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Als der Vormittag voranschritt und nur wenige verirrte Wolken wie federleichte Gewissensbisse den Himmel im Zentrum Londons zerzupften, wurde klar, dass sich heute das Versprechen der Wetterfrösche erfüllen und es der bisher wärmste Tag des Jahres werden würde. Eine Tatsache, die kaum eine Nachrichtensendung am Abend unerwähnt lassen würde.
Die Menge der Demonstranten zog in östliche Richtung, »der Mob«, wie manche sie bezeichneten. Da sie sich fortbewegte und mobilisiert wurde, war sie tatsächlich ein Mob im Sinne von »Herde«, wenn auch ein größtenteils hochgradig organisierter; von Polizisten begleitet, aber ihren eigenen Überzeugungen folgend. Den Kamerateams machte sie eifrig klar, dass sie einen spontanen Ausbruch von Volkszorn repräsentierte und nicht etwa von Zynikern im Hintergrund manipuliert worden war. Ein lautstarkes, Plakate schwenkendes Kontingent ging ihr voraus und marschierte im Takt zu einer Gruppe von Trommlern; ihre mit Schablonen gemalten Plakate besagten STOPPT DIE CITY , ZERSCHLAGT DIE BANKEN und SCHLUSS MIT DEN KÜRZUNGEN , oder sie zeigten Cartoons von Bonzen mit Zylindern, die Zigarren mit Fünfzigpfundscheinen anzündeten. Über den Köpfen nickten hier und da Pappmachégestalten wie Karnevalsfiguren zur falschen Jahreszeit. Sie trugen Melonen und Nadelstreifen und Gesichtsausdrücke unstillbarer Gier. Ordner mit Megaphonen machten sich in willkürlichen Abständen bemerkbar, und an den Seitenlinien verkauften Traditionalisten den Socialist Worker . Aber für jeden mit Dreadlocks und Sicherheitsnadeln ausstaffierten Veteranen sah man ein halbes Dutzend Jugendlicher mit rosigen Gesichtern und Sommerklamotten. Es war eine Regenbogenkoalition der Angepissten, und ihr Gesang schwoll im Laufe der Demo immer mehr an.
Die mittlere Gruppe war gesitteter. Ihre Plakate waren aufwendig handgefertigt und mit kenntnisreichen kulturellen Referenzen gespickt: WIR HABEN DIE NASE VOLL ! KEINEN RETTUNGSSCHIRM FÜR BANKEN ! NICHT MIT UNS ! Überall tanzten Kinder aus der Reihe, denen im Hyde Park die Gesichter geschminkt worden waren und die nun Katzen oder Hexen, Hunde oder Zauberer darstellten, die rosa und grünen Gesichter glühend vor Aufregung. Sie rannten in kichernden Grüppchen umher und bettelten die berittenen Polizisten an, sie mit aufs Pferd zu nehmen, während ihre Eltern den altvertrauten Schauer der öffentlichen Meinungskundgebung und den gelegentlich aufbrandenden, selbstironischen Call-and-Response von Maggie! Maggie! Maggie! – Raus! Raus! Raus! genossen, der für sie den nostalgischen Touch dieser Demonstration betonte. Hier und da brandete sogar spontaner Gesang auf, hauptsächlich Bob Marleys »One Love« und »Exodus«, aber auch, etwas stümperhaft, der »Redemption Song«. Als ein Hubschrauber über der Menge kreiste, brach dieser Abschnitt in Jubel aus, obwohl niemand wusste, warum.
Das Schlusslicht bildeten die nicht so brennend Engagierten, die die Demo weniger als Ventil für soziale Empörung betrachteten denn als Gelegenheit, durch ein verkehrsfreies London zu schlendern. Sie winkten in die Kameras, posierten für Touristen, unterhielten sich mit Polizisten, die zum Assistenzdienst eingeteilt waren, und warfen den Zuschauern in aller Welt Luftküsse zu. Doch unter diesem Kontingent – ebenso wie unter den anderen Gruppen – marschierten einige Teilnehmer mit Masken in der Tasche und Üblem im Sinn, denn Banken sind böse und Banker egoistische Scheißkerle, und kein einziger von diesen seelenraubenden Geldsäcken würde irgendetwas ändern nur wegen dieser Demo. Nein: Veränderung verlangte Scherben, und davon würde es heute viele geben.
