist es nicht.«
Der Hangar. Er musste zum Hangar, um zu überprüfen, ob er mit dem Dünger recht hatte.
Zwei Schritte weiter, und das Telefon in seiner Hand vibrierte. Gerade rechtzeitig hatte er wieder Empfang.
Ein Jeep tauchte auf einem Hügel vor ihnen auf.
Als Paschkin aus dem Aufzug trat, ließ er sich nicht anmerken, dass gestern Abend etwas stattgefunden hatte, jedenfalls nicht das mit ihm und mit ihr. An diesem Morgen trug er einen anderen Anzug. Dazu ein schneeweißes Hemd, oben offen. Ein silberner Manschettenknopf blitzte hervor. Ein Hauch Eau de Toilette. Er trug eine Aktentasche.
»Ms Guy«, begrüßte er sie. »Mr Longridge.«
Die Lobby hallte wie eine Kirche.
»Der Wagen sollte draußen stehen.«
Und so war es auch. Sie saßen wieder genauso verteilt wie am Vortag, in einem ähnlich langsam fließenden Verkehr. Aber was für einen Unterschied machte es, fragte sich Louisa, wenn sie zehn Minuten zu spät kämen? Nur Webb wartete auf sie. Für einen angeblich hochrangigen Gipfel war es eine unbedeutende Veranstaltung. Sie schrieb Webb trotzdem eine SMS , um ihm mitzuteilen, dass sie im Anmarsch waren.
An einer Kreuzung am Rande der City kamen sie an drei Einsatzwagen der Polizei vorbei: schwarz, mit getönten Scheiben. Gestalten waren im Inneren erkennbar; menschliche Silhouetten, verzerrt durch Uniform und Helm, wie American-Football-Spieler, absurd gepolstert für ein brutales Spiel.
Paschkin sagte: »Man rechnet also mit Problemen.«
Louisa traute ihrer Stimme in seiner Gegenwart nicht.
Er fuhr fort: »Ihre liberalen Werte rücken in den Hintergrund, sobald Ihre Banken und Gebäude gefährdet sind.«
Marcus erwiderte: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich liberale Werte habe.«
Paschkin sah ihn interessiert an.
»Was soll’s. Ein paar Unruhestifter kriegen eins auf die Nase oder werden über Nacht in eine Zelle gesteckt. Wir reden hier nicht von Tiananmen.«
»Tja, aber wie sagt man gleich: Wehret den Anfängen?«
Die Einsatzwagen hatten sie hinter sich gelassen, aber am Straßenrand waren überall Polizeikräfte. Die meisten trugen Warnwesten, keine Kampfausrüstung. Man schickte erst mal die guten Bullen vor. Die bösen hielt man an der Leine, bis es brenzlig wurde.
Aber solche Demos tendieren nun mal dazu, aus dem Ruder zu laufen, dachte Louisa. Es waren nicht nur die Banken, auf die es die Demonstranten abgesehen hatten. Es war die Gier der Unternehmen in all ihren Erscheinungsformen; die sichtbaren Symbole der Reichen, die immer reicher wurden, während andere immer weniger verdienten, immer mehr Schulden hatten, immer öfter um ihre Arbeitsplätze bangten und immer mehr Leistungskürzungen in Kauf nehmen mussten.
Aber das war nicht ihr Problem. Nicht heute. Sie musste ihre eigenen Schlachten schlagen.
Piotr sprach, und Paschkin antwortete, in einer Sprache, die dick wie Sirup war. Vielleicht sah er ihr fragendes Gesicht; jedenfalls entschied sich Paschkin jetzt, sie unmittelbar anzusprechen. »Er sagt, es ist fast vorbei.«
»Vorbei?«
»Er meint: Wir sind fast da.«
Sie hatte die Orientierung verloren. Aber tatsächlich waren sie angekommen, am Fuß von The Needle; das Auto schwenkte in die Basis ihres enormen Schattens und verschwand dann in der Tiefgarage darunter.
Ihr Kennzeichen war als das eines Bauunternehmens registriert; offiziell traf sich ihre Gruppe mit einem der Küchenchefs des Hotels in einem Versorgungsraum unterhalb der Lobby des Gebäudes.
Ihr Eintritt in The Needle selbst würde nicht aufgezeichnet werden.
