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Am Tag der abgebrochenen Demonstration brannten Teile von London.
Autos wurden abgefackelt, ein Bus wurde angezündet, und ein Jankel – ein Panzerfahrzeug der Polizei – wurde auf der Newgate Street von einem Molotow-Cocktail getauft. Ein Foto von St Paul, umnebelt von fettigem Rauch, zierte am nächsten Morgen die Titelseiten. Aber noch vor Einbruch der Dunkelheit wurde die Kundgebung, die zu einem Aufstand geworden war, zur verheerenden Niederlage: In Anbetracht der Kritik an ihrem angeblich zu behutsamen Vorgehen bei den jüngsten Unruhen griff die Polizei hart durch, mit Gewalt und Festnahmen. Frei marodierende Mobs wurden zerstreut, Rädelsführer in Transportwagen gepackt, und diejenigen, die den Tag eingekesselt in Hinterhöfen verbracht hatten, durften nach Hause gehen. Es war, wie der Gold Commander des Tages auf der unvermeidlichen Pressekonferenz verkündete, eine effektive Demonstration einer entschlossenen Polizeiarbeit mit Null-Toleranz gewesen. Das änderte nichts an der Tatsache, dass die Stadt an dem Tag tatsächlich absolut lahmgelegt worden war.
Gerüchte hatten die Flammen angefacht. Es stellte sich heraus, dass im Laufe dieses Morgens ein Flüstern auf Twitter – dass ein mit Bomben beladenes Flugzeug von der Royal Air Force abgeschossen worden war – zu glaubwürdigen Fake News aufgestiegen war; die weniger brandgefährliche Wahrheit, dass eine Cessna Skyhawk abgefangen und zu einer RAF -Basis eskortiert worden war, wo man eine Ladung amateurhafter Flugblätter in ihr entdeckte, wurde erst am nächsten Tag allgemein bekannt. Etwa zur gleichen Zeit wurde die Verantwortung für die überstürzte Evakuierung der Londoner Innenstadt rundheraus den Sicherheitsdiensten in die Schuhe geschoben, genauer gesagt, in die Schuhe des stellvertretenden Leiters des MI 5, der zu diesem Zeitpunkt Entscheidungsträger war und auf dessen Rat die Innenministerin Großalarm ausgelöst hatte. Roger Barrowby beeindruckte viele mit seiner Bereitschaft, die Schuld auf sich zu nehmen. Man bescheinigte ihm die Haltung eines Mannes, der wusste, wann er verloren hatte. Sein Rücktritt wurde diskret behandelt, und es wurde berichtet, dass er von seinem Abschiedsgeschenk äußerst gerührt war, der Kopie eines Mies-van-der-Rohe-Sessels.
In der unmittelbaren Folgezeit blieben viele Geschäfte und Firmen im Zentrum Londons geschlossen, und die Straßen waren weniger stark befahren als zuvor. Es herrschte allgemeine Zurückhaltung, und viele wollten einfach nur früh zu Bett. Selbst auf einigen der belebtesten Straßen rührte sich kaum eine Maus.
Aber wenn eine Maus das wollte, könnte sie mit Leichtigkeit ins Slough House schlüpfen. Keine Maus, die ihre Tasthaare wert ist, hätte Probleme damit, sich unter der seit langem geschlossenen Tür hindurchzuzwängen und die kahle Treppe hinaufzuhüpfen, woraufhin sie – an einer Türschwelle pausierend – die Reize eines wackeligen Turms von Pizzakartons und einer Reihe von noch klebrigen Dosen gegen die Schrecken eines schlummernden Roderick Ho abwägen könnte, der, erschöpft durch ungewohnte Anstrengung, mit der Wange auf seinem Schreibtisch liegt, die Brille schief. Es wäre sogar möglich, dass die aus seinem offenen Mund tropfende Pfütze eine dritte Snackmöglichkeit für unsere Maus darstellen würde, aber ein plötzlicher Laut, irgendetwas zwischen einem Schnarchen und einem Schnauben, entscheidet über die Sache. Die Maus dreht Ho den Schwanz zu und …
