1.
Ellen Seymor setzte sich auf und rieb sich die Augenlider. Sie blinzelte in das Zwielicht ihres Zimmers. Der Wecker zeigte 9:30 Uhr an.
So spät schon? Gott! Ich muss in die Schule!
Durch das gekippte Fenster hörte sie Daddy im Gartenschuppen rumoren. Er war nicht auf der Arbeit. Da sickerte zu Ellen durch, dass heute ja Samstag war. Sie sank zurück auf die Matratze und schloss noch einmal die Augen.
Himmel, war das ein übler Traum gewesen!
Die Nachwirkungen ihres nächtlichen Kopfkinos hatten sie noch im Griff. Es hatte alles so real gewirkt. Und zugleich so unwirklich: Skylar Johnson, ihr Erdkunde- und Philosophielehrer, hatte seinen zweiten Aktenkoffer aufgeklappt. Den Koffer, den er in Gegenwart seiner Schüler noch nie aufgeklappt hatte, den er aber stets bei sich trug. Den Koffer, dessen Inhalt beliebter Gegenstand von Spekulationen unter Ellens Klassenkameraden war.
Sie hatte davon geträumt, was Skylar da immer mit sich herumschleppte. Zugegeben: Traumwissen war kein besonders valides Wissen. Ein Koffer-Kommunikator mit Verbindung ins All. Skylar, der nette Sky – ein Außerirdischer mit lila Fühlern und runden schwarzen Alienaugen. Skylar Johnson, der Marsmensch, der einen Plan zur Invasion der Erde durch exterrestrische Eroberer schmiedete.
Ellen fing wieder an, ihre Augenhöhlen zu reiben. Es war nur ein böser Traum gewesen.
Um die letzten Reste der verstörenden Regiearbeit ihres Unbewussten loszuwerden, schwang sie die Beine über die Bettkante, stand auf und streckte sich. Dann schlurfte sie ins Bad und warf sich mehrfach kaltes Wasser ins Gesicht.
Ihr Abbild im Spiegel zeigte einen Teenager mit zerrauften schwarzen Haaren, die ihr bis über die Schulter fielen. Sie sah matschig aus, der Traum hatte auch äußerlich Spuren hinterlassen. Wenn schon! Eine Bürste, eine Tagescreme und etwas Make-up, dann wäre sie rasch wieder präsentabel. Ricco würde sie ja erst gegen Mittag zu Gesicht bekommen. Sie waren zum Skaten verabredet. Ricco und Ellen hatten im Herbst beide wieder mit dem Skateboarden angefangen. Mit zehn hatte Ellen eine temporäre Leidenschaft fürs Skaten entwickelt. Drei Jahre lang hatte sie ziemlich viel auf dem Rollbrett gestanden. Gut ein Jahr lang war sie sogar Teil einer Skater-Clique gewesen. Bis eine rausgesprungene Kniescheibe Ellen die Sache erst einmal vergällt hatte.
Ricco war nicht ganz so ambitioniert wie sie gewesen. Bereits mit zwölf hatte er das Skateboard zunehmend gegen Controller für technische Geräte getauscht. Passabel fahren konnten sie aber beide noch. Ellen trickste dabei sogar ein bisschen herum.
Zurück in ihrem Zimmer, schlüpfte sie in ihre Klamotten. Was Adäquates – Sportleggins, Sport-BH, leichtes Unterhemd, atmungsaktives T-Shirt und ihre Trainingsjacke. Sie schnappte sich ihren HoloCom und joggte die Treppe hinunter in die Küche. Milch, Cornflakes, Kakao. Den Apfel, den ihre Mama ihr aufschnitt, ignorierte sie.