Aber selbst die Anarchisten ahnten noch nicht, wie viele.
Die Demo zog über die Oxford Street und hinauf in Richtung High Holborn.
»Mr Paschkin.«
»Mr Webb.«
»Jim, bitte. Willkommen in The Needle.« Heuchelei auf beiden Seiten; niemand nannte Spider Jim, und Paschkin war schon einmal hier gewesen. Aber der Moment war vorüber, und Paschkin stellte seine Aktentasche auf den Boden, um Webbs rechte Hand mit beiden Händen zu umschließen. Es war zwar nicht die brüderliche Umarmung, die er erwartet hatte, aber immerhin eine herzliche, verbindliche Geste. »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee? Gebäck?« Der Duft von beidem wehte aus der Küche.
»Vielen Dank, für mich nichts.« Dann sah sich Paschkin um, als wäre er noch nie hier gewesen, und sagte: »Wirklich großartig«, als würde er sich das mit dem Kaffee möglicherweise noch einmal überlegen.
Webb blickte die anderen aus der Gruppe an: Louisa Guy, Marcus Longridge, die beiden Russen. Mit einem Wink zur Küche sagte er: »Wenn Sie Kaffee oder etwas anderes wollen …«
Niemand wollte.
Unten, in der Tiefgarage, hatten Marcus und Louisa Kyril und Piotr nach Waffen durchsucht und sich im Gegenzug von ihnen abtasten lassen. Dann hatte Marcus Arkadi Paschkin untersucht und anschließend auf seinen Aktenkoffer gedeutet. »Darf ich?«
»Nein, leider nicht«, hatte Paschkin höflich erwidert. »Sie enthält Dokumente – ich glaube, ich brauche es Ihnen nicht näher zu erklären.«
Marcus sah Louisa an.
»Ruf Webb an«, schlug sie vor.
Dieser erwiderte: »Ich bitte Sie, er ist ein willkommener Gast, kein Sicherheitsrisiko. Denken Sie doch mal nach, Mann!«
Und jetzt legte Paschkin also seinen nicht überprüften Aktenkoffer auf den Tisch. Er blaffte seinen Männern etwas auf Russisch zu. Piotr und Kyril lösten sich aus der Gruppe, und Marcus packte instinktiv den Nächststehenden am Arm: Es war Kyril, der herumwirbelte, mit erhobener Faust, und um Haaresbreite waren sie davor, sich gegenseitig die Knochen zu brechen, bis ein Ausruf von Paschkin sie erstarren ließ: »Bitte!«
Kyril senkte die Faust. Marcus ließ Kyrils Arm los.
Piotr lachte. »Du, du bist schnell.«
»Verzeihung«, sagte Paschkin. »Ich habe sie nur gebeten, die Kameras zu überprüfen.«
»Sie sind aus«, sagte Webb. »Oder?«
Louisa sah Paschkin an. »Sie sind ausgeschaltet. Wie ich schon sagte.«
Er nickte ihr förmlich zu. »Natürlich. Aber trotzdem …«
Marcus hob eine Augenbraue, aber Webb, der eine Gelegenheit suchte, wieder die Initiative zu ergreifen, sagte: »Wie Sie wünschen.«
Sie beobachteten, wie sich Piotr und Kyril um die Kameras über der Tür und in der Ecke kümmerten und Kabel auf eine garantiert nicht provisorische Art herausdrehten.
Paschkin sagte: »Bitte, haben Sie Verständnis für meine Lage.«
Webb machte ein Gesicht, als würde er es versuchen, während er sich fragte, ob die Demolierung der Sicherheitseinrichtung auf ihn zurückfallen würde. Paschkin öffnete unterdessen den Koffer und nahm etwas heraus, das wie ein Mikrofon aussah. Als er es auf den Tisch stellte, erwachte es summend zum Leben.
Marcus Longridge sagte: »Ich dachte, alles wäre vorher abgesprochen gewesen.« Er umfasste eine Hand mit der anderen, als hätte er tatsächlich zugeschlagen. Mit einem Nicken wies er auf das Gerät und sagte: »Das hier wird nicht aufgezeichnet.«
»Nein«, stimmte Paschkin ihm zu. »Und jetzt können wir alle sicher sein, dass das wirklich der Fall ist.«
Das Gerät pulsierte sanft; unsichtbar verwandelte es alles in weißes Rauschen, was von eventuellen Abhörgeräten aufgenommen werden würde.