… trippelt in das angrenzende Büro, wo ihr Eindringen nicht, wie es früher gewesen wäre, als möglicher Test, sondern einfach als feindlicher Angriff betrachtet wird, denn ein Hauch von Paranoia verdirbt jetzt diesen Raum, sickert von den Wänden und in den Teppich hinein. Sowohl Shirley Dander als auch Marcus Longridge wissen, dass einer von ihnen als Handlanger von Diana Taverner gilt, und da jeder weiß, dass er es nicht ist, glauben beide, dass es der andere ist. Die einzigen Worte, die sie heute ausgetauscht haben, waren »Mach die Tür zu«, und ihre Debrief‌ings nach der Needle-Sache bleiben unerwähnt. Hätten sie zusammengefügt, was jeder von ihnen gesammelt hatte, hätten sie vielleicht gewisse Schlüsse hinsichtlich der offiziellen Version des Hergangs gefällt. Sie lautete, James Webb habe eine Falle für den Gangster gestellt, der sich als ein Arkadi Paschkin ausgegeben hatte, und insofern sei die Operation erfolgreich verlaufen, aber da deren Ergebnis durch die Beteiligung der Slow Horses stark beeinträchtigt worden sei, würden nur wenige Anerkennungen für Tapferkeit und noch weniger Rückrufaktionen in den Regent’s Park ausgesprochen werden. Das hätte die Stimmung nicht wesentlich aufgelockert; Jackson Lamb hätte jedoch, wenn er sich darum gekümmert hätte, die Lage durchaus verbessern können, da er längst wusste, dass Diana Taverner ihn nur misstrauisch machen wollte, als sie behauptete, einer der Neulinge würde ihr Bericht erstatten. Taverner ist so etwas wie eine Expertin auf diesem Gebiet, wie Roger Barrowby bestätigen könnte, aber jedes Mal, wenn sie denkt, sie hätte Jackson Lamb reingelegt, täuscht sie sich gewaltig. Wenn sie einen Informanten in Slough House gehabt hätte, hätte sie gewusst, dass Webb zwei Slow Horses abbeordert hatte, bevor Lamb es ihr mitteilte. Und außerdem steht Lady Di bereits auf Lambs Schwarzer Liste, da Nick Duf‌fy auf ihre Anweisung hin so schlampig rund um den Tod von Min Harper ermittelt hatte. Dafür wird er Vergeltung verlangen. Auf diesem Büro lastet schwer ein Gefühl des Verrats, etwas, was keine gutmütige Maus lange ertragen kann, und so geht es wieder los, die Treppe hinauf, auf der Suche nach neuen Horizonten.
Die sie in Form von River Cartwright findet. River ist ebenfalls schweigsam, nachdem er gerade einen Anruf im St Mary’s Hospital beendet hat, wo Spider Webb eingeliefert wurde, etwas länger nach der Schussverletzung, als es die Unfall- und Notaufnahme empfiehlt. Möglicherweise denkt er gerade über den aktuellen Zustand seines ehemaligen Freundes nach, und unsere Maus kann nicht feststellen, ob es ihn bedrückt oder erfreut. River könnte jedoch ebenso gut von anderen Gefühlen aufgewühlt sein, beispielsweise von dem Verdacht, dass der Grund, warum sein Großvater den Namen ZT /53235 so mühelos aus seinem Gedächtnis zaubern konnte, der war, dass er dort lange gelagert hatte. Der O.B. war nämlich persönlich dafür verantwortlich gewesen, die sowjetischen Behörden davon zu überzeugen, dass die geschlossene Stadt einen Verräter beherbergte. ZT /53235 war 1951 niedergebrannt worden, wobei Tausende von Menschen ums Leben gekommen waren, und David Cartwright war zu der Zeit in etwa so alt wie sein Enkel jetzt. Das bringt River dazu, sich zu fragen, ob er es draufhat, das Spiegelspiel so zu spielen, als ob bei den Einsätzen nur Streichhölzer auf dem Spiel stünden anstelle von Menschenleben. Auch grübelt er darüber nach, ob solche Gedanken seinen nächsten Besuch bei dem alten Mann trüben werden oder ob er sie verdrängen wird wie die Geheimnisse irgendeines x-beliebigen Spions und deshalb seinen Großvater so liebevoll begrüßen kann wie immer.
