16
Oben am Himmel, meilenweit südöstlich, über Londons Außenbezirken – dichtgedrängte Ansammlungen roter und grauer Dächer, verbunden durch gewundene Streifen von baumbegrenztem Asphalt und gefleckt mit Golfplätzen – spürte Kelly Tropper, wie die Aufregung in ihr wuchs. Das war kein gewöhnlicher Flug. Er würde ein anderes Ende nehmen als sonst.
Wie zur Bekräftigung plärrte das Funkgerät. Sie sollten sich sofort identifizieren; falls sie Schwierigkeiten hätten, sollten sie diese unverzüglich melden, andernfalls sollten sie umkehren und auf den angemeldeten Kurs zurückkehren, sonst müssten sie mit schwerwiegenden Folgen rechnen.
»Was meinst du, was das bedeutet? Schwerwiegende Folgen?«
»Ach, mach dir mal keine Sorgen.«
Damien Butterf‌ield sagte: »Ich dachte, wir würden näher rankommen, bevor sie uns bemerken.«
»Das ist schon in Ordnung. Tommy hat vorausgesagt, dass das passieren würde.«
»Aber er ist nicht hier, oder?«
Sie ließ sich nicht herab, darauf zu antworten.
Wie die anderen Mitglieder des Fliegerclubs waren sie und Damien zusammen aufgewachsen; die Kinder von Neuankömmlingen, deren Eltern von größeren, glanzvolleren Orten ins idyllische, verwaiste Upshott gezogen waren. Eine unergründliche Entscheidung, darin waren sich die Kinder einig, und doch waren auch sie alle dort verwurzelt und geblieben. Für Kelly war dies der einzige Weg, Ray Hadleys Flugzeug zu nutzen, für das sie und die anderen jedoch Wartungs- und Mietgebühren zahlten. Manchmal hatte sie sich gefragt, ob es nicht mehr war als das; ob es nicht Feigheit war, die sie in ihrem Heimatort festhielt; die Angst davor, in der großen Welt zu versagen. Obwohl Tommy zu ihr gesagt hatte …
Es war schon komisch mit Tommy; alle glaubten, dass er nur Äpfel vom Fahrrad verkaufte, aber er kannte alle in Upshott, und er wusste über alles Bescheid, was dort geschah, als erhalte er Berichte von jedem, als säße er in der Mitte eines Netzes. Man konnte immer mit Tommy reden, und er wusste stets, was einen im Leben gerade so beschäftigte. Das galt jedenfalls für sie, ihre Freunde und auch ihre Eltern. Ihr Vater versäumte es nie, mit Tommy zu plaudern, wenn er vormittags vor dem Laden stand oder seine Runden durch das Dorf drehte, wo er die kleinen Handlangerarbeiten übernahm, mit denen er sein Geld verdiente. Regelmäßig verschwand er Mitte der Woche, und niemand fand je heraus, wohin. Vielleicht gab es noch irgendwo ein anderes Dorf, wo er eine ähnliche Existenz mit anderer Besetzung führte, aber Kelly hatte über diesen Gedanken noch nie mit jemandem gesprochen, weil man überhaupt nie über Tommy Moult sprach – er war jedermanns Geheimnis. Ja, es war definitiv etwas Merkwürdiges an Tommy, aber dergestalt, dass sie längst aufgehört hatte, sich darüber zu wundern. Er gehörte einfach zum Leben in Upshott dazu, und das war’s.
Es war Tommy gewesen, der ihr erklärt hatte, dass es Mittel und Wege gab, sich selbst zu beweisen, wie tapfer man war und wie man seine Spuren in der Welt hinterlassen konnte. Es gab viele Mittel und Wege.
Inzwischen konnte sie sich nicht mehr recht daran erinnern, wessen Idee es gewesen war; ihre eigene oder die von Tommy Moult.
Neben ihr sagte Damien Butterf‌ield: »Sind wir bald da?«, und lachte über seinen eigenen Witz.
Das Funkgerät quäkte erneut, und Kelly Tropper lachte auch und schaltete es aus.
Irgendwo im Nordwesten stiegen zwei weitere Flugzeuge in die Luft: schlank, dunkel, gefährlich und auf der Jagd.
Der Taxifahrer hatte eine unaufhaltsame Flut von Beschimpfungen über die verdammten Demonstranten von sich gegeben, die nichts anderes erreichten, als hart arbeitende Taxifahrer zu nerven, und wenn jemand wirklich wissen wollte, was mit den Banken passieren sollte –
»Hier können Sie mich rauslassen«, sagte Ho.
Er warf dem Fahrer einen Geldschein zu und sprang hinaus, Shirley Dander genau vor die Füße.
»M-i-i-i-i-i-st!«, stieß sie in einer Art langgezogenem Schluckauf hervor. Ho stellte zufrieden fest, dass sie richtig scheiße aussah.
Sie befanden sich direkt am Vorplatz der Needle, durch deren riesige Glaswände Ho einen echten, lebendigen Wald erkannte – aber bevor er etwas dazu sagen konnte, brach von allen Seiten Sirenengeheul los, als wären alle Autoalarmanlagen der ganzen Stadt auf einmal angesprungen.
»Was ist das denn?«
Für einen Moment dachte Ho, dass die Demo angekommen sei – er konnte sie hören, sie war nicht mehr weit entfernt, abgehackter Gesang und Gegröle wie von einem Fußballpublikum auf Wanderschaft. Aber die Typen, die aus allen Türen herauseilten, trugen Anzüge und stylishe Outfits: eher die Ziele der Demo als Demonstranten. Viele kamen auch durch die Drehtüren der Needle, sichtlich unsicher, wohin sie sich wenden und was sie als Nächstes tun sollten. Die meisten blieben stehen, schauten sich zu dem Gebäude um, aus dem sie herausgekommen waren, und stellten mit einem weiteren Blick auf ihre Umgebung fest, dass das, was hier geschah, überall geschah.
Shirley stand wieder aufrecht. »’kay. Wir gehen rein.«
Ho erwiderte: »Aber alle rennen raus.«
»Mein Gott noch mal – du bist beim MI 5, schon vergessen?«
»Aber hauptsächlich in der IT «, erklärte er, doch sie drängte sich bereits durch die herausströmende Menge.
Die Waffe sah in Piotrs Faust ganz natürlich aus, nicht bemerkenswerter als eine Kaffeetasse oder eine Bierflasche. Er richtete sie auf Marcus. »Hände auf den Tisch!«
Marcus legte seine Hände auf die Tischplatte, die Handflächen nach unten.
»Ihr alle!«
Louisa gehorchte.
Nach kurzem Zögern tat Webb dasselbe. »Scheiße!«, fluchte er. Und noch einmal: »Scheiße!«
Paschkin ließ die Schnallen seines Aktenkoffers zuschnappen. Der Alarm heulte weiter, daher erhob er seine Stimme. »Wir werden Sie jetzt einschließen. Die Türen hier sind recht stabil. Am besten, Sie warten, bis Hilfe kommt.«
Webb sagte: »Aber ich dachte, wir wollten –«
»Halten Sie den Mund.«
»… hier gemeinsam etwas erreichen …«
Kyril sagte: »Du hast etwas erreicht. Du hast uns geholfen.«
»Ich dachte, Sie sprechen kein Englisch?«, bemerkte Louisa.
Marcus sagte: »Die werden uns hier nicht nur einsperren.«
»Ich weiß.«
Kyril sagte etwas, was Piotr zum Lachen brachte.
Der Alarm heulte weiter, schwoll ab, dann wieder an. Andere Stockwerke wurden evakuiert; die Aufzüge mussten bereits stillgelegt und die Türen zu den Treppenhäusern automatisch entriegelt worden sein, so dass der Zugang in beide Richtungen möglich war. Die Leute würden sich draußen um markierte Sammelpunkte scharen, und ihre Namen würden mit Listen der Security oder den aktuell ausgegebenen Keycards abgeglichen werden. Aber aus dem siebenundsiebzigsten Stockwerk würde keiner auf einer dieser Listen erscheinen. Ihre Anwesenheit war inoffiziell.
Webb sagte: »Hören Sie, ich habe keine Ahnung, warum der Alarm losgegangen ist, aber ich verspreche –«
Da schoss Piotr auf ihn.
Siebenundsiebzig Stockwerke weiter unten traten die Leute in Grüppchen hinaus auf die Straße, einige mit dem entnervten Gesichtsausdruck, der mit unwillkommenen Unterbrechungen einhergeht, andere freuten sich über die ungeplante Zigarettenpause, und bei allen – sobald sie erkannten, dass nicht nur ihr eigenes, sondern jedes in Sichtweite befindliche Gebäude evakuiert wurde – schlug sehr schnell die Stimmung um: Sie blieben stehen und blickten zum Himmel. Alle waren an Übungen und Fehlalarme gewöhnt, aber sonst passierten diese nicht überall zugleich. Doch jetzt geschah alles auf einmal, und das Bewusstsein einer möglicherweise nahenden Katastrophe schlug Wurzeln und keimte auf. Der ganze Finanzdistrikt setzte zur Flucht an – in unterschiedliche Richtungen, aber mit klarer Absicht: woanders hinzugelangen, und zwar sofort. Und dennoch tauchten immer wieder neue Menschen auf, denn die Gebäude waren zehn, fünfzehn, zwanzig Stockwerke hoch, und jedes Stockwerk war voller Angestellter. Ob am Schreibtisch, in Besprechungsräumen, rings um Wasserspender gruppiert oder in Fluren plaudernd, hörten alle das Gleiche: den Alarm ihres Gebäudes, der sie anwies, es unverzüglich zu verlassen. Diejenigen, die innehielten, um aus ihren Fenstern zu schauen, sahen, wie sich die Menschenmengen unterhalb zerstreuten. Dies war für eine geordnete Räumung nicht förderlich. Aus Drängeln wurde Schubsen. Die Panik schlug hohe Wellen, und die Stimmen der Vernunft ertranken in der Flut.