Kyril stand mit seinen großen Händen vor sich verschränkt da und musterte Marcus beinahe amüsiert.
Louisa sagte: »Ist sonst noch etwas in diesem Koffer, von dem wir wissen sollten?«
»Nichts, was Sie beunruhigen sollte«, erwiderte Paschkin. »Aber, bitte.« Er schwenkte plötzlich raumgreifend den Arm, als ließe er eine Taube fliegen. »Setzen wir uns. Lassen Sie uns anfangen.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Wissen Sie, was?«, fügte er hinzu. »Vielleicht möchte ich jetzt doch eine Tasse Kaffee.«
River hatte das Telefon am Ohr, als der Jeep sie erreichte und ein Soldat heraussprang: ein junger Mann, durchtrainiert.
»Catherine?«
»Würden Sie das Handy herunternehmen, Sir?«
»Gibt es ein Problem?«, fragte Grif‌f Yates. »Wir sind spazieren gegangen, haben uns ein wenig verirrt.«
»Ruf den Park an. Möglicherweise Code September.«
»Sir? Das Handy?«
Der Soldat näherte sich.
»Heute. Heute Morgen.«
»Das Handy runter! Sofort!«
Als der Soldat ihn berührte, brach sich kurz die Anspannung dieser Nacht voller Stress und Angst Bahn. River schlug seine Arme weg, durchbrach damit seine Deckung, trat ihm gegen das Knie und versetzte ihm mit der freien Hand einen Kantenschlag gegen den Hals, so dass der Soldat ins Taumeln geriet.
»Hey, Mann!«, schrie Grif‌f, während der andere Soldat aus dem Jeep sprang und eine Pistole zog.
»River.« Catherines Stimme klang ganz ruhig. »Du musst das Protokoll befolgen.«
»Handy runter! Hände hoch! Sofort!«, brüllte Soldat Nummer zwei. Entweder, weil man ihnen das so beigebracht hatte, oder wegen Soldat Nummer eins.
»Manda –«
Doch ein Schuss unterbrach ihn, bevor er das Wort aussprechen konnte.
»Na schön«, sagte Ho, »hast du ein Auto?«
»Soll das ein Witz sein?«
Nein, sollte es nicht. Ho schaute sich auf der Aldersgate nach einem Taxi um, erst nach links, dann nach rechts, und als er sich wieder Shirley Dander zuwandte, war die schon weit weg auf der anderen Straßenseite.
Ach du Scheiße!
Er wartete noch eine Sekunde, in der Hoffnung, dass dies vielleicht ein Witz war, aber als sie um die Ecke verschwand, fand er sich mit der grausamen Wahrheit ab: Sie würden zu Fuß zu The Needle gehen.
Roderick Ho verfluchte Shirley Dander, verfluchte Catherine Standish und rannte los.
Manda
Mandarin war das erste von River Cartwrights Codewörtern, die anderen beiden lauteten Zahnarzt und Tiger . Aber als Catherine zurückgerufen hatte, hörte sie nur das Mantra: »Der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar.«
Code September. Den Teil hatte er vollständig ausgesprochen. Möglicherweise Code September. Heute. Heute Morgen.
Catherine war allein in Slough House. Lamb war noch nicht aufgetaucht; Ho und Shirley Dander waren gerade davongestürmt.
Code September  … Das war zwar keine offizielle Bezeichnung, aber sie wurde häufig verwendet, und ihre Bedeutung erschloss sich von selbst. Code September bezeichnete nicht nur einen terroristischen Anschlag. Er bedeutete, dass jemand vorhatte, ein Flugzeug in ein Gebäude zu fliegen.
Bei dem Gedanken pulsierte neue Energie durch ihre Adern. Es gab jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder, sie ging davon aus, dass River den Verstand verloren hatte. Oder sie konnte Großalarm wegen einer Bedrohung auslösen, für die sie keine konkreten Beweise hatte.
Sie rief den Park an.
Der Demonstrationszug war nun ein langer, gewundener Lindwurm, dessen Segment zwischen Kopf und ausgefranstem Schwanz sich durch das Herz Londons zog. Die Vorhut hatte inzwischen den Viadukt bei Holborn überquert; einige Nachzügler befanden sich noch auf der Oxford Street. Niemand schien in Eile zu sein. Je wärmer es wurde, desto mehr Zeit ließen sich die Menschen.