»Was macht Dad denn da im Garten? Wir haben Dezember. Ist doch schon längst alles klar für den Winter.«
Anne Seymor schob das Tellerchen mit den Apfelspalten näher an Ellens Platz heran. »Dein Dad sucht nur was im Schuppen. Vorher war er in seinem Bastelkeller, schon vor dem Frühstück. Sehr verdächtig, wenn du mich fragst.«
Ellen schmunzelte. Ihr Vater war Mechatronikermeister, und er war es aus Leidenschaft. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, beschäftigte er sich oft noch bis in die späten Abendstunden hinein mit ganz ähnlichen Dingen wie im Job: Er schraubte Roboter zusammen, entwickelte sie weiter, optimierte sie. So lange, bis sie irgendwann nicht mehr funktionierten. Auch der Amoklauf seines letzten Modells, Goofy IX – ein modifizierter GardenBot, der im Spätsommer den Garten des Nachbarn verwüstet hatte und dann eigenmächtig auf Spritztour durch Soontown gegangen war – hatte seinen Basteleien keinen Riegel vorschieben können. Damals war sogar die Polizei bei den Seymors gewesen, um Dad die Reste seines GardenBots zu zeigen und ihm Fragen zu stellen. Am Ende hatten sie Daddy eine saftige Ordnungsstrafe aufgebrummt. Im Wiederholungsfall würde es nicht mehr so glimpflich ablaufen, darüber waren sich die Seymors alle im Klaren.
Dass Dad sich davon nicht lange abschrecken lassen würde, war Ellen ebenfalls klar.
»Hat er sich in letzter Zeit da unten eingeschlossen?«, erkundigte sie sich.
Mum goss sich einen Kaffee ein, der schon eine Weile auf der Wärmeplatte stehen musste, so geröstet, wie er roch. »Bis jetzt noch nicht.«
»Ich schlage vor, wir beobachten das mal«, sagte Ellen mit vollem Mund.
»Ja«, stimmte Mum zu und nippte an ihrer Tasse. »Prävention ist besser als nachträgliche Schadensbegrenzung. Ich muss gleich zur Arbeit. Mittagsschicht. Kannst du solange ein Auge auf ihn werfen?«
»Joa …«, sagte Ellen. »Vielleicht noch so eine Stunde. Dann bin ich mit Ricco verabredet.«
»In Ordnung, Schatz.« Mum gab ihr einen Kuss auf den Kopf. »Eigentlich ist dein Vater ja auch erwachsen und sollte auf sich selbst aufpassen können.«
Ellen spürte, dass Mum in dem Punkt nicht so recht an das Erwachsensein ihres Ehegatten glaubte.
Etwas später hörte sie die Haustür. Mum war fort.
Kurz darauf kam Daddy aus dem Garten. Ellen hörte ihn beschwingt vor sich hin summen. Hörte, wie er etwas Schweres abstellte und die Schiebetür zur Terrasse zuzog. Auf dem Weg in den Keller wurde das Summen leiser und dann zusätzlich gedämpft, als Dad die Tür seines Bastelraums hinter sich schloss. Ellen lächelte in sich hinein. Mum hatte recht mit ihrer Sorge. Wenn es um seine Schrauberei ging, war Daddy nicht länger siebenundvierzig Jahre alt, sondern nur noch sieben. Ein großes Kind. Und wenn er so summte, dann war Gefahr im Verzug.
Als sie ihr Frühstück beendet hatte, sah sie auf die Küchenuhr. Kurz vor elf. Sie hatte noch eine gute halbe Stunde, ehe sie los zu Ricco wollte und beschloss, sich schon einmal im Garten aufzuwärmen. Seit ihrer Knieverletzung damals war sie etwas umsichtiger geworden.
Der Garten der Seymors lag nach Westen raus, beschrieb jedoch eine Viertelkurve nach Süden, wo der Hauseingang war. Wenn Ellen sich dort auf die Wiese stellte, würde sie etwas von der Vormittagssonne abkriegen.
Draußen auf der Terrasse stutzte sie: Der Gartenschuppen stand offen, der halbe Inhalt war herausgeräumt worden. Das war kein gutes Zeichen. Ihr Dad war ordentlich, ja, pingelig, wenn es um sein Werkzeug ging. Jetzt standen Rasenmäher, Rechen, Harke und alle möglichen weiteren Gartenutensilien nebst diversem Gerümpel achtlos vor dem Holzverschlag oder an dessen Außenwand gelehnt. Wenn ihr Vater sich nicht einmal mehr die Zeit nahm alles wieder einzuräumen, nachdem er gefunden hatte, was er brauchte, sah es nicht gut aus. Dann war sein aktuelles Bastelfieber schon im fortgeschrittenen Stadium.
Ellen suchte sich ein Sonnenplätzchen und begann ihren Workout. Sie würde heute Abend mit Mum beraten, wie sie weiter vorgehen sollten, ehe Dad mit Goofy X aus dem Keller kam und womöglich ganz Soontown ungewollt in Schutt und Asche legte.