Das geschah nicht überall, aber es geschah oft. Als die Stadt ihre Arbeitsbienen vor einem möglichen terroristischen Anschlag warnte, wandten sich einige dieser Bienen gegeneinander und stachen.
Die meisten der daraus resultierenden Verletzungen, so wurde später nachvollzogen, ereigneten sich in den Gebäuden mit Bankern. Nun ja, mit Bankern und Anwälten. So genau konnte man es nicht sagen.
Jackson Lamb, wieder mit einer Zigarette im Mund, ging über eine Überführung im Barbican-Komplex in Richtung Slough House. Über ihm erhob sich Shakespeare oder Thomas More, er konnte sich nie daran erinnern, welcher Turm welcher war, und weiter vorne stand eine vertraute Bank. Er war einmal darauf eingeschlafen und hatte dabei einen Papp-Kaffeebecher umklammert. Als er aufgewacht war, enthielt er zweiundvierzig Pence in Kleingeld.
Er setzte sich jetzt auf diese Bank, um seine Zigarette zu Ende zu rauchen. Über und hinter ihm türmten sich die 70er Jahre, eingearbeitet in Glas und Beton; unter ihm das Mittelalter in Form von St Giles Cripplegate, und im Osten ertönte das zeitgemäße Heulen von Sirenen, das schon seit einiger Zeit angeschwollen war, aber erst jetzt Lambs Geistesabwesenheit durchdrang. Zwei Löschzüge donnerten mit Tatütata an der London Wall entlang, gefolgt von einem Streifenwagen. Lamb hielt inne, die Hand auf halbem Weg zu seinen Lippen. Noch ein Löschfahrzeug. Er ließ die Zigarette fallen und griff stattdessen nach seinem Handy.
Taverner, dachte er. Was hast du getan?
Webb wurde zu Boden geschleudert, und ein dünner rosafarbener Sprühnebel stieg in die Luft und bildete dann ein Muster auf dem Teppich. Marcus und Louisa ließen sich beide gleichzeitig fallen, und ein zweiter Schuss schnitzte ein Stück aus der Tischplatte und hustete Splitter. Aber es gab keine andere Deckung. Sie hatten eine Sekunde, vielleicht weniger, bevor Piotr sich hinhocken und ihnen direkt in die Köpfe schießen würde: In aufsteigender Panik sah Louisa zu Marcus, der etwas von der Unterseite des Tisches riss, etwas, das in seine Hand so natürlich passte wie eine Kaffeetasse oder eine Bierflasche. Er feuerte, und jemand schrie und stürzte zu Boden. Laute Stimmen fluchten auf Russisch. Marcus kroch nach vorn und feuerte erneut. Die Kugel schlug in sich schließende Türen ein.
Auf der anderen Seite des Tisches lag Kyril und umklammerte sein linkes Bein, das unterhalb des Knies eine blutige Masse war.
Louisa holte ihr Handy heraus. Marcus rannte mit der Waffe in der Hand zu den Türen. Als er daran zog, gaben sie gerade so weit nach, dass man ein Bügelschloss erkennen konnte, das durch die äußeren Griffe geführt worden war – ein weiteres Geschenk aus Paschkins verdammtem Aktenkoffer. Marcus zog noch einmal und sprang zurück, als eine Kugel von der anderen Seite in die Türen einschlug.
In der Lobby heulte der Alarm. Trotzdem hörte Marcus, wie die beiden Männer das Treppenhaus am Ende des Flurs betraten.
Als sich die Kundgebung der City näherte – ihr Kopf wand sich um St Paul, ihr Ende reichte über das Viadukt hinaus –, sickerte eine neue Erkenntnis durch sie hindurch, eine Rückkoppelung, die von Twitter angeheizt wurde, so dass die Gerüchte sich auf ganzer Länge gleichzeitig verbreiteten: dass der Finanzdistrikt in Chaos versank, seine Gebäude leer standen. Dass die Finanzpaläste bei der Annäherung des Mobs bröckelten. Mit dieser Nachricht ging ein Stimmungsumschwung einher, der in eine aggressive Siegerhaltung mündete, die Art, die ihren Feind mit aufgeplatztem Schädel auf dem Bürgersteig liegen sehen will. Neue Gesänge wurden angestimmt, lauter denn je. Das Tempo zog an. Doch schon jetzt breitete sich, als Kontrapunkt zu den Anzeichen eines Sieges, eine weitere Bewusstseinswelle in westlicher Richtung aus: dass ihnen die Unterstützung entzogen worden war und Gefahr drohte.
Erste Anzeichen waren Versuche von offizieller Seite, die Demo zu stoppen.
»Aufgrund unvorhergesehener Umstände muss diese Demonstration sofort beendet werden. Bitte, kehren Sie um, und begeben Sie sich ruhig zurück nach Holborn, wo die Demonstration sich auflösen wird.«
Die schwarzen gepanzerten Fahrzeuge, die bisher diskrete Schatten gewesen waren, spuckten aufgepumpte Gestalten mit Schilden und Helmen aus, und Abschrankungen blockierten Cheapside. Irgendwo hinter ihnen befand sich ein Mann mit einem Megaphon.
»Ab hier sind die Straßen gesperrt. Ich wiederhole, die Strecke ist gesperrt und die Demonstration hiermit aufgelöst!«
Das ferne Heulen von Sirenen unterstrich seine Durchsage.
Die Spitze des Mobs hielt inne, erst zwei Minuten, dann vier, schwoll immer mehr an und blockierte die Kreuzung an der Ostseite der Kathedrale. Und doch wurden auf seiner ganzen Länge Botschaften weitergegeben, wie bei einem Wurm, der sich die Nachricht von seiner eigenen Teilung übermittelte. In unterschiedlichem Abstand hinter ihnen hielten weitere Einsatzkommandos der Polizei die Kundgebung auf, leiteten einzelne Gruppen in enge Straßen und auf Plätze um und sperrten diese ab. Das Singen erstarb und gerann zu Wut; Erregung brandete auf und legte sich wieder. Katzen und Hunde, Hexen und Zauberer klammerten sich an die Beine ihrer Eltern, während zuvor friedliche Demonstranten den reglosen Polizisten ins Gesicht schrien, dass die Spucketröpfchen flogen. Über ihren Köpfen dröhnten rhythmisch Hubschrauberrotoren, die ab und zu das schrille Geheul aus der Innenstadt übertönten und manchmal zu dessen Rhythmusgruppe wurden, während aus der Innenstadt selbst eine weniger organisierte Menschenmenge vor den Gerüchten der Zerstörung floh. In einem wilden Durcheinander trafen sie hinter den Reihen der Polizisten ein, die die Cheapside blockierten.
»Die Straßen weiter vorn sind gesperrt, und die Demonstration wird aufgelöst!«
Die erste Flasche wirbelte in einem flachen Bogen aus der Mitte der Menge hervor. Sie drehte sich um ihre Querachse und verspritzte Flüssigkeit, die Wasser, genauso gut aber auch Pisse hätte sein können, auf die Köpfe der Polizisten darunter, bevor sie auf der Straße zerbrach. Weitere Flaschen folgten.
Und über die ganze Länge des Demonstrationszuges hinweg, versteckt zwischen dem ursprünglichen Mob, der nun zu einer Ansammlung kleinerer Mobs zerfallen war, vernahmen die mit den Masken in den Taschen ihr Stichwort und streiften sie über. Die Zeit war reif, Glas zu zerschlagen, Autos in Brand zu stecken und Steine zu werfen.
Die ersten Flammen loderten auf wie zarte Frühlingsblüten: leicht vom Wind davongetragen und kilometerweit verstreut.