Am Centre Point, wo Baustellensperren die Charing Cross Road blockierten, übertönte der Lärm der Grabungsarbeiten den Gesang. Als die Demo an der engen Kreuzung vorbeimarschierte, zog ein kleiner Junge seine Hand aus der seines Vaters und deutete gen Himmel. Der Mann schaute blinzelnd nach oben und sah etwas aufblitzen; Sonnenlicht wurde von einem Fenster der fernen Needle reflektiert. Er hob den Jungen auf seine Schultern und brachte ihn damit zum Lachen; dann setzen sie ihren Weg fort.
Als Soldat zwei feuerte, ließ River sein Handy fallen. Der Schuss ging über seinen Kopf hinweg, aber er war sich nicht sicher, ob das wirklich ein Versehen war. Soldat eins rappelte sich auf und wollte River einen Faustschlag verpassen. Dieser wich beiseite, rutschte aus und fiel auf die Knie. Ein schwerer Soldatenstiefel zertrat sein Handy. Grif‌f Yates schrie auf, vor Wut oder beleidigter Unschuld, und River wollte seine Dienstmarke zücken …
Hände hoch!
Fallen lassen!
Flach auf den Boden! Sofort!
River warf sich in den Dreck.
Loslassen! Lassen Sie das los, was Sie in der Hand haben!
Aber er hatte gar nichts in der Hand.
Soldat zwei schlug Grif‌f Yates mit furchterregender Lässigkeit den Pistolengriff ins Gesicht, und Yates fiel auf die Knie, wobei das Blut nach allen Seiten spritzte.
»Ich bin vom britischen Geheimdienst«, rief River. »MI 5. Ein nationaler Notfall droht …«
»Halt die Klappe!«, brüllte Soldat eins. »Halt jetzt die Klappe!«
»… und Sie verhindern gerade …«
»Halt die Klappe!«
River legte die Hände auf den Kopf.
Yates machte sich, halb schluchzend, wieder bemerkbar. »Du Arschloch! Was soll das, Scheiße noch mal, du verdammter –«
»Halt die Fresse!«
»Arschloch?«
Bevor River etwas sagen konnte, holte Soldat zwei erneut aus, um Grif‌f Yates zu schlagen.
In Regent’s Park meldete sich eine der vielen schicken, schlanken und umwerfend effizienten Frauen, hörte zu, schickte Catherine in die Warteschleife und rief oben in dem verglasten Büro der Zentrale an, wo Diana Taverner seit zwei Stunden einen Morgen absaß, der ihr nicht gefiel, weil sie nicht allein war. Roger Barrowby, der derzeit die täglichen Ausgaben und Einnahmen des operativen Nexus des Service überwachte, hatte sich in ihrem Refugium ausgebreitet, als täte er ihr damit einen Gefallen – in letzter Zeit hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, genauso früh wie Lady Di selbst im Park aufzutauchen. Sein schütteres sandfarbenes Haar toupiert, so dass es weniger schütter wirkte, sein markantes Kinn rosig rasiert und dezent parfümiert, sein alternder Männerkörper in hauchdünne Nadelstreifen verpackt; all dies sollte anscheinend den Eindruck erwecken, dass sie und er im selben Boot saßen, die Ruinen stützten . Taverner befürchtete allmählich, dass es sich um ein Balzritual handelte. Barrowby war nicht an der finanziellen Kompetenz des Service interessiert. Er wollte einfach nur demonstrieren, dass er die Fäden zog, die alle zum Springen brachten, und dass er ihre Fäden am allerliebsten zog. Vielleicht, weil sie zurückzog.
Heute musterte er, anstatt sich hineinzusetzen, den schwarzen Besucherstuhl aus Leder und Chrom, den Taverner von der früheren Inhaberin ihres Büros geerbt hatte. »Ist das eigentlich ein Mies van der Rohe?«
»Was glaubst du denn?«
»Weil sie sehr teuer sind. Die Vorstellung missfällt mir, dass in diesen schwierigen Zeiten das Budget des Service beansprucht wurde, um Hinterteile zu verwöhnen.«
Verwöhnte Hinterteile – das war O-Ton Barrowby. Er hatte eine durchaus komische Ader.
