4.

Der Professor folgte den Bildern auf dem Holoschirm mit voller Aufmerksamkeit. Explosion auf der First Avenue. Großer Löschzug. Cops ohne Ende. Verletzte Passanten und ein Toter: der Mieter der Wohnung, in der es geknallt hatte. Soontowns Prachtstraße in heller Aufregung.

Howard, wie der Professor bürgerlich hieß, wunderte nichts davon. Wer in seinen Wohnräumlichkeiten einen Fusionsreaktor in Betrieb nahm, der sollte schon mehr als nur halbwegs wissen, was er da so tat. Er hatte den Toten gekannt. Er hatte ihn sogar in der letzten Woche noch gesehen: Tom Athelston, Abteilungsleiter in der Verwaltung von Biohead Inc., Hobby-Physiker und Mitglied der ›Furious Fusioneers‹ – einer Gruppe ambitionierter Laien, die es sich in den Kopf gesetzt hatten, der Menschheit positive Fusionsenergiegewinnung zum Geschenk zu machen. Was so viel hieß, wie: mehr Energie beim Fusionieren rauszuholen als man zuvor dabei reingesteckt hatte. Die Furious Fusioneers betrieben das naturgemäß nicht im ganz großen Stil, wie anerkannte Wissenschaftler es zum Beispiel seit Jahrzehnten im ITER in Frankreich praktizierten, dem International Thermonuclear Experimental Reactor. Die Fusioneers verschmolzen die Atomkerne gleich im eigenen Wohnzimmer. Oder, im Fall des Professors, in einem abgelegenen Gebäude auf einem abgeschotteten Hinterhof, das zu groß war, um es Schuppen zu nennen, und zu klein, um Halle dazu zu sagen. Der Professor nannte es daher schlicht: sein Lab.

Als ihn Tom Athelston in der letzten Woche angerufen und gefragt hatte, ob er vorbeikommen und ihm helfen könne, hatte Howard nur zögernd eingewilligt. Sicher, Tom und er gehörten beide den Furious Fusioneers an, und ›FFs‹, wie sie sich intern nannten, halfen einander – Ehrensache. Der Punkt mit Tom war nur, dass der letztlich doch immer alles besser wissen wollte, ganz gleich, ob er es tatsächlich auch besser wusste oder nicht. Auch dann, wenn er eingangs noch um Hilfe gebeten hatte. Der Professor war schon oft genug bei Tom zuhause gewesen, um sich im Voraus klar darüber zu sein, dass es dieses Mal nicht anders kommen würde. Das machten die Besuche bei Tom zu einer eher unbefriedigenden, ja, nervtötenden Angelegenheit.

Innerhalb der Furious Fusioneers gab es eine hierarchische Ordnung, die sich nach dem Level der mit dem heimischen Fusionsreaktor erzeugten Energie richtete. Wer es gerade eben so schaffte, Protonen zu verschmelzen, auch, wenn es nur ein paar waren und die Energiebilanz des Experiments dem örtlichen Stromversorger graue Haare bescherte, der durfte dem Club als ›Private‹ beitreten. Wer am Ende eines Testlaufs mindestens fünf Prozent der eingesetzten Energie durch die Kernverschmelzung zurückgewann, der war bei den Furious Fusioneers ein ›Corporal‹. Wer die Zehn-Prozent-Rücklauf-Marke meisterte, durfte sich ›Sergeant‹ nennen. Wer bei dem Testlauf gar zwanzig Prozent der verprotzten Energie wieder einheimste, war stolzer ›Lieutnant‹. Und so weiter.