»Es ist eine glaubwürdige Drohung, Lamb.«
»Glaubwürdig? Irgendein Sonntagspilot soll in ein Gebäude in der Innenstadt fliegen – bist du dir sicher?«
»Sicher genug, um kein Risiko einzugehen.«
»Ihr wollt es abschießen?«
»Die Harriers sind schon in der Luft. Sie werden tun, was nötig ist.«
»Über der Innenstadt?«
»Wenn es erforderlich sein sollte.«
»Bist du verrückt geworden?«
»Jackson! Jetzt ist das eingetreten, was wir seit Jahren befürchten! Das oder etwas Ähnliches.«
»Was, eine Billigausgabe vom 11. September? Glaubst du, ein ausgeknockter sowjetischer Schnüffler würde so etwas tun? Katinsky ist ein Überbleibsel des Kalten Krieges, kein Barbar der Neuen Weltordnung, Herrgott noch mal!«
»Ach, glaubst du etwa, es ist ein Zufall, dass das Treffen mit Arkadi Paschkin –«
»Es geht hier nicht um Paschkin, Taverner. Selbst wenn Moskau wüsste, dass du und Webb einen Plan zu seiner Rekrutierung ausgeheckt habt, würden sie so was nicht tun. Sie würden warten, bis er nach Hause kommt, und ihn dann unter eine Stahlpresse legen.«
»Lamb –«
»Man hat uns an diesen Punkt gelockt, Schritt für Schritt. Der Tod von Dickie Bow, die Spur nach Upshott – das ist so unübersehbar wie eine beleuchtete Landebahn! Der Mord an Min Harper ist das Einzige, was sie zu vertuschen versucht haben. Was auch immer hier wirklich vor sich geht – es ist nicht das, was wir denken. Was passiert da bei der Needle?«
Taverner sagte: »Wir haben die höchste Sicherheitsstufe ausgerufen. Die Feuerwehr ist im Großeinsatz.«
Lamb fragte: »Was passiert, wenn das Gebäude abgeriegelt wird?«
Im Büro des Fliegerclubs hatte sich die Lage verändert: Der Kühlschrank war noch da, die Stühle ebenso, und auf dem alten Schreibtisch stapelte sich noch immer der Papierkram. Der Kartonstapel war jedoch zu einer zusammengesackten Pyramide geworden, und die Kunststoffplane lag zerknittert auf dem Boden. River hatte sich hingekniet und die Kartons durchsucht. Sie enthielten Papier, Stapel von DIN -A 4-Blättern, von denen zwei Exemplare auf dem Boden eines Kartons klebten. Beide zeigten das gleiche Design.
Grif‌f Yates stürmte keuchend herein. Sein Gesicht war noch immer blutverschmiert, aber in einer Hand hielt er ein Handy. »Das habe ich ausgeliehen.«
River griff danach und tippte mit dem Daumen Zahlen ein, noch bevor sein Gehirn sie verarbeiten konnte. »Catherine? Es ist keine Bombe!«
Einen Moment lang antwortete sie nicht.
»Catherine? Ich habe gesagt –«
»Aber was ist es dann?«
»Hast du Alarm geschlagen?«
»River … Du hast einen Code September durchgegeben!«
»Ja, aber es ist nicht mal eine –«
»Ich weiß, was es nicht ist. Aber ich weiß, was es bedeutet. Also habe ich im Park angerufen. Was ist los, River?«
»Wie hat der Park reagiert?«
»Terroralarm ausgelöst. Höchste Gefahrenstufe.«
»Ach du Scheiße!«
»Die Hochhäuser werden evakuiert, insbesondere The Needle, wegen der Russen-Sache. River, jetzt sag doch was!«
»Es gibt keine Bombe. Das Flugzeug plant keinen Terroranschlag.« Er sah sich die Zettel in seiner Hand an. Beide zeigten Kopien desselben Bildes: eine stilisierte Stadtlandschaft, deren höchster Wolkenkratzer von einem gezackten Blitz getroffen wurde. Unten auf jeder Seite stand der Slogan STOP THE CITY . »Die wollen die Demo mit Flugblättern versorgen.«
»Wie bitte?«
»Flugblätter, Catherine. Sie wollen Flugblätter über der Demo abwerfen. Aber jemand, irgendjemand wollte, dass wir glauben, es wäre eine Bombe im Flugzeug. Der Terroralarm, das ist der springende Punkt. Die Evakuierung!«
»The Needle!«, sagte sie.
Louisa hatte keinen Empfang. Marcus auch nicht. Das mikrophonförmige Gerät auf dem Tisch war weg; Paschkin und Piotr hatten es mitgenommen, aber es war immer noch in der Nähe und blockierte ihre Handys.
Louisa hatte Webb untersucht. Die Kugel hatte ihn in die Brust getroffen, aber er lebte noch. Noch. Sein Atem blubberte aus ihm heraus und ging pfeifend wieder hinein. Louisa tat, was sie konnte, was nicht viel war, und wandte sich dann an Marcus, der über Kyril stand.
»Hast du das gestern unter den Tisch geklebt?«
Die Waffe, meinte sie. Aber wie sonst hätte sie dorthin gelangen können?
»Ich wollte nur die Risiken minimieren«, antwortete Marcus. »Ich begebe mich nicht blind in solche Situationen. Nicht mit Feinden.«
Kyril war bei Bewusstsein und stöhnte; ein dumpfer Kontrapunkt zum schrillen Wehklagen des Alarms. Louisa legte ihre Hand auf sein verwundetes Bein. »Tut das weh?«
Er fluchte auf Russisch.
»Ach, stimmt ja. Du sprichst kein Englisch. Tut das weh?« Sie drückte fester.
»Scheißgottverdammte Schlampe!«
»Ich glaube, das heißt ›ja‹. Was ist hier eigentlich los?«
Marcus war in die Küche gegangen.
»Sie haben dich zurückgelassen. Glaubst du, sie kommen wieder?«
»Arschlöcher!«, fluchte er. Vielleicht meinte er damit seine abtrünnigen Kumpel.
»Wo sind sie hin?«
»Unten …«
In der Küche hörte sie Glas splittern. Marcus tauchte mit der Brandaxt in der Hand wieder auf.
Louisa wandte sich wieder Kyril zu. »Unten«, sagte sie, und dann dämmerte ihr etwas. »Rumble? Ihr neues Smartphone? Darum geht es hier also? Ihr klaut einen verdammten Prototypen?«
Marcus schwang die Axt, und die Türen bebten.
Louisa legte ihre Hand noch einmal auf die Wunde des Mannes auf dem Boden. »Bevor mein Kollege da fertig ist«, sagte sie, »wirst du mir sagen, warum Min sterben musste.«
Draußen wehte ein warmes Frühlingslüftchen, gesättigt mit Blütenstaub. Der cholerische Offizier wusste inzwischen, dass es hier nicht um unerlaubtes Betreten des Truppenübungsplatzes ging. Am Handy ließ er sich bestätigen, dass landesweiter Großalarm ausgerufen worden war. Grif‌f Yates wusch sich irgendwo das Gesicht. Ein paar Meter weiter stand einer der beiden Soldaten, mit denen sie aneinandergeraten waren, unbeachtet neben seinem Jeep.
River zeigte ihm noch einmal seinen Dienstausweis. »Ich muss dringend in den Ort.«
»Schon klar.«
»Und Sie werden nach diesem Vormittag einen Freund brauchen«, fügte River hinzu und dachte bei sich: ich auch. »Bringen Sie mich in den nächsten zwei Minuten zurück ins Dorf, und Sie haben einen.«
»Sind Sie James Bond oder was?«
»Wir gehen ins gleiche Fitnessstudio.«
»Aha …« Ein Raubvogel flog kreischend über sie hinweg.
»Ach, was soll’s. Los, steigen Sie ein.«
River nutzte die zweiminütige Fahrt, um noch einmal mit Catherine zu telefonieren. »Wurden die Harriers zurückgepfiffen?«
»Ich weiß es nicht, River.« Ihre Stimme klang ungewohnt zittrig. »Ich habe den Park angerufen, aber – hast du zufällig einen Fernseher in der Nähe?«
»Nein, zufällig nicht.«
»In London ist die Hölle los. Die Hälfte der Leute versucht rauszukommen, die Demo versucht reinzukommen: Mein Gott, River … Das ist unsere Schuld!«
Meine, dachte er.
Er sagte: »Und mir hat man gesagt, King’s Cross würde ich niemals toppen«, aber sein Magen wurde von Angst zusammengeschnürt.
»Aber diesmal bist du dir ganz sicher, ja? Das Flugzeug steuert nicht auf The Needle zu?«
»Nein. Catherine, man hat uns an der Nase herumgeführt. Mich, Lamb, alle. Du brauchst kein Flugzeug in ein Gebäude zu steuern, um Chaos auszulösen. Du brauchst nur allen weiszumachen, du würdest es tun.«
»Da steckt noch mehr dahinter. Dieser Russe, Paschkin? Der ist ein Fake.«
»Aber wer ist er dann?«
»Ich weiß es noch nicht. Ich kann Louisa nicht auf dem Handy erreichen, Marcus auch nicht. Aber Ho ist auf dem Weg zur Needle. Zusammen mit Shirley.«
»Das gehört alles zusammen«, stellte River fest. »Es kann nicht anders sein. Lass nicht zu, dass sie das Flugzeug abschießen! Catherine! Die Pilotin wurde reingelegt, genau wie wir!«
»Ich tue, was ich kann!«
River schlug frustriert auf das Dach des Jeeps. »Hier«, sagte er. »Hier!«
»Hinten an der Kirche«, hatte Yates gesagt. Dort war Tommy Moult gewesen. Bei der Kirche, am Ende der Hauptstraße.
Der Jeep hielt vor dem Eingangstor von St. John of the Cross an, und River sprang raus und rannte los.
Als Marcus die Axt schwang, bebte der Boden mit lautem Knirschen, und Louisa schrie: »O Gott, warst du das?«
Er hielt inne; die Axt steckte zentimetertief in der Tür. »Plastiksprengstoff«, sagte er und zog die Axt heraus.