»Roger, das ist ein Schnäppchen aus dem Kaufhaus. Es ist nur deswegen noch nicht in den Sperrmüll gewandert, weil in diesen ›schwierigen Zeiten‹ das Servicebudget die Anschaffung eines neuen nicht erlaubt.«
Ihr Telefon klingelte.
»Bitte, entschuldige.«
Er ließ sich auf dem fraglichen Sitzmöbel nieder.
Lady Di unterdrückte einen Seufzer und ging ans Telefon. Nach kurzem Zuhören sagte sie: »Stellen Sie sie durch.«
Shirley Danders Schritte hämmerten im Takt mit ihrem Herzschlag auf den Bürgersteig – sie würde bald langsamer werden müssen, ein paar Schritte laufen, ein paar Schritte gehen, sollte man es nicht so machen?
Vielleicht in Jogging-Ratgebern. Nicht im Servicehandbuch.
Sie riskierte einen Blick. Ho war mehrere hundert Meter hinter ihr, lief wie ein Betrunkener mit verstauchtem Fuß, ohne in der Lage zu sein, sie im Auge zu behalten. Also blieb sie stehen, legte die linke Hand auf ihre Rippen und stützte sich mit der rechten Hand gegen eine Mauer. Sie befand sich in einem kleinen Park: Bäume, Sträucher, ein Spielplatz, Rasen. Eine Gruppe von Müttern, deren Sprösslinge in Kinderwagen geschnallt oder auf Schaukeln gepackt worden waren, trank Kaffee vom Kiosk auf dieser Seite des Weges, der zur Whitecross Street führte. Shirley ging ihn entlang und blickte am anderen Ende auf. Da war sie, die Spitze von The Needle; sichtbar sogar hier, in diesem künstlichen Canyon.
Etwas ging da drüben vor sich, und Shirley hatte keine Ahnung, was, aber wenigstens war sie daran beteiligt.
Sie holte tief Luft. Noch ein Sprint. Keine Spur von Ho, aber das war in Ordnung. Wenn sie Windows nicht starten konnten, war Ho ihr Mann. Ansonsten war er vollkommen überflüssig.
Ihr wurde schwindlig, so schnell rannte sie.
Am Eingang desselben Parks, den Shirley eben verlassen hatte, hielt sich Roderick Ho am Geländer fest und schickte ein Stoßgebet gen Himmel. Wofür er betete, wusste er nicht genau. Jedenfalls für irgendetwas, was seine Lungen dazu bringen würde, ihm zu vergeben. Sie fühlten sich an, als hätte er mit Feuer gegurgelt.
Hinter ihm hielt ein Auto an. »Alles klar, Kumpel?«
Er drehte sich um, und da war sein Wunder! Ein schwarzes Taxi. Ein herrliches, schönes, großes schwarzes Taxi, bereit, Fahrgäste aufzunehmen.
Er ließ sich auf den Rücksitz fallen, schnappte nach Luft und stieß hervor: »Zu The Needle!«
»Kein Problem.«
Und los ging’s.
River blinzelte.
Soldat zwei holte erneut aus, um Grif‌f Yates zu schlagen, und in einer Bewegung, die so fließend war, dass sie wie choreographiert aussah, packte Yates seinen Arm, drehte sein Handgelenk, brachte ihn dazu, die Waffe fallen zu lassen, und warf ihn zu Boden. Das Blut, das sein Gesicht verschmierte, machte ihn zu einem Dämon. Im ersten Moment dachte River, er würde schießen, aber stattdessen zielte er auf Soldat eins. »Waffe fallen lassen!«, schrie er. »Sofort!«
Der Soldat war noch ganz jung – sie waren beide noch grün hinter den Ohren. Die Waffe zitterte in seinen Händen. River entriss sie ihm.
Dann sagte er zu Yates: »Deine auch.«
»Das Arschloch hat mir ins Gesicht geschlagen!«
»Griff? Gib mir die Waffe.«
Griff gab sie ihm.
River sagte: »Ich bin vom MI 5.«
Diesmal hörten sie zu.
Das Gebäude war in den letzten Stunden zum Leben erwacht, doch auf Molly Dorans Etage hörte man nur das Gluckern von Abwasserrohren, wenn sich heißes Wasser geschickt durch unbequeme Biegungen in wirren Rohrleitungen schlängelte. Die glatte, glänzende Oberfläche von Regent’s Park verdeckte das alte Exoskelett, das das Gebäude trug, und wie ein neues Anwesen, das auf einem Friedhof errichtet worden war, spürte man manchmal das Beben rastloser Geister.