Tom hatte erst kürzlich seinen Lieutnant-Titel errungen. Jetzt, wo er sich den ersten der höheren Dienstgrade bei den Fusioneers verdient hatte, war seine Besserwisser-Attitüde noch schlimmer geworden. Der Professor fand nichts dabei, wenn man sich hohe Ziele steckte, nachdem man einen schönen Zwischenerfolg erzielt hatte. Wenn man dann aber auf dem Weg zum nächsten Grad stecken blieb und ihn, Howard, einen gestandenen ›Colonel‹ der FFs, um Hilfe bat … Und dieser Colonel nahm sich die Zeit … Dann erwartete er, dass man die gegebene Hilfe auch annahm und nicht nach einer Viertelstunde nur noch Widerworte gab. Der Professor hatte sich in mühevoller Kleinarbeit und endlosen Versuchsserien an die Fünfundvierzig-Prozent-Marke herangetastet. Mittlerweile zeigten ihm seine Speicherakkus nach seinen Testläufen regelmäßig mehr an.

Nein, der Besuch bei Tom in der letzten Woche war ein unbefriedigender gewesen. Am Ende waren sie im Streit auseinandergegangen. Heute hatte Tom dann offenbar Ernst gemacht und seine gewagte Verbesserungstheorie in die Tat umgesetzt – entgegen Howards eindringlicher Warnung.

Jetzt war Tom tot.

Jetzt würde er niemandem mehr widersprechen.

Howard fühlte keinerlei Genugtuung darüber, recht behalten zu haben. Er fühlte nur eine große, traurige Leere. Immerhin war Tom ein langjähriger Mitstreiter der FFs gewesen, wenn auch ein nerviger und unterm Strich eher mäßig talentierter.

Es half nichts. Tom würde nicht wieder lebendig werden, wenn er ihm hinterherweinte. Die Explosion auf der First Avenue war so mächtig gewesen, dass sie neben den Fenstern noch ein Stück Mauerwerk weggerissen hatte. TNT TV hatte das schwelende Loch in der Außenwand des Gebäudes schon mehrfach gezeigt. Die Spurensicherung würde dort keine Fingerabdrücke des Professors mehr finden, dafür hatte Tom Athelston mit seinem Nachstellen des Urknalls selbst gesorgt. Es war an der Zeit, nach vorne zu blicken. Er konnte später immer noch eine Dose Bier auf Toms Andenken leeren.

Der Professor rieb sich die Hände, wie er es immer machte, wenn er einen neuen Versuch begann. Dann betrat er das innere Labor durch eine stählerne Feuerschutztür.

Der Raum wurde von drei Reihen großer Deckenlampen erhellt, die an Ketten hingen und deren Stromkabel in Isolierröhren steckten. Zwei aufeinandertreffende Wände wurden vollständig von Werkbänken eingenommen. Die gegenüberliegende Ecke dominierte ein Würfel aus Stahlbeton, in den eine schwere Panzertür eingelassen war, wie bei einem Tresor. Die Tür stand offen. In diesem Würfel hatte der Professor seinen Fusionsreaktor installiert. Der Reaktor sah ganz harmlos aus – eine metallene Gitternetzkugel mit einer kleineren Gitternetzkugel darin, verbunden mit allerlei Leitungen und Rohren.

Howard öffnete einen Metallschrank und entnahm eine Ampulle Deuteriumoxid. Klimperte auf einem Tablet auf der Werkbank herum. Knackte die Ampulle und träufelte das Deuterium in ein kleines, verschließbares Metallbassin mit Gummilippe an den Rändern. In das Bassin führte ein Draht hinein und ein Schlauch heraus, der in einer gläsernen Glocke mündete, die wiederum in eine Art zylindrischen Kühlschrank überging, an dessen Ende etwas saß, das so etwas wie eine Kartusche sein konnte. Bassin, Glocke, Zylinder – jedes Behältnis war größer als das vorherige. Der Professor klappte das Bassin zu und schloss die Scharniere.

Dann setzte er das Deuteriumoxid darin unter Strom.

Nach einer Weile füllte sich die Glocke mit Dampf, der weiter in den Zylinder strömte.

Auch hier gab es einen Holoschirm, auf dem, wie im Vorraum, der Lokalkanal lief.