Plastiksprengstoff. Sie sah Kyril an. »War das der Plan? Terrorwarnung, das Gebäude wird evakuiert, und ihr sprengt euch zu Rumble rein?«
»Geht um Millionen«, sagte er durch die zusammengebissenen Zähne.
»Logisch. Keiner betreibt einen solchen Aufwand für Kleingeld.«
Ein weiteres dumpfes Knirschen. Die sprengten da unten die Türen, und sie würden nicht lange brauchen. Dann mussten sie nur noch runter ins Erdgeschoss, sich unters Volk mischen und verschwinden. Niemand würde sie beim Verlassen des Gebäudes registrieren, weil niemand sie angemeldet hatte. Ein Wagen würde auf sie warten, und sie waren jetzt einer weniger, mit dem sie die Beute teilen mussten.
Bämm!, knallte die Axt, und Splitter flogen.
Louisa trat Kyril. »Min hat ihn gesehen, oder?«
Der Russe stöhnte. »Mein Bein. Ich brauche einen Arzt!«
»Min hat Paschkin gesehen, oder wer auch immer er in Wirklichkeit ist. Obwohl er in Moskau sein sollte und angeblich ein verdammter Ölbaron ist. Was er natürlich nicht ist, denn sonst hätte er nicht eine billige Absteige an der Edgware Road gemietet. Das Ambassador ist ein bisschen teuer, nicht wahr? Das bucht man nur, wenn man es muss. Wenn man nämlich kein beschissener Ölbaron ist, sondern bloß ein verdammter Dieb. Und deshalb musste Min sterben!«
»Ich wollte das nicht. Wir haben etwas zusammen getrunken, das war alles! Mein Bein –«
Bämm!
»Ich sag dir was, Kyril. Sobald ich deine Scheißfreunde in eine Kiste gebracht habe, komme ich wieder und kümmere mich um dein Bein, ja?« Sie neigte sich tief zu ihm hinunter. »Schließlich haben wir eine Axt.«
Nichts an ihrem Gesichtsausdruck deutete darauf hin, dass sie scherzte.
Das nächste Bämm wurde von einem Klang gefolgt.
»Durch«, sagte Marcus.
Louisa tätschelte noch einmal Kyrils zerschmettertes Bein und eilte zur Tür.
Sie war noch nie zuvor in Funkstille geflogen, und es fügte dem Morgen eine seltsame Dimension hinzu, als ob all dies in einem Traum geschähe, in dem das Vertraute – das Instrumenten-Panel vor ihr, der Blick auf den leeren Himmel, Damien an ihrer Seite – auf das Unbekannte traf. London gerann zu einer amorphen Masse von Dächern und Straßen, Stadtteilen, die von Bussen und Autos zusammengehalten wurden.
Hinter ihnen stapelten sich Berge des Flugblatts, das sie entworfen hatte und das den Demonstranten sagen sollte, was sie zu tun hatten – STOP THE CITY , ZERSCHLAGT DIE BANKEN ! Wie genau, wurde nicht dazugesagt, aber das reichte erst mal, um den Kreuzzug ansatzweise zu rechtfertigen. Es gab Gier und Habsucht und Korruption auf der Welt, und die würde es wahrscheinlich immer geben, aber das war keine Entschuldigung dafür, nicht wenigstens zu versuchen, etwas zu verändern.
»Wir sollten das Funkgerät einschalten«, meinte Damien. »Es ist gefährlich, so zu fliegen. Und illegal.«
»Mach dir keine Sorgen«, erwiderte sie. »Wir sind zu tief, um andere Flugrouten zu kreuzen.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass wir so –«
»Was glaubst du wohl, werden die machen? Uns abschießen? Meinst du wirklich, die knallen uns ab?«
»Na ja, das nicht, aber …«
»Nur noch ein paar Minuten, dann sind wir über dem Zentrum. Dann sehen die, was wir vorhaben, und tja, dann eskortieren sie uns nach Hause, und wir werden verhaftet und bestraft und so weiter. Das wussten wir aber vorher. Ich dachte, du hättest Eier in der Hose!«
Doch dann hörte sie neben dem Brummen des Skyhawk-Motors eine Bassnote, ein tiefes Dröhnen, ein zweistimmiges Dröhnen, und in diesem Moment eröffnete sich Kelly Tropper eine ganz andere Zukunftsvision, eine, in der sie sich nicht als radikale Draufgängerin beweisen und ihre selbstentworfenen Flugblätter auf die marschierenden Demonstranten abwerfen konnte, sondern in der sie als Demonstrationsobjekt dafür dienen würde, wie weit eine gebrannte Nation gehen konnte, um sich selbst zu schützen. Aber das schien so weit hergeholt, derart im Widerspruch zu dem Szenario, das sie geplant hatte, dass sie es schaffte, es zu verdrängen, sogar als Damien voller Angst hervorstieß, dass die Idee wohl doch nicht so gut war, wie sie im Downside Man geklungen hatte, und sie vielleicht trotz allem abgeschossen würden.
Aber Letzteres konnte Kelly nicht glauben. Also flogen sie weiter ins Herz von London hinein, dessen Gebäude jetzt immer näher zusammen- und die Freiflächen weiter auseinanderrückten, selbst als das Dröhnen, das sie über das Brummen ihres eigenen Flugzeugs hinweg hörte, lauter wurde, immer lauter, bis es alle anderen Geräusche verschluckte.
Tommy Moult, oder besser: der Mann, der früher Tommy Moult gewesen war, wartete auf dem Friedhof von St Johnno, auf der Holzbank, die dort kürzlich zum Gedenken an Joe Morden, der diese Kirche geliebt hat, aufgestellt worden war. Sie stand gegenüber der Westseite der Kirche, auf der sich der Glockenturm befand und durch deren Fenster die untergehende Sonne später das Innere der Kirche in warmes zartrosa Licht tauchen würde. Augenblicklich lag sie im Schatten. Moult hatte seine rote Mütze abgelegt, ebenso wie das weiße Haar, das in Büscheln darunter hervorgeschaut hatte und das im Dorf ein ebenso vertrauter Anblick gewesen war wie die Weißdornbäume, die das Tor zum Kirchengelände flankierten. Die Glatze ließ ihn älter aussehen. Er stand nicht auf, als sich River näherte. Er schien in die Betrachtung der mittelalterlichen Kirche versunken zu sein, um die Upshott sich seit jeher in seinen verschiedenen Metamorphosen scharte. In einer Hand hielt er ein iPhone. Die andere, die locker auf der Armlehne der Bank ruhte, konnte River nicht erkennen.
River sagte: »Hektischer Morgen.«
»Nicht hier.«
»Sie sind Nikolai Katinsky, oder? Lamb hat mir von Ihnen erzählt.«
»Manchmal bin ich das.«
»Ich schätze, dann sind Sie zugleich Alexander Popow«, fuhr River fort. »Oder jedenfalls der Mann, der ihn erfunden hat.«
Jetzt schien Katinsky aufzumerken. »Das haben Sie ganz allein herausgefunden?«
»Es scheint mir zu diesem Zeitpunkt irgendwie offensichtlich zu sein«, erwiderte River. Er setzte sich ebenfalls auf die Bank, mit einer halben Armlänge Abstand zu Katinski. »Ich meine, so, wie Sie uns an der Nase herumgeführt haben. Das war doch nicht das Werk eines Betrügers mit einer nicht existenten Sprachschule. Geschweige denn das eines einfachen Chif‌frierers.«
»Hacken Sie nicht auf den Chif‌frierfachleuten herum«, entgegnete Katinsky. »Wie in jedem Bereich des öffentlichen Dienstes wird die gesamte Arbeit auf der unteren Ebene der Nahrungskette geleistet. Alle anderen haben nur Meetings.«
Im Schatten des Turms sah er aschfahl aus, und obwohl er fast kahl war, bedeckten Stoppeln sein Kinn und seine Wangen. Sie waren ebenso grau wie seine Augen, die wie Abdeckungen auf Brunnen aussahen, um Unfälle zu verhüten: Dinge, die hineinfielen. Dinge, die rauskamen.