James Webb war schon vorher auf die gleiche Weise hineingelangt. Oben im siebenundsiebzigsten Stock sinnierte er über die Tischordnung. Eine knifflige Sache, da nicht ohne weiteres deutlich war, welche Seite eines ovalen Tisches das Kopfende war. Er versuchte es mit dem Stuhl zum Fenster hin. Er sah nichts außer ein einzelnes Flugzeug, das eine Narbe auf dem Blau hinterließ. An manchen Tagen konnte man hier sitzen und sich im Inneren einer Wolke befinden. Im Moment schwebte er über allem.
Obwohl er noch nicht so hoch geflogen war, wie er es wollte.
»So, Mr Paschkin. Wie können wir Ihnen die Entscheidung erleichtern?«
Diese Taktik würde er anwenden. Paschkin suggerieren, dass er nichts hatte, was Webb haben wollte, und er ihm lediglich den Weg ebnen würde. Später würden Schulden eingefordert und Vorschläge unterbreitet werden, wie Paschkin die Freundlichkeiten der Ausländer zurückzahlen könnte. Selbst wenn keine greifbaren Gefälligkeiten gewährt wurden, kompromittierte ihn schon allein das Treffen mit Webb. Aber dies war der Reiz der Macht. Ehrgeiz war der Treibstoff der Rücksichtslosen, eine Mine, die Webb auszubeuten gedachte.
»Ich bin hier, um zu vermitteln. Offiziell spreche ich nicht für die Regierung.« Bescheidenes Hüsteln. »Aber alle Ihre Wünsche werden dort ein offenes Ohr finden, wo man ihnen am besten entsprechen kann.«
Kosmetische Unterstützung – das würde Paschkin vermutlich wollen. Er wollte in der Gesellschaft der Einflussreichen gesehen und in aller Welt als mächtiger Mann wahrgenommen werden. Ein Foto mit dem Premierminister, Drinks in der Downing Street 10, ein wenig Aufmerksamkeit von der Presse. Wenn man einmal ernst genommen wurde, zog das weiteren Respekt nach sich. Wenn Paschkins Stern im Westen aufstiege, würde er bis in den Osten leuchten.
Sein Handy klingelte. Marcus Longridge. Sie waren in der Tiefgarage. Webb hörte zu und sagte: »Ich bitte Sie, er ist ein willkommener Gast, kein Sicherheitsrisiko. Denken Sie doch mal nach, Mann!«
Nachdem er das Gespräch beendet hatte, stand er auf, ging um den Tisch herum und versuchte es auf der anderen Seite, so dass er in den Raum hineinblickte und die großartige Aussicht im Rücken hatte.
Ja, entschied er. Das war’s. Lass Paschkin das Fenster, so dass er hinausblicken kann. Bedeute ihm: The sky is the limit, und hoffe, dass er anbeißt.
Er ging in die Lobby, um auf den Lift zu warten.
Hinter ihm, in der Ferne, glänzte die Sonne auf der Tragfläche des winzigen Flugzeugs, wodurch es für einen Moment viel größer erschien, als es war.
»Dieser Typ, Arkadi Paschkin?«, sagte Ho.
Catherine traute sich kaum zu fragen. »Was ist mit ihm?«
»Hast du sein Porträt gelesen? Das, das angeblich im Telegraph stand?«
»Angeblich«, wiederholte sie tonlos.
Ho sagte: »Hast du es dir mal ganz genau angesehen?«
»Ich habe es gelesen, Roddy. Das haben wir alle.« Catherine sortierte Papiere, schob einen Ordner beiseite, fand den Artikel. Nicht die richtige Zeitung, sondern einen Ausdruck aus dem Web. Sie winkte ihm damit zu. »Telegraph. Siebter Juli, letztes Jahr. Was hast du für ein Problem?«
»Ich habe gar kein Problem.« Ho zog ihr den Ausdruck aus der Hand. Er umfasste drei Seiten, inklusive Foto. »Hier.« Er tippte mit dem Finger auf das Adressfeld oben auf der Seite. »Siehst du das?«
»Roddy. Wovon redest du?«
»Sieht aus wie der Telegraph, klingt wie der Telegraph, und wenn man ihn zerknüllen und essen würde, würde er wahrscheinlich wie der Telegraph schmecken. Aber er ist es nicht.« Er hielt ihr die Seiten hin. »Das hast du von der Website dieses Typen. Aber hast du auch mal im Archiv der Zeitung nachgesehen?«
»Nein, man findet das überall im Netz«, erwiderte sie stumpf.