So drückte Molly sich jedenfalls aus.
»Du bist viel allein, was?«, fragte Lamb.
Sie hatten überall gesucht, doch was sie über Nikolai Katinsky und Alexander Popow gefunden hatten, passte auf ein Blatt Papier. Ein Geflecht ineinander verschlungener Lügen, dachte Lamb, wie eines dieser Bilder von unmöglichen Figuren oder optischen Täuschungen – sind es die Umrisse einer Vase oder zweier Personen, die sich unterhalten? Die Wahrheit lag in den Linien selbst: Sie waren keines von beidem. Es waren nichts als Bleistiftstriche, dazu entworfen, den Betrachter zum Narren zu halten.
»Was jetzt?«, fragte Molly.
»Ich muss nachdenken«, antwortete er. »Ich fahre nach Hause.«
»Nach Hause?«
»Ich meinte Slough House.«
Sie hob eine Augenbraue. Ihr Make-up war rissig geworden. »Wenn du Ruhe brauchst, wüsste ich ein Eckchen.«
»Ich brauche kein Eckchen, sondern ein frisches Paar Ohren«, erwiderte Lamb geistesabwesend.
»Wie du willst.« Sie lächelte, aber es schwang Bitterkeit darin mit. »Wartet drüben jemand Bestimmtes auf dich?«
Lamb stand auf. Der Hocker ächzte dankbar. Er blickte auf Molly herab: ihr übertrieben geschminktes Gesicht, ihren rundlichen Körper; die Leere unterhalb ihrer Knie. »So«, sagte er. »Es ist dir also gutgegangen?«
»Was, in den letzten fünfzehn Jahren?«
»Ja.« Er stieß mit einem Fuß gegen das nächst liegende Rad ihres Rollstuhls. »Seitdem du in diesem Ding gelandet bist.«
»Dieses Ding«, sagte sie, »hat die meisten anderen Beziehungen, die ich hatte, überdauert.«
»Hat es eine Vibrationsfunktion?«
Sie lachte. »Jackson! Wenn du so was oben sagen würdest, hättest du eine Dienstaufsichtsbeschwerde am Hals.« Sie neigte den Kopf zur Seite. »Ich bin dir nicht böse, weißt du.«
»Gut«, sagte er.
»Wegen meiner Beine.«
»Ich mir auch nicht.«
»Aber du hast dich rargemacht.«
»Ja, na ja. Mit dem neuen fahrbaren Untersatz dachte ich, du bräuchtest etwas Zeit für dich.«
Sie sagte: »Verschwinde jetzt, Jackson. Und tust du mir einen Gefallen?«
Er wartete.
»Komm nur wieder, wenn du etwas brauchst. Auch wenn es noch mal fünfzehn Jahre dauert.«
»Pass auf dich auf, Molly.«
Im Aufzug steckte er die Zigarette in den Mund; er konnte es kaum erwarten, endlich hinaus ins Freie zu kommen.
River sagte zu Grif‌f: »Warum hast du nach mir gesucht?«
Sie saßen hinten im Jeep, die Soldaten vorne. Er hatte ihnen die Waffen zurückgegeben. Das barg ein beträchtliches Risiko – nämlich, dass die Jungs sie erschießen und an einem verschwiegenen Fleckchen verscharren würden –, aber sobald sie seinen Dienstausweis überprüft hatten, waren sie kooperativ geworden. Einer sprach gerade in sein Funkgerät. Im Hangar würde es bald vor Militärs wimmeln.
Yates zog eine finstere Miene. Sein Taschentuch sah aus wie aus dem Metzgerladen, aber mehr als das Blut über sein Gesicht zu verteilen, war ihm nicht gelungen. »Ich hab’s doch schon gesagt, Mann, es tut mir echt leid …«
»Ja, ja, schon gut. Mich interessiert, warum genau du mich gesucht hast.«
Yates sagte: »Tommy Moult …«
»Was ist mit ihm?«
»Ich habe ihn im Ort getroffen. Er hat gefragt, ob du heil nach Hause gekommen wärst. Da habe ich mir Sorgen gemacht, ob du, du weißt schon … irgendwie verletzt worden warst.«
In die Luft gejagt, meinte er.