»Am 7.7.«, fuhr River fort, »hat London die Fassung bewahrt. Das gab uns das Gefühl, die Oberhand gewonnen zu haben, egal, wie viele Tote wir zu begraben hatten. Aber heute Morgen geht’s in der ganzen Stadt schlimmer zu als beim Sommerschlussverkauf.«
Katinsky winkte mit seinem Handy ab. »Ich hab’s mir angesehen.«
»Ist es bei alldem darum gegangen?«
»Nein, das ist nur eine Begleiterscheinung. Ihr Mr  Paschkin – der leider auch nicht so heißt – macht sich das Chaos zunutze, um die Mieter der Needle von einigen ihrer Vermögenswerte zu befreien.« Moult blickte erneut auf sein Smartphone. »Er hat bisher aber noch nicht angerufen. Möglicherweise läuft nicht alles nach Plan.«
»Seinem Plan. Nicht Ihrem.«
»Wir haben unterschiedliche Ziele.«
»Aber Sie arbeiten zusammen.«
»Er hat Zugang zu einigem, was ich brauchte. Zu Andrei Tschernitzki zum Beispiel. Vor ein paar Jahren haben Andrei und ich Ihren Freund Dickie Bow entführt. Ich baute die Popow-Legende auf und wollte, dass einer Ihrer Leute einen Blick auf ihn erhaschen konnte, allerdings keiner, der so zuverlässig war, dass man seiner Aussage Glauben schenken würde. Wenn man eine Vogelscheuche baut, tut man es nicht auf dem offenen Feld, verstehen Sie.«
»Ja, im Großen und Ganzen.«
»Tja, aber seit damals ist Andrei, ebenso wie eine bedauerliche Anzahl ehemaliger Oberligaspieler, in die Privatwirtschaft abgewandert, um seine Brötchen zu verdienen. Kurzum, er war im Einsatz für einen, den wir der Einfachheit halber weiterhin Arkadi Paschkin nennen sollten.«
»Sie brauchten Tschernitzki, um eine Spur zu legen, der Dickie Bow folgen würde.«
»Genau. Daher trafen Paschkin und ich eine für beide Seiten vorteilhafte Vereinbarung, von der er schon jetzt profitiert. Oder es zumindest versucht. Wie ich schon sagte, er hat nicht angerufen.«
River schüttelte den Kopf. Er hatte am ganzen Körper Schmerzen, aber dennoch spürte er, wie ihn ein großes Staunen durchpulste. Zum ersten Mal in seinem Leben stand er dem Feind gegenüber. Um genau zu sein: nicht seinem Feind, sondern dem seines Großvaters und Jackson Lambs. Er verlieh der Geschichte ein Gesicht, mit der frühere Schnüffler sich auseinandergesetzt hatten, und es geschah hier, auf einem ländlichen Friedhof, bezeugt nur von unbeteiligten Toten.
Er sagte: »Und das war alles? Sie stürzen London für einen Morgen ins Chaos, mehr nicht? Mein Gott, was für eine Energieverschwendung. Ein paar entsetzte Leitartikel, und dann gerät das Ganze wieder in Vergessenheit.«
Katinsky lachte. »Wie lautet Ihr Name? Ihr richtiger Name?«
River schüttelte den Kopf.
»Dachte ich mir. Sie haben nicht zufällig eine Zigarette für mich, oder?«
»Rauchen ist ungesund.«
»Schimmert da etwa Sinn für Humor durch? Dann besteht ja noch Hoffnung für uns.«
»Ist es sonst nichts für Sie? Nichts als ein einziger großer Witz?«
»Wenn Sie so wollen«, erwiderte Katinsky. »Sagen Sie, möchten Sie vielleicht die Pointe hören?«
Er musste im zwanzigsten Stock sein, glaubte Roderick Ho, heftig keuchend, den Geschmack von Blut im Mund. Mindestens im zwanzigsten. Er hatte sich in Shirley Danders Kielwasser durch die Lobby geschlagen und mit seinem Ausweis dem einsamen Wachmann zugewedelt, der wacker seinen Posten hielt, obwohl die Stadt zusammenbrach; dann war er dessen Zeigefinger zur Treppe gefolgt, die endlos nach oben führte. Und jetzt musste er mindestens im zwanzigsten Stock sein, und Shirley war außer Sichtweite. Er hörte nichts außer dem lauten Jaulen der Alarmanlage, das im Treppenhaus durch den Widerhall der Wände und Stufen noch verstärkt wurde, während er wie ein Hund hechelte, auf alle viere gestützt, die Stirn auf die Stufe darüber gelegt. Speichel tropfte von seinen Lippen. Er sah alles verschwommen. Wozu tat er das?
Louisa und Marcus in Schwierigkeiten – egal.
Paschkin nicht der, der er angeblich war – egal.
Shirley Dander hielt ihn für ein Weichei – egal.
Er hätte in seinem Büro sitzen und im Internet tief‌tauchen sollen.
Mein Gott – du bist beim MI 5 , schon vergessen?
Auch das – egal.
Ihm fiel ein, dass das Programm, das er geschrieben hatte, um seine Arbeitsabläufe zu fälschen, inzwischen angelaufen sein müsste, und jeder, der ihn aus der Ferne überprüfte, würde ihn intensiv bei der Arbeit am Archiv sehen: Sortieren und Speichern, Sortieren und Speichern. Wenn er Luft zum Atmen gehabt hätte, hätte er gelacht. Zu schade, dass er niemanden hatte, mit dem er den Witz teilen konnte, denn er war schließlich ziemlich lustig.
Wie hieß sie gleich noch: Shona? Shana? Die Tussi aus dem Fitnessstudio, die er treffen wollte, nachdem er ihre Beziehung zerstört hatte? Nur, dachte er, dass er das wohl nie tun würde. Ihre Beziehung zerstören, ja, oder jedenfalls virtuell Sand ins Getriebe werfen – das konnte er ohne Probleme bewältigen. Aber tatsächlich auf sie zugehen und mit ihr reden? Das würde nie passieren. Und selbst wenn – wie sollte er ihr das Programm erklären, das er geschrieben hatte, um seine Arbeitsabläufe zu simulieren?
Andererseits wusste Catherine Standish Bescheid. Und Roddy hatte tatsächlich das Gefühl, dass sie es ziemlich amüsant fand.
Wenn er es sich genau überlegte, hatte er es deswegen getan. Er war hier, weil sie ihm gesagt hatte, er solle hier aufschlagen. Um Louisa Guy und Marcus oder weiß Gott wem zu helfen.
Seufzend raffte er sich auf und taumelte aufwärts in Richtung des 21. Stockwerks.
Das in Wirklichkeit erst das zwölf‌te war.
Marcus sprang durch die Brandschutztüren, tief geduckt, die Arme ausgestreckt, die Waffe nach vorne gerichtet, dann nach links, nach rechts, nach oben. Nichts. Er sagte: »Sauber!«, und Louisa folgte ihm hinaus ins Treppenhaus. Sie waren auf dem 68., und das Logo auf den Glastüren lautete Rumble  – in einer windschnittigen Schrift. Innen brannte Licht, aber es war niemand zu sehen. Die Rezeption, vor einer riesigen Reproduktion von A Bigger Splash, war nicht besetzt. Marcus versuchte es an der Tür. Sie ließ sich nicht öffnen.
»Vielleicht haben sie hinter sich abgeschlossen.«
»Sie haben Plastiksprengstoff benutzt!«, erwiderte Marcus. Er trat nahm Anlauf und trat zu, aber ohne Erfolg. Der Aufprall wurde vom Alarm verschluckt, und niemand erschien in der Rumble-Suite.
»Was denkst du?«
»Vielleicht sind sie durch eine Wand gebrochen.«
»Oder …«
Marcus hob eine Augenbraue.
Louisa sagte: »Vielleicht hat Kyril auch gelogen. In welchem Stockwerk sitzen die Diamantenheinis?«
Ein Atemzug, zwei Atemzüge. Ein Atemzug, zwei.
Es gab eine City-Challenge, Shirley hatte ein Plakat davon gesehen: Man rannte bis in die oberste Etage eines Wolkenkratzers, dann wieder runter, dann zum nächsten und da wieder rauf und runter. Es musste für wohltätige Zwecke sein; zum Spaß machte das doch keiner. Sie fragte sich, wie viele Leute auf halbem Weg abkratzten.
Ihre Beine waren Mus. Auf einem Schild an einer Brandschutztür stand 32. Sie hatte niemanden mehr gesehen, seit im 20. Stock ein derangiertes Pärchen ins Treppenhaus geplatzt war und gefragt hatte: »Kommen wir zu spät?«, als hätten sie den Notfall verpasst. Shirley hatte stumm nach unten gezeigt und war weitergestiegen.
Inzwischen musste sie sich an das ständige Heulen des verdammten Alarms im Treppenhaus gewöhnt haben, denn sie nahm noch andere Geräusche wahr – eine Art Explosion vor ein paar Minuten: nichts, was man so hoch oben hören wollte.
Sie hatte bisher weder Louisa noch Marcus erreicht, aber mit Catherine gesprochen, die ihr gesagt hatte, dass es ein Fehlalarm war. Es stand kein Terrorangriff bevor. Obwohl sich das Geräusch eben durchaus wie eine Bombe angehört hatte, wenn auch eine kleine.
Ein Atemzug nach dem anderen, von denen mindestens einer ein Seufzer war. Arkadi Paschkin war nicht der, für den er sich ausgab, und hatte zwei Schläger im Schlepptau. Shirley hatte keine Waffe, aber es wäre nicht das erste Mal, dass sie jemanden mit bloßen Händen zu Boden schickte. Wenn sie recht darüber nachdachte, war sie deswegen überhaupt in Slough House gelandet.
Es spielte keine Rolle, dass ihre Beine schlotterten und sie nicht mal die Hälfte geschafft hatte. Die Stadt versank im Chaos, und das schien Paschkins Plan gewesen zu sein. Also wollte sie nicht keuchend hier liegen, während Guy und Longridge es im Alleingang stoppten. Nicht, wenn es um ein Ticket zurück nach Regent’s Park ging.
Zähneknirschend nahm sie die nächste Treppe in Angriff.
Hoch über ihr hörte sie wieder Lärm. Klang wie ein Schuss.