»Selbstverständlich. Weil irgend so ein Alter das im Internet veröffentlicht hat. Aber weißt du, wo es nicht ist? Im Archiv der Zeitung.«
»Roddy …«
»Ich sage dir, das Ding ist ein Fake. Und abgesehen davon, weißt du, wie viele Beweise es auch nur für die Existenz eines Arkadi Paschkin gibt, geschweige denn dafür, dass er ein steinreicher russischer Oligarch ist?«
Er formte ein Nullzeichen mit Daumen und Zeigefinger.
»Oh«, hauchte Catherine.
Ho sagte: »Es gibt Links, das schon. Er ist auf Facebook und hat einen Wikipedia-Eintrag, und er ist auf vielen Seiten präsent, auf denen man seinen Marker setzt, so dass daraufhin jeder denkt, man sei Gott weiß wer. Aber wenn du diese Namensnennungen zurückverfolgst, beziehen sie sich alle aufeinander. Im Netz wimmelt es vor Strohmännern.« Sein Gesicht rötete sich leicht: Er schien sich tatsächlich aufzuregen. »Und Paschkin ist einer von ihnen.«
»Aber wie …?« Doch sie wusste schon, wie. Die Recherchen über Paschkin waren von Spider Webb durchgeführt worden: Die Rechercheabteilung von Regent’s Park war wegen dieser verdammten Überprüfung nicht im Bilde. Sie hätte wetten können, dass Paschkin derjenige war, der sich zuerst an Webb gewandt hatte …
Sie sagte: »Dieses Needle-Meeting. Was auch immer Paschkin vorhat, darum geht es. Ich ziehe den Stecker. Roddy – fahr sofort hin!«
»Wer, ich?«
»Ja. Nimm Shirley mit.« Er starrte sie an, als hätte sie Chinesisch gesprochen. »Mach es einfach, okay?« Catherine griff nach ihrem Handy, und noch bevor sie es hatte, klingelte es. Hos sich entfernendem Rücken rief sie hinterher: »Und Roddy? Sag nie wieder Alter!«
»Catherine?«, sagte River. »Ruf den Park an. Möglicherweise Code September.«
Meilenweit entfernt, irgendwo zwischen den beiden Enden dieses Telefonats, lenkte Kelly Tropper die blauweiße Cessna Skyhawk durch einen klaren blauen Himmel. Vor ihr lagen Flächen von nichts – so fühlte es sich an, als spalte sie eine Leere, die sich in dem Moment wieder hinter ihr schloss, in dem sie vorbei war. Und wenn sich manchmal eine schmerzhafte Wahrheit aufzudrängen drohte, dass nämlich die Narben in ihrem Hecksog ebenso dauerhaft wie unsichtbar waren, schaffte sie es im Allgemeinen, dieses Wissen zu unterdrücken und unter der Überzeugung zu ersticken, dass nichts, was für den Kern ihres Wesens so zentral war, böse sein konnte.
Sie sah ihren Copiloten an, der sich hauptsächlich deswegen bereit erklärt hatte, sie zu begleiten, weil er auf sie stand, und fragte sich, ob er wusste, dass sie gestern Nachmittag mit Upshotts neuestem Bewohner geschlafen hatte. Möglich war es durchaus. Im Ort sickerte immer etwas durch. Wie dem auch sei: Es ihm zu sagen, würde den Schauer der Erregung noch verstärken, den sie bereits verspürte. Morgen würden die Leute in der Zeitung über sie lesen. Über sie lesen, sie sich vorstellen und wissen, dass sie etwas getan hatte, wozu sie selbst nicht fähig waren. Einige würden sich wohl daran erinnern, dass sie sie über ihren Köpfen hatten vorbeifliegen sehen.
Wieder ein Schauer der Erregung. Neugierig wandte ihr Begleiter sich zu ihr um.
Der Boden war nur noch eine Erinnerung, und Kelly Tropper war dort, wo sie hingehörte: oben im helleren Element, mit einem Waffenbruder.
Nur sie beide und ihre explosive Fracht.