»Schau an«, sagte der Professor, während er darauf wartete, dass sein frisch extrahiertes Deuteriumgas in dem Kältezylinder trocknete, »jetzt ist auch das FBI da.«

Mehrere schwarze Vans waren an der Unglücksstelle vorgefahren. Menschen in dunklen Anzügen und dunklen Overalls bevölkerten die Szene. Einmal mehr beglückwünschte sich Howard dazu, dass Tom alle Spuren seines Besuchs in die Luft gejagt hatte. Die Aufmerksamkeit der Staatssicherheit konnte er nicht gebrauchen bei dem, was er in seinem Labor so alles anstellte. Es war schwer genug, gewisse Rohstoffe für seine Experimente aufzutreiben, ohne dabei ins Licht der Ordnungshüter zu geraten. Gar nicht von den Geschichten zu reden, die er den Stadtwerken erzählte, um seinen enormen Stromverbrauch zu erklären.

Eine Weile folgte er den Bildern von TNT News. Aufnahmen aus Toms Appartement gab es keine, nur Außensequenzen. In die Wohnung würden sie so schnell keine Pressefritzen reinlassen.

»Ruhe in Frieden, Tom«, murmelte er und meinte es ehrlich. »Hast dich wacker ins Jenseits gefused.«

Dann wechselte er den Kanal. Die Markthallen Soontowns erschienen auf dem Schirm, mit dem großen Weihnachtsbaum auf dem Vorplatz. Junge, das war wirklich ein respektables Exemplar! Der Bürgermeister musste auch jedes Jahr noch einen drauf setzen!

›Größter Christbaum im Central Valley‹ behauptete die Texteinblendung am unteren Bildschirmrand. Die Städte der Region trugen in der Weihnachtszeit traditionell einen freundlichen Wettkampf aus, bei dem jede Kommune für sich in Anspruch nahm, den längsten, dicksten, prächtigsten Baum zu haben. Am Abend des fünfundzwanzigsten Dezember würde bei dem vor den Markthallen errichteten Weihnachtsdorf wieder die große Santa-Claus-Projektion in den Himmel über Downtown geworfen werden: Santa in seinem Schlitten, mit allen neun Rentieren vorneweg. Das gigantische Hologramm war jedes Jahr ein Hingucker. Die Bürger Soontowns fanden sich dazu an den Weihnachtsbuden ein, tranken heißen Eierpunsch, schwatzten und ließen den ersten Feiertag gesellig ausklingen. Der Professor war traditionell immer dabei, traf sich dort mit anderen Schraubern der Szene und ließ sich bei der Gelegenheit zu einer Silvesterparty einladen.

Er riss sich von dem Bildschirm los und betrachtete das Gasgemisch in der Glocke. Feinste Qualität war das! Damit stieg und fiel alles. Er konnte noch so sorgfältig arbeiten – wenn das Ausgangsmaterial minderwertig war, würden die Atome in seinem Reaktor zwar mächtig in Bewegung geraten, aber es würde viel zu wenig molekulare Zusammenstöße für eine nennenswerte Kernfusion geben. Man wurde nicht Colonel der Furious Fusioneers, wenn man am falschen Ende sparte. Es gab nur noch ein weiteres Mitglied seines Ranges und über ihnen beiden stand der General, ein emeritierter Doktor der Physik, der mittlerweile im Rollstuhl saß, was ihn jedoch nicht davon abhielt, die FFs mit straffer Hand weiter zu führen.

Eine grüne Diode leuchtete an dem Zylinder auf, der Trocknungsprozess war abgeschlossen. Howard zog die Kartusche mit dem fertigen Gas ab. Der Verfeinerungsprozess war mühselig, die Apparaturen dafür hatten viel Geld gekostet. Aber direkt einsetzbares Deuteriumgas zu kaufen, kam leider nicht infrage. Er legte keinen Wert darauf, von behördlicher Seite observiert zu werden.