Der fünfundsechzigste. De Koenig. Der Diamantenhändler. Der Vorraum dort war im Wüstendesign gestaltet, mit Seidenstoffen an den Wänden und einer Palmengruppe, die das Herzstück bildete, jetzt allerdings von der Explosion geknickt und zerzaust war, die den Boden zwölf Stockwerke weiter oben erschüttert hatte. Noch immer stieg Rauch zur Decke auf, und alle nicht befestigten Möbel waren gegen die rechte Seite des Raumes geschleudert worden. Mitten in der gegenüberliegenden Wand hing eine Metalltür in den Scharnieren.
»Sie sind weg«, stellte Louisa fest.
»Gehe nie von der einfachsten Lösung aus.« Marcus durchtrat die Metalltür genau so, wie er die Suite betreten hatte: in alle Richtungen sichernd. Louisa folgte ihm.
Es war ein Tresorraum, gesäumt von schmalen Schließfächern, von denen ein gutes Dutzend aufgesprengt worden war. Am Boden glitzerte etwas, das wie ein Glassplitter aussah, aber auf den zweiten Blick erkannte Louisa, was es war – o mein Gott, ein Diamant von der Größe eines Fingernagels! Und da lag auch Piotr. Ein Teil seines Kopfes fehlte, war von einer Kugel weggerissen und an der nächsten Wand verteilt worden.
»Paschkin reist mit leichtem Gepäck«, bemerkte Marcus.
»Er muss auf der Treppe sein!«
»Dann los!«
Sie rannten wieder zum Treppenhaus, aber an der Brandschutztür hielt Louisa inne. »Er könnte in jedem Stockwerk sein.«
»Er will raus. Wenn die Panik abebbt, kommt er nicht mehr so leicht davon.«
Er neigte sich zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die Angst pulsierte in ihnen, obwohl der Alarm leiser zu werden schien, als würden ihm die Batterien ausgehen.
Louisa prüfte ihr Handy. »Immer noch kein Empfang«, seufzte sie. »Und Webb verblutet, soweit wir wissen. Wir müssen einen Festnetzanschluss finden!«
Marcus sagte: »Okay. Ich suche weiter.«
»Sofort schießen!«, sagte Louisa.
Marcus lief die schier endlose Treppe hinunter, und Louisa kehrte zurück in die Geschäftsräume von de Koenig.
»Sie waren ein Kremlkopf.«
»Ja. Bis ich stattdessen Moskauer Chif‌frierer wurde. Mit gerade genug Informationen, um Zugang zu Ihrem Jerusalem zu erhalten.«
»Sie haben Popow erfunden, von dem wir wussten, dass er eine Legende war. Also dachten wir, die Cicadas wären auch eine, aber sie waren echt. Warum haben Sie sie nach Upshott verlegt?«
»Na ja, sie mussten schließlich irgendwohin«, antwortete Katinsky. »Nach dem Zerfall der Sowjetunion. Außerdem waren es Schläfer, und wo hätte man besser schlafen können?«
»Sie waren wichtige Agenten.«
»Sie waren kluge, talentierte Leute, mit Kontakten zu Leuten mit Kontakten, und sie reichten bis ins Herz des Establishments hinein. Es wäre ein interessantes Spiel geworden, wenn es nicht ein vorzeitiges Ende genommen hätte.«
»Sie meinen, wenn Sie nicht verloren hätten, hätten Sie vielleicht gewonnen?«, fragte River. »Wissen sie es eigentlich? Ich meine, wissen sie voneinander?«
Katinsky lachte. Er lachte so heftig, dass er anfing zu keuchen und eine Hand hob, als wolle er River dazu bringen, sofort aufzuhören. Es war die Hand, in der er sein iPhone hielt. Die andere befand sich weiterhin außerhalb von Rivers Blickfeld.
Endlich sagte er: »Nein, das glaube ich eigentlich nicht. Obwohl sie Verdacht geschöpft haben könnten.«
River sagte: »So viele Jahre sind vergangen, und jetzt haben Sie beschlossen zu auferstehen. Es muss einen Grund dafür geben. Sie sind todkrank, nicht wahr?«
»Leberkrebs.«
»Der gehört zu den schmerzhaften. Tut mir leid.«
»Danke. Du mochtest das Mädchen, oder? Die kleine Kelly Tropper. Ich meine, ich weiß, dass du sie gevögelt hast, aber es ging über das Geschäftliche hinaus, nicht wahr? Spione vögeln Mädchen, wenn sie dazu aufgefordert werden, und junge Männer vögeln Mädchen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Wer warst du, als du mit ihr geschlafen hast, Walker?«
»Hat es Ihnen etwas ausgemacht, sie in den Tod zu schicken?«
»Sie zu schicken? Sie würde erwidern, dass es ihre Idee war.«
»Natürlich hat sie das geglaubt. Warten Sie wirklich auf einen Anruf?«
»Vielleicht. Vielleicht warte ich auch darauf, einen zu machen.«
»Sie wissen, dass es vorbei ist.«
»Das ist es schon lange«, erwiderte Katinski. »Aber ein Gutes hat es, wenn man stirbt. Man rafft sich auf, klar Schiff zu machen.«
»Rechnungen zu begleichen«, ergänzte River.
»Ich ziehe es vor, es als die Wiederherstellung eines Gleichgewichts zu betrachten. Sie glauben doch nicht etwa, hier ginge es um Ideologie, oder?«
»Na ja, ich glaube nicht, dass es um einen Raubüberfall geht. Warum Upshott?«
»Haben Sie schon einmal gefragt.«
»Sie haben meine Frage aber nicht beantwortet. Sie haben absolut nichts dem Zufall überlassen. Sie sind aus einem bestimmten Grund hierhergekommen.«
Die Sonne versuchte, den Glockenturm zu erhellen, und mit etwas Zeit und Geduld würde es ihr gelingen. Es war schon immer so gewesen. Hinter ihnen wärmten sich Grabsteine auf, aber die Bank blieb im Schatten. Katinsky erweckte den Eindruck, dass er hierhergehörte. Trotz seiner greifbaren Gestalt rechnete River fast damit, dass er verdunsten würde, sobald ihn die Sonnenstrahlen berührten.
»Was glauben Sie denn?«
Nein, dachte River, er erinnert mich nicht an meinen Großvater. Er erinnert mich an Jackson Lamb.
Er sagte: »Das hier ist England.«
»Ach, kommen Sie. Dasselbe kann man von Birmingham behaupten. Oder von Crewe.«
»Das hier ist das Postkarten-England. Mittelalterliche Kirche, Dorfkneipe, Dorfanger. Sie wollten Ihr Netzwerk im Herzen des Inbegriffs vom ländlichen England parken.«
Katinsky nickte wie eine unwillige Lehrerin. »Könnte sein. Was noch?«
River sagte: »Als Sie Upshott auswählten, gab es hier einen Militärstützpunkt. Der größte Teil des Ortes existierte nur, um ihn zu versorgen. Hier war nichts anderes.«
»Ein kleiner Ort ohne eigene Existenz … Warum sollte der Mann, der Alexander Popow erfunden hat, einen solchen Ort wählen, was meinen Sie?«
Eine leichte Brise fuhr durch den ordentlich getrimmten Rasen und schüttelte den Narzissenstrauß, der in einer Zinnvase neben einem Grabstein stand. Ohne zu wissen, warum, dachte River plötzlich an den O.B., seinen Großvater, der versucht hatte, mit einem Zweig einen Käfer von einem brennenden Holzscheit im Kamin zu retten. Und dann zischte und verschwand die Erinnerung, wie der Käfer selbst, als das Feuer ihn verschlang. Aber die Verbindung war hergestellt. Hier auf dem ruhigen Kirchhof erinnerte sich River an ein fernes Feuer.
»ZT /53235«, sagte er.
Katinski sagte nichts. Aber seine Augen antworteten mit »ja«.
»Von dort kommen Sie«, fuhr River fort. Noch während er sprach, kamen ihm Katinskis Worte: Ich ziehe es vor, es als die Wiederherstellung eines Gleichgewichts zu betrachten in den Sinn, und trotz der wärmenden Sonne wurde es auf ihrer Bank kälter.
Louisa fand ein Telefon, wählte den Notruf, kam aber nicht durch – was zum Teufel war da los? Durch das Fenster sah sie, dass sich schwarze Rauchschwaden am Himmel verbreiteten wie Tinte. Weit unten brannte London.
Sie rief Slough House an und informierte Catherine.
»Hat er noch gelebt, als du gegangen bist?«
»Er hat geatmet. Ich bin keine Ärztin.«
Sie fragte sich, ob sie Webb hätte allein lassen dürfen. Nein, nicht allein: Der andere Russe war auch da. Auch schwer verletzt, obwohl das für sie von geringerer Bedeutung war.
»Wo ist Paschkin jetzt?«
»Auf dem Weg nach unten, nehme ich an. Mit Marcus auf den Fersen.«
»Ich hoffe, er ist vorsichtig.«
»Ich hoffe, er bringt den Scheißkerl um.«
»Ich hoffe, der Scheißkerl bringt ihn nicht zuerst um. Oder die anderen.«
Roderick Ho und Shirley Dander waren ebenfalls vor Ort.
»Es ist ein Chaos da draußen, Louisa. Gott weiß, wann Verstärkung eintrifft.«
»Wir brauchen zuerst Sanitäter!«
»Ich lasse einen Hubschrauber schicken.«
»Oh, Scheiße!«, stieß Louisa hervor.
Das Dach.