»Scheiße«, sagte River. »Es war seine Idee, oder? Mich auf den Truppenübungsplatz zu bringen? Und mich dort zurückzulassen?«
»Johnny …«
»Stimmt das?«
»Kann sein, dass er so was gesagt hat.«
Der Jeep hatte keine Türen. Er hätte den Scheißkerl problemlos rausschmeißen können.
»Tommy Moult, Mann«, sagte Yates. »Er weiß alles, was in Upshott vor sich geht. Du denkst, er verkauft nur Äpfel von seinem Fahrrad, aber er kennt jeden. Alles.«
So viel hatte River auch schon begriffen. Er sagte: »Er hat mich dorthin gebracht und dafür gesorgt, dass ich gesehen habe, was ich sehen sollte. Und er hat sichergestellt, dass ich rechtzeitig freikam, um einzugreifen.«
»Was redest du denn da?«
»Wo hast du ihn getroffen? Heute Morgen?«
»Hinten an der Kirche.« Yates rieb sich die Wange. »Bist du wirklich ein Geheimagent?«
»Ja.«
»Hat Kelly deswegen –«
»Nein«, erwiderte River. »Sie hat es gemacht, weil sie Lust dazu hatte. Damit musst du leben.«
Der Jeep bog um die Kurve, bremste scharf, und sie waren am Fliegerclub mit seiner Legoland-Landebahn und dem leeren Hangar.
River sprang raus und rannte los.
Roger Barrowby war kreidebleich geworden, was Diana Taverner glücklich machte. Ihr Vormittag war gerettet. Ingrid Tearney war außer Landes; als Budgetchef hätte Barrowby die stellvertretende Leitung des Service beanspruchen können, aber es sah so aus, als ob die einzige schnelle Entscheidung, die er treffen würde, die war, in welche Richtung er kotzen sollte. Die spöttischen Kommentare waren ihm ausgegangen. Er wäre besser im Bett geblieben.
Sie sagte: »Roger, du hast vier Sekunden Zeit.«
»Die Innenministerin –«
»Hat das letzte Wort, aber sie wird sich dabei auf unsere Informationen stützen. Die du jetzt schon hast. Drei Sekunden.«
»Ein Agent im Einsatz? Mehr haben wir nicht vorzuweisen?«
»Nein, Roger. Es ist wie im Krieg.«
»Mein Gott, Diana, wenn das ein falscher Alarm ist …«
»Zwei Sekunden.«
»… werden wir für den Rest unseres Berufslebens die Post sortieren.«
»Genau das macht unsere Position ja so interessant, Roger. Eine Sekunde.«
Er warf die Hände in die Luft. Taverner hatte diese klischeehafte Geste noch nie zuvor gesehen. »Ich weiß nicht, Diana – du hast nichts als die unvollständige Handybotschaft eines Slow Horse draußen in der Provinz. Er hat nicht einmal sein vollständiges Protokoll durchlaufen.«
»Roger – du weißt, was Code September bedeutet?«
»Ich weiß, dass es keine offizielle Bezeichnung ist«, entgegnete er mürrisch.
»Der Countdown ist abgelaufen. Ob das ein Ernstfall ist oder nicht: Wenn du diese Information weiterhin dem Innenministerium vorenthältst, ist das eine schwere Pflichtverletzung!«
Pflichtverletzung: Das ging ihr runter wie Öl.
»Diana …«
»Roger.«
»Was soll ich machen?«
»Da gibt’s nur eines«, antwortete sie und sagte ihm, was das war.
Sie hatten sich zehn Minuten lang unterhalten, ohne dass etwas Sinnvolles dabei herausgekommen war. Arkadi Paschkin hielt sich an allgemeine Themen: die Entwicklung des Euros, wie würde Deutschland sich beim nächsten Mal entscheiden, wenn ein EU -Mitglied einen Rettungsschirm brauchte, was die russische WM -Bewerbung kostete. Spider Webb nahm die Haltung eines Gastgebers auf einer Dinnerparty ein, der darauf wartete, dass ein Gast endlich aufhörte, von seinen Kindern zu erzählen.