Nun war es endlich so weit: Der spannende Moment war da.

Neben dem Stahlbetonwürfel stand eine Halterung, auf der die zwei ausgebauten Arme des Outdoor Pro ZX 5000 ruhten. Die Arme des GardenBots hatten sich gegenüber dem Modell, wie es ausgeliefert worden war, ziemlich verändert. In den rechten Arm war nun der Zentralprozessor integriert, der die mitgelieferten Microbots steuerte. In den linken Arm hatte der Professor eine kleine, kreisförmige Fusionsröhre eingebaut, in der er das Plasma speichern wollte, das er heute zu gewinnen hoffte. Wenn er gleich das Ergebnis erzielte, das er sich wünschte, würde er diese Röhre mit sehr, sehr heißer Soße speisen können. Einer Soße, die den aus- und umgebauten Robotergliedmaßen fast unbegrenzte Power verleihen würde.

Keine Akkus mehr aufladen.

Kein Nachtanken.

Energie bis zum Abwinken, auf allerkleinstem Raum.

Einen etwas trockenen Mund hatte der Professor schon, als er die Panzertür des Würfels verriegelte und die Gaskartusche an den entsprechenden Schlauch anschloss. Es hatte schon einmal geknallt an diesem Tag, Toms Negativbeispiel war noch allzu frisch. Und eine Fusionsparty wie die kommende hatte selbst Howard noch nie zuvor durchgezogen. Nicht mit so viel Energieaufwand. Nicht mit so hochwertigem Material. Er hatte sogar eigens dafür seinen Reaktor aufgerüstet, konnte jetzt viel mehr Spannung auf die neuen Gitternetzkugeln im Innern geben.

Man muss Energie einsetzen, um Energie zu gewinnen. So einfach ist das.

Er wusste, dass der General es genauso machte. Nur so konnte dieser alte Sack frech an den fünfzig Prozent Amortisation kratzen. Der Professor wollte heute gar keinen Rekord brechen. Er brauchte nur etwas Plasma, um seine Cyberarme losgelöst von dem Outdoor Pro betreiben zu können. Und den Schwarm der Microbots ebenso.

Gashahn auf!

Der Professor speiste das Deuterium in den Reaktor ein.

Energie!

Als er den Hebel umlegte, begannen die Deckenlampen zu flackern. Eigentlich hätte er das Labor jetzt aus Sicherheitsgründen verlassen sollen. Aber etwas hielt ihn zurück. Er wusste nicht, ob und wann er noch einmal an so feines Zeug herankommen würde und die Stadtwerke konnten ihm jeden Tag den Saft abdrehen. Das hier war womöglich eine Once-in-a-Lifetime-Experience, da wollte er hautnah dabei sein. Davon abgesehen: Falls etwas so richtig schief ging, würde ihn die Trennwand zum Vorraum des Labors auch nicht retten. Tom Athelston hatte das gerade erst eindrucksvoll bewiesen.

Ein Beobachter hätte Howard nicht angemerkt, wie angespannt er war, während er die Anzeigen im Blick behielt. Es ging schon los. Die atomare Massenkarambolage kam in Fahrt.

Lieber Gott, du hast heute schon Tom zu dir genommen. Bestimmt hast du jetzt erst mal genug erfrischende Gesellschaft da oben.

Die Nadeln auf den Armaturen wechselten vom grünen in den gelben Bereich.

Endlich mal jemand, der es wagt, dir zu widersprechen.

Die Nadeln schlugen bis weit in den roten Bereich aus.

Sicher habt ihr euch viel zu sagen.

Die Nadeln blieben wie festgeklebt ganz rechts am Anschlag, der Reaktor begann zu vibrieren.

Da will ich gar nicht stören.

Die Deckenlampen erloschen, draußen röhrte der Dieselgenerator und die Notbeleuchtung sprang an.

Amen!