»ZT /53235«, sagte River. »Daher kommen Sie.«
»Keine Legende, die den Namen verdient, entspringt jungfräulichem Boden. Ich habe Popow meine eigene Vergangenheit gegeben, ja.«
»Sie müssen … Sie müssen noch ein Kind gewesen sein.«
»Kaum zu glauben, nicht wahr? Aber anscheinend trage ich die Erinnerung in mir.« Er verzog das Gesicht. »Es war ohnehin nicht gerade gesund, in dieser Stadt geboren zu werden. Schon bevor sie von Ihnen niedergebrannt wurde.«
»Aber Ihre eigene Regierung hat sie zerstört«, entgegnete River. »Weil man glaubte, dort säße ein Spion. Dabei gab es gar keinen. Es hatte nie einen gegeben. Die Stadt wurde grundlos zerstört.«
»Es gibt immer Gründe«, erwiderte der Russe. »Der Spion war nicht echt, aber die Beweise waren es. So funktioniert die Spiegelwelt, Walker. Ihr Geheimdienst war nicht in der Lage, dort einen Spion zu plazieren, weil die Sicherheitsvorkehrungen zu streng waren. Also griffen sie zur zweitbesten Taktik und streuten Beweise aus, die auf einen Spion hindeuteten. Daraufhin tat die Regierung, was Regierungen tun, und zerstörte die Stadt. Was Ihr Service heute als Ergebnis bezeichnen würde. Damals nannten sie es einen Sieg.«
»Das alles ist schon lange her«, sagte River, als ob das jetzt noch etwas bedeutete oder jemals etwas bedeutet hatte.
»Ich komme von einem Ort, der in englischen Augen die sowjetische Welt verkörperte«, sagte Katinsky. »Und er wurde durch ein Feuer zerstört. Und hier bin ich also, an einem Ort, der für den Rest der Welt England verkörpert. Sagen Sie es mir. Was passiert als Nächstes?«
River bewegte sich genau in dem Moment, in dem Katinsky enthüllte, was er in der rechten Hand hielt, und River zog sich zurück, aber nicht schnell genug. Katinsky erwischte seinen Ellenbogen mit dem Taser, und die Heftigkeit des Schlags schleuderte ihn auf den Weg.
Katinsky stand auf. »Ich habe Ihnen gesagt, dass Paschkin verschiedene Dinge hatte, die ich brauchte. Was glauben Sie, woher ich das habe?« Er bückte sich und versetzte River erneut einen Stromschlag. Funken sprühten, und die Welt verschwamm rotschwarz. »Unter anderem konnte er Plastiksprengstoff besorgen. Ein Berufsverbrecher zu sein, öffnet alle möglichen Türen. Er kennt keine Grenzen, könnte man sagen.«
»Im Flugzeug ist keine Bombe«, brachte River mühsam keuchend hervor.
»Nein. Das Flugzeug war ein Köder, zu Paschkins Vorteil. Der Plastiksprengstoff ist noch hier. Überall um uns herum.«
Er meint die Grabsteine, dachte River schwindelig.
Und dann: nein.
Er meinte den ganzen Ort hier.
Katinsky sagte: »Jede der Zikaden hat genug, um eine große Bombe zu bauen. Und jede wurde angewiesen, wo sie sie plazieren soll. Es ist die Anweisung, auf die sie seit Jahren gewartet haben. Jetzt wissen sie, warum sie nach Upshott geschickt wurden. Sie sollten an Ort und Stelle sein, um einen Feind zu vernichten.«
»Sie sind ja verrückt! Das haben die garantiert nicht gemacht!«
»Ich habe ihnen alles gegeben«, erwiderte er. »Ihre Identitäten, ihren Start ins Leben. Und seit mehr als zwanzig Jahren warten sie schon, Walker. Warten auf den Anruf, der sie aktiviert. Das ist es, was Zikaden tun. Sie wachen auf und singen.«
»Selbst wenn sie diese Bomben plaziert haben, was soll das bringen?«
»Ich habe es Ihnen gesagt. Sie werden ein Gleichgewicht wiederherstellen. Und zeigen, dass die Geschichte niemals vergibt.«
»Sie sind ja vollkommen übergeschnappt!«
»Sie sind sich also gar nicht so sicher, was? Dass sie es nicht tun werden?«
River hatte Kraft gesammelt. All die Energie, die durch seinen Körper sprudelte, all die Energie, die in der längsten Nacht seines Lebens nicht verbraucht worden war, ballte sich zusammen, und in einer Sekunde würde er aufspringen. Seltsam, dass er sich immer noch schlapp und hilflos fühlte. »Sie sind nicht die, für die Sie sie halten. Nicht mehr. Sie sind schon zu lange hier.«
»Wir werden sehen.« Er hielt das iPhone hoch. »Ich starte einen Rundruf.«
»Um Ihnen den Befehl zu geben?«
Katinsky lachte und trat einen Schritt zurück. »Nein, mein Junge«, erwiderte er. »Ich aktiviere die Bomben. Glaubst du etwa, die hängen an einer Sicherung? Sie werden ferngezündet. Hiermit.«
Er gab Zahlen ein.
Webb atmete noch, und seine Augenlider flatterten, als Louisa sich über ihn beugte. »Stirb nicht«, sagte sie. Er reagierte nicht. »Arschloch«, fügte sie hinzu. Darauf reagierte er genauso wenig.
Kyril war nicht mehr da. Praktischerweise hatte er jedoch eine Blutspur hinterlassen.
Immer noch keuchend, folgte sie ihm. Er war zum Treppenhaus gehumpelt, aber er war nach oben gegangen, nicht nach unten. Er konnte nur langsam vorangekommen sein, dem Blut nach zu urteilen. Sie fand ihn auf dem zweiten Treppenabsatz, wo er mit schmerzverzerrtem Gesicht an der Wand lehnte.
»Wollen wir etwa weglaufen?«
»Schlampe!«
Es kam als heiseres Flüstern heraus. Es schien nicht wahrscheinlich, dass er laute Warnungen ausstoßen würde.
»Er ist auf dem Dach, oder? Es kommt ein Hubschrauber.«
Kyril verdrehte nur die Augen und sagte nichts mehr.
Er trug keine Waffe. Wenn Paschkin da oben wäre, wäre sie ein leichtes Ziel. Also ging sie vorsichtig durch die letzte Tür, zumindest versuchte sie es. Aber der Wind drückte dagegen und schlug sie auf.
Dreihundert Meter über den Straßen Londons wehte eine steife Brise.
Der Mast befand sich auf der gegenüberliegenden Seite des Daches: eine anmutige, dünne Klinge, die ins Blaue ragte. Zwischen hier und dort lag eine barocke Ansammlung von Lüftungsschlitzen, Antennengehäusen, Blitzableitern und gartenhausartigen Betonkonstruktionen: Aufzugsanlagen oder andere Treppenhausausgänge. Seltsam schäbig für ein so prunkvolles Gebäude, aber so war es ja meistens, oben hui, unten pfui: Das ging ihr gerade durch den Kopf, als eine Kugel von der Tür hinter ihr abprallte.
Sie rollte sich hinter eine trichterförmige Entlüftungsröhre und kauerte sich dort zusammen.
»Louisa?«
Paschkin. Er musste schreien, damit man ihn hier oben hörte, über den Vögeln.
»Du kannst nirgendwohin, Paschkin«, schrie sie zurück. »Die Kavallerie ist im Anmarsch!«
Es klang, als befände er sich hinter einem der Betonhäuschen, die die Westseite des Gebäudedachs säumten. Die Ostseite fiel um ein Level auf eine ebenere Fläche ab, wo ein Hubschrauber landen konnte, der jedoch noch nicht in Sicht war. Links und rechts sah sie keine Stadt, nur den Himmel, schwach getrübt von fettigem Rauch. Ein lächerlich dünnes Geländer umgab den Rand des Daches. Wenn das alles war, was sie davon abhalten sollte, ins Leere zu stürzen, hoffte sie, dass der Wind nicht auffrischte.
»Ja«, schrie er zurück. »Ich habe einen Flug gebucht. Hast du eine Waffe, Louisa?«
»Natürlich habe ich eine, was denkst du denn?«
»Vielleicht komme ich und nehme sie dir ab.«
Anscheinend war sie hier außerhalb der Reichweite seines Signalblockers, denn ihr Handy klingelte.
»Bin grade ziemlich beschäftigt.«
»Ich habe einen Rettungshubschrauber angefordert. Er ist schon unterwegs. Louisa …«
»Bin schon viel weiter als du.«
Warum einen eigenen Piloten organisieren, wenn man einen Rettungshubschrauber entführen konnte?
Er stand hinter einem dieser Gartenhäuschen – oder nicht? Er konnte sogar direkt hinter diesem Rohr sein. Irgendwie hoffte sie es fast.
Louisa war nicht dumm. Sie hatte die Brandaxt mitgenommen.
»Louisa? Geh wieder rein. Schließ die Tür. Ich bin in ein paar Minuten weg. Kein Blut, kein Foul, sagt man nicht so?«
»Nein, nicht bei uns.«
Sie hoffte, dass ihre Stimme ruhig klang. Ein dünner Wolkenfetzen zog so schnell über sie hinweg, dass ihr schwindlig wurde. Wenn sie ihre Augen schloss, hätte sie zu diesem Geländer und darüber hinaus schweben können.