Da dies kein Problem ist, bei dem unsere Maus helfen kann, zieht sie sich zurück, um in Louisa Guys Zimmer eine andere Art von Stille zu finden, eine, die ein leises Geräusch dämpfen soll. Der Laut findet kein Echo, denn es ist niemand da, der eines bieten könnte. Der freie Schreibtisch ist genau das: leer, unbenutzt, überflüssig. Mit der Zeit wird ein neuer Mensch auftauchen, um ihn zu besetzen – wie Lamb herausgestellt hat, ist Slough House von Losern bevölkert, an denen es nie mangelt –, und vielleicht ist es diese Aussicht auf einen Neuen an diesem Schreibtisch, die Louisa dazu bringt, jetzt leise zu schluchzen, oder vielleicht ist es auch die jetzige Leere, die sie in ihrer Wohnung erwartet, welche einst zu klein für zwei schien und jetzt zu groß für einen ist. Diese Situation hat sich auch durch ihre jüngste Neuerwerbung nicht verändert, die sich derzeit in ihre neuere, etwas unpraktische und inzwischen unnütze Unterwäsche schmiegt: ein fingernagelgroßer Diamant, der weniger wiegt als ein Donut und dessen Wert ihr schleierhaft ist. Sich offen mit ihm zu beschäftigen, wäre ein weiterer Schritt über eine Grenze hinaus, die sie nie überschreiten wollte, daher bleibt er vorerst eingewickelt und versteckt. Er verheißt ihr lediglich die Möglichkeit, von einer einsamen Wohnung in die andere zu flüchten, denn mehr scheint die Zukunft ihr nicht mehr zu bieten als einen leeren Raum nach dem anderen, wie eine Unendlichkeit von Spiegeln, die ins Nichts reichen.
Kein Wunder, dass sie schluchzt, und schon gar nicht, dass unsere Maus diskret vor einer Trauer davonläuft, die sie nicht lindern kann. Weiter oben, im letzten Stockwerk, besucht sie kurz Catherine Standish, für die eine Maus keinen Schrecken darstellt, sofern sie echt ist. Catherine hat ihre Dosis an Phantommäusen gehabt, kleine Gestalten, die sie aus den Augenwinkeln davonhuschen sah, wenn sie sich umdrehte, aber diese Tage sind längst vorbei, und der einzige Tag, der zählt, ist derjenige, der vor ihr liegt. Und mit dem sie in der gleichen ruhigen Art und Weise umgehen wird, mit der sie mit den meisten Dingen umgegangen ist; ein Talent, das durch die tägliche Auseinandersetzung mit dem anstrengenden Jackson Lamb geschliffen wird, der sich gerade in seinem eigenen Zimmer befindet. Seine Tür ist fest geschlossen, was für unsere Mäuseentdeckerin ebenso wenig ein Hindernis darstellt wie der unelegant aufgehäufte Stapel von Telefonbüchern, auf dem sie endlich innehält, mit zitternden Schnurrhaaren und bebender Schnauze. Jackson Lamb hat die Füße auf den Schreibtisch gelegt und die Augen geschlossen. Auf seinem Schoß liegt eine Zeitung, gefaltet bei einer bizarren kleinen Geschichte über ein lokales Erdbeben in den Cotswolds – ausgerechnet; ein seismisches Achselzucken, das eine beliebte Kirche zum Einsturz brachte, glücklicherweise mit nur einem einzigen Todesopfer. Und so, denkt Lamb bei sich, verblasst der Geist eines gewissen Alexander Popow, verkörpert von einem gewissen Nikolai Katinski, im Herzen eines Ortes, der in keiner Weise der Stadt ähnelte, aus der er gekommen war, außer in der Art und Weise der Zerstörung, die er gehofft hatte, über ihn zu bringen. Was die Zikaden betrifft – diese Ansammlung von lange verborgenen Schläfern, die so tief geschlafen haben, dass ihre falschen Existenzen ihre echten Leben verdrängt hatten –, so gäbe es für sie kein Erwachen, weder grausam noch anderweitig, da die allgemeine Auffassung unter Geheimdienstlern besagt, man solle schlafende Schnüffler nicht wecken.
In seine Gedanken versunken, greift Jackson Lamb blindlings nach irgendetwas, wahrscheinlich nach seinen Zigaretten, und da seine suchenden Hände nichts finden, öffnet er die Augen. Und dort vor ihm – Schnauze bebend, Schnurrhaare zitternd – sitzt eine Maus. Für einen Moment hat Lamb das unangenehme Gefühl, dass diese Maus in eine Vergangenheit starrt, die er zu begraben versucht hat, oder in eine Zukunft blickt, die er lieber vergessen würde. Und dann blinzelt er, und die Maus ist verschwunden, falls sie jemals da gewesen ist.
»Was dieses Haus braucht, ist ’ne Katze«, murrt Lamb, aber es ist niemand da, der ihn hört.