Sie war gerade warm geworden, als der braune Transporter des Paketboten vor dem Haus der Seymors hielt. Ellen schlenderte hinüber, um die Sendung anzunehmen. Das Paket war fast mannshoch und ziemlich schwer. Adressat: Marc Seymor.
»Lehnen Sie’s bitte da an die Wand«, bat sie. »Das ist für meinen Vater.«
Der Fahrer, ein Riesentyp, leicht übergewichtig, mit Kappe und käsiger Gesichtshaut, musterte sie mit diesem Blick, den Ellen in letzter Zeit öfter von Männern bekam. Sie hatte ihre Sportjacke vorhin ausgezogen, war schon leicht angeschwitzt. Ihre Brust hob und senkte sich in rascher Folge. »Mach ich«, sagte er. »Aber quittieren kannst du mir das nicht, kleine Lady.« Er stellte das Paket ab und tippte auf das Versandetikett. »Ist mit Identitätsprüfung.«
»Ah«, machte Ellen und las, was außen auf dem Paket stand: ›RoGaTec‹. Und: ›Outdoor Pro ZX 5000‹. »Warten Sie kurz, bitte. Er ist im Keller, da hört er die Klingel nicht.«
Sie ging wieder um das Haus herum, trat über die Terrassentür ein und rief die Kellertreppe herunter: »Dad! Paket für dich!«
Sie musste noch ein zweites Mal rufen, ehe sich unten die Tür öffnete und ihr Vater summend die Treppe hinaufeilte. »Wunderbar!«, freute er sich. »Perfektes Timing!«
Oben am Treppenabsatz machte Ellen Daddy stirnrunzelnd Platz. Die Symptome waren eindeutig: Gerötete Wangen. Verstrubbelte Frisur. Und eine neue Schrauberbrille – mit Kopflampe, Vergrößerungsglas und einer Verdickung an einem der Bügel, in der eine winzige Linse zu stecken schien. Eine Kamera? Ihr Vater sah echt schräg aus mit diesem Teil. Ein wenig wie ein Cyborg.
»Dad, du hast die Lampe noch an.«
Aber er war bereits an ihr vorbei und zur Haustür geeilt. »Ah, da ist es ja!«, hörte Ellen ihn den Paketboten begrüßen. »Perfekt, perfekt! Darauf warte ich schon sehnlichst! Wo muss ich unterschreiben?«
»Hier unten.«
»Sehr gerne! Ui, ist das groß! Elli, kommst du mal? Ich brauch mal deine Hilfe.«
An der Haustür angekommen, sah sie noch, wie sich der Fahrer wieder hinter das Steuer zwängte. Dad hob gerade das Paket testweise an. »Uff! Hilf mir mal. Ist schwer. Das muss in den Keller.«
Was du nicht sagst. Wohin auch sonst?
Laut meinte Ellen: »Okay.«
Zu zweit schleppten sie das rechteckige Monstrum ins Haus. Auf der Kellertreppe ging Daddy vor, rückwärts. Sie betraten sein Allerheiligstes.
Den Bastelraum.
»Einfach gleich hier auf den Boden«, wies Dad sie an und ging auch schon ächzend in die Knie.
Als sie sich wieder aufrichtete, fiel Ellen der Wandschirm ins Auge, der die Hälfte des Raums verdeckte. Die Hälfte mit der großen Werkbank. Der Schirm war neu, Daddy musste ihn sich ganz aktuell angeschafft haben. Ellens Alarmglocken schrillten. Sie legte den Kopf schief. »Hast du Geheimnisse vor uns?«
»Was? Wegen des Raumteilers? I wo, nein, nein. Der ist in erster Linie als Spritzschutz gedacht.« Dads Augen blitzten schalkhaft. »Na ja, vielleicht auch ein kleines bisschen gegen neugierige Nasen. Ich lass mir nun mal nicht gern über die Schulter schauen, ehe ich nicht ganz fertig bin.«
»Woran schraubst du denn gerade?«
Er hob einen Zeigefinger vor die Lippen. »Kannst du schweigen?«
Ellen nickte lebhaft.
»Tja … Ich auch.« Damit schob er sie zurück über die Türschwelle. »Danke fürs Tragenhelfen, mein Schatz.«
Klapp.
Ihr Vater hatte ihr die Tür vor der Nase zu gemacht.