»Ansonsten muss ich dich leider töten.«
»Genauso, wie du Min töten musstest?«
»Nein, dich werde ich erschießen. Aber das Ergebnis wird dasselbe sein, ja.«
O Gott, dachte sie. Ich hocke mit dem Rücken zu einem Lüftungsschacht auf dem höchsten Gebäude der Stadt, während ein gutgekleideter Gangster Weisheiten von sich gibt. Ich bin in Stirb langsam .
»Louisa?«
Er klang näher, aber es war schwer zu sagen. Gestern Abend hätte sie ihn mit Pfefferspray und Plastikmanschetten überwältigen können, und alles wäre vorbei gewesen. Aber dieser scheiß Marcus hatte sich eingemischt, so dass sie stattdessen hier war, hoch über London, wo Paschkin sie mit einer Waffe bedrohte.
Was habe ich mir bloß dabei gedacht, unbewaffnet hier hochzurennen?
Doch die Antwort war genauso klar und deutlich wie ihre Erinnerungen an Min, den dieser Scheißkerl für eine Handvoll Diamanten ermordet hatte.
Sie glaubte, einen Hubschrauber zu hören.
Sie musste sich entscheiden. Sie konnte tun, was er gesagt hatte, und sich wieder in Sicherheit bringen. Das bedeutete jedoch nicht zwangsläufig, dass er ihr nicht in den Rücken schießen würde, bevor er den Hubschrauber entführte. Auf den Straßen unten herrschte Chaos. Er würde den Hubschrauber zwingen, im Hyde Park zu landen, und in der Menge verschwinden. Denk nach!, dachte sie. Oder besser: dachte sie nicht. Stattdessen sprang sie auf und hechtete zur nächsten Deckung, einem massiven Betonblock, in dem die Aufzugmaschinerie lautlos wartete.
Sie landete flach und rechnete mit Schüssen, die nicht kamen. Im Sprung rutschte ihr die Brandaxt aus der Hand und schlidderte über den Boden, wo sie ein paar Meter weiter liegen blieb.
»Louisa?«
»Bin noch da.«
»Das war deine letzte Chance.«
»Wirf die Waffe zu mir rüber. Das bringt dir ein paar Jahre Knast weniger.«
Es war definitiv ein Hubschrauber, und er kam definitiv näher.
»Du bist unbewaffnet, Louisa. Das wird kein gutes Ende nehmen.«
Die Brandaxt hatte sie verraten. Niemand mit einer Handfeuerwaffe wäre auf die Idee gekommen, ein so schweres Ding mitzuschleppen.
Das jetzt außerhalb ihrer Reichweite lag. Sie streckte sich danach, und diesmal schoss er: Er verfehlte ihre Hand, traf aber den Axtgriff, der wild herumwirbelte. Louisa schrie auf.
»Louisa? Bist du verletzt?«
Sie antwortete nicht.
Das stetige Whump-Whump des Hubschrauberrotors wurde lauter. Wenn der Pilot einen bewaffneten Mann sähe, würde er nicht landen, sondern wieder verschwinden … Sie musste ihm irgendwie klarmachen, dass Paschkin eine Waffe hatte. Wenn Min hier gewesen wäre, hätte er ihr gesagt, was für ein dämlicher Plan das war, aber Min war nicht hier, weil er tot war, und wenn sie jetzt nichts unternähme, würde der Mann, der ihn getötet hatte, ungestraft flüchten. Die Axt konnte sich noch als nützlich erweisen. Sie griff wieder danach, und ein schwarzer Brogue-Schuh trat knirschend auf ihre Hand.
Sie blickte auf, in Paschkins Augen. Er starrte zurück, ehrlich gereizt, weil sie ihn in solche Schwierigkeiten brachte. In einer Hand hielt er eine Stofftasche, dick wie ein Fußball. Ziemlich viele Diamanten.
In der anderen hielt er die Waffe, die direkt auf ihren Kopf gerichtet war.
»Es tut mir leid, Louisa«, sagte er. »Ehrlich leid.«
Dann schoss Marcus auf ihn, und Paschkin, seine Waffe und der Beutel mit Diamanten fielen zu Boden. Die Diamanten wurden in alle Richtungen zerstreut, wie kleine glänzende Murmeln in einem Kinderspiel; einige von ihnen flogen bis an den Rand des Daches und darüber hinaus.
Louisa versuchte, sich vorzustellen, wie das gewesen sein musste – winzige gläserne Regentropfen, die auf ferne Straßen fielen, während das Whump-Whump der Rotorblätter die Luft in schmale Scheiben Leere schnitt.
In dem Moment, nachdem Katinsky die Nummer zur Fernzündung der Bomben gewählt hatte, herrschte Stille auf dem Kirchhof, ja, rund um den ganzen Ort, wie eine Tortenhaube um einen Kuchen. Die Sonne blieb stehen, der Wind hielt inne, Amselgesang erstarb mitten im Ton, und sogar Rivers Schmerzen wurden aufgehoben, als er auf die Reihe von Detonationen wartete, die den Himmel wie Blitze spalten und Upshott zum Einstürzen bringen würden. Die Wochen, die er hier verbracht hatte, gingen ihm durch den Kopf, und er dachte an die Kneipe und den Dorfladen, an die anmutige Kurve der Stadthäuser aus dem 18. Jahrhundert am Rande der Grünfläche und an das ehemalige Herrenhaus, die sich alle in eine Reihe von Kratern verwandeln würden, um die Rachevision eines sterbenden Spions zu erfüllen.
Es wäre ein rustikaler Ground Zero, ein Denkmal für eine längst vergessene Stadt, die bei einem längst vergessenen Brand zerstört wurde; ZT /53235, ein uraltes Opfer im Spiegelspiel der Spione.
Es wäre sinnlos und nutzlos, würde aber die Erde hinter ihm verbrennen.
Und dann schien die Sonne wieder, der Wind wehte, und die Amsel holte Luft und setzte ihr Lied fort.
Nikolai Katinsky war nur ein alter Mann, der auf das Smartphone in seiner Hand starrte, als ginge dessen Technik über seinen Verstand.
River sagte: »Sehen Sie?«, und seine Stimme klang fast normal.
Katinskys Lippen bewegten sich, aber River konnte nicht hören, was er sagte.
Er raffte seine letzten Kräfte zusammen, um aufzustehen, und diesmal schaffte er es. Dann lehnte er sich gegen die Bank, immer noch mit zittrigen Gliedern. »Sie leben seit Jahren hier«, sagte er. »Sie gehören Ihnen nicht mehr. Es ist ihnen egal, was sie hierher geführt hat. Das ist ihr Leben. Hier wohnen sie.«
Autos kamen an.
Er erkannte das Motorengeräusch von Jeeps und spürte einen kurzen Anflug von Hysterie, als er sich fragte, wie sich das Ganze weiterentwickeln würde; eine Dorfgemeinschaft entpuppte sich als Schläferzelle, eine, die so fest schlief, dass sie nicht aufwachen wollte.
»Trotzdem«, sagte er, »netter Versuch«, und ließ die Bank los. Na also, dachte River, ich kann stehen, und gleichzeitig machte er sich auf den Weg zum Eingangstor, durch das bald Militärs strömen würden.
»Walker?«
Er blickte zurück. Katinsky war in Sonnenlicht gehüllt, das in der vergangenen Minute den Glockenturm erklommen hatte.
»Nicht alle Bomben waren von ihnen. Eine war meine.«
Er wählte eine andere Nummer auf seinem Handy.
Die Explosion, die die ganze Westfassade von St Johnno heraussprengte, tötete Katinsky, der davorstand, auf der Stelle.
In späteren Alpträumen sah River, wie ein Stück Mauerwerk den alten Spion in zwei Teile spaltete, aber in Wirklichkeit wurde er von der Schockwelle umgeworfen, und als die Steine zur Erde regneten, hockte er mit dem Kopf zwischen seinen Knien zusammengekauert unter dem Torbogen.
So hörte und fühlte er nur den langsameren Tod, der dem Katinskis folgte, als der Glockenturm schwankte und schwebte und seinen Halt in der Vertikalen verlor. Als er fiel, fiel er von Rivers Deckung weg, sonst hätte er sich zu dem alten Mann gesellt im Leben nach dem Tod, wie immer dieses aussehen mochte.
Der Fall des Turms auf den Friedhof und den Fußweg dahinter schien minutenlang zu dauern, eine Ewigkeit, wie es sich für die brutale Entfernung aus einer Silhouette gehörte, die er seit Jahrhunderten geziert hatte; und noch Stunden danach schien er weiterzufallen, während der Schock durch die plötzlich leere Landschaft vibrierte und aus Stille und Staub neue Formen schuf.
Marcus stellte sicher, dass Paschkin tot war, und half Louisa dann auf die Beine.
Er sagte: »Ich habe Shirley auf der Treppe getroffen. Er war nicht an ihr vorbeigekommen. Da dachte ich mir, dass er wahrscheinlich aufs Dach wollte.«
»Danke«, sagte sie.
»Ich hab’s dir ja gesagt. Ich bin ein Slow Horse, weil ich spiele. Nicht, weil ich ein Versager bin.«
Der Hubschrauber landete, und Marcus ging los, ihm entgegen.