Marcus wirkte gelassener, blieb aber wachsam und behielt Kyril und Piotr gleichermaßen im Auge. Louisa dachte an Min – es verging kaum ein Moment, in dem sie nicht an ihn dachte – und wie er diesem Paar auf Anhieb misstraut hatte. Zum Teil, weil das sein Job war, aber auch, weil er Min war und nach Taten dürstete. Ihr Mund füllte sich wieder, und sie schluckte. Paschkin ging auf die Benzinpreise über, den angeblichen Grund für das Treffen, aber Webb sah immer noch nicht glücklich aus. Es läuft nicht so, wie er es sich vorgestellt hat, dachte Louisa. Bis jetzt hat er nicht mehr als hm, verstehe und ja, ja rausgebracht. Es sollte eine Anwerbungsaktion werden, aber er hat überhaupt keinen Plan! Arkadi Paschkin dagegen weiß genau, was er tut. Im Moment scheint er Zeit schinden zu wollen, bis …
Bis plötzlich ein hohes Sirenengeheul ertönte, das von überall gleichzeitig zu kommen schien; von oben, von unten, von draußen vor der Tür. Die Heultöne klangen weniger durchdringend als vielmehr bohrend, drängend, und ihre Botschaft war unmittelbar und unmissverständlich. Raus, und zwar sofort!
Marcus drehte sich zur Fensterfront, als wolle er nach drohender Gefahr Ausschau halten. Webb sprang so plötzlich auf, dass sein Stuhl umkippte. »Was ist das?«, stieß er hervor, was Louisa für die blödeste Frage aller Zeiten hielt. Trotzdem wiederholte sie sie unwillkürlich: »Was ist los?«
Paschkin, der sitzen geblieben war, sagte: »Klingt wie der Notfall, über den wir gestern gesprochen haben.«
»Sie haben davon gewusst!«
Paschkin griff in seinen Aktenkoffer, nahm eine Waffe heraus und reichte sie Piotr. »Ich fürchte, das habe ich.«
Der Hangar sah ohne die Skyhawk größer aus. Die Tore standen weit offen, und das Sonnenlicht erhellte gnadenlos jede Ecke und ließ alles erkennen, was nicht da war. In erster Linie die Düngersäcke. Dort, wo sie gelegen hatten, war etwas von ihrem Inhalt herausgerieselt, als hätte einer der Säcke einen Riss gehabt, aber das war alles.
Yates, der hinter River hereingekommen war, sagte: »Sie ist heute Morgen gestartet. Ich habe sie aufsteigen sehen.«
»Ich weiß.«
»Irgendetwas stimmt nicht, oder? Mit dem Flugzeug.«
Der Dünger lag nicht nur an einer Stelle: River ging auf die Knie und suchte den Boden von so nahe ab, wie es sein ramponierter Körper zuließ.
Ein weiterer Jeep fuhr draußen vor, und er hörte das gepresste Blaffen eines Offiziers. Neue Ärsche wurden aufgerissen.
Über den Beton schlängelte sich eine schwache Spur aus bröckeligem braunen Pulver in Richtung Seitenausgang.
River hatte das Gefühl, dass er am Ende einer langen Schnur saß. Und der Scheißkerl am anderen Ende zerrte daran.
Yates sagte: »Wenn Kelly in Gefahr ist …«
Er beendete den Satz nicht. Aber nach seinem blutbefleckten Gesicht zu urteilen, bedeutete es, dass er in dem Fall den Schuldigen zu Brei schlagen würde.
»Was ist los?«
Und da war der Offizier, in Uniform, ein Attribut, von dem er zu glauben schien, dass es seine Anwesenheit auf zivilem Gelände ausreichend legitimierte.
River sagte zu Yates: »Erklär du es ihm«, und ging zur Seitentür.
»He, Sie! Bleiben Sie stehen, und zwar sofort!«
Doch River war bereits draußen, an der Ostwand des Hangars, von wo aus man auf den Maschendrahtzaun an der Grenze zum Truppenübungsplatz sowie das Gelände selbst blickte, das jetzt eine öde Fläche von sich überlappenden Grüntönen war, und dazu auf einen überquellenden, an einen Zaunpfahl geketteten Mülleimer und einen Stapel Düngemittelsäcke, von denen der oberste auf einer Seite aufgeschlitzt war. Ein dünnes Rinnsal war auf den Boden gerieselt. River trat gegen den Stapel, aber er blieb fest und real.
Dann bekam er Gesellschaft.
»Sie haben meine Männer angegriffen«, raunzte ihn der Offizier an. »Und es heißt, Sie wären vom Geheimdienst. Was ist hier eigentlich los?«
»Ich brauche ein Handy«, sagte River.