5.
Special Agent Smith kam sich vor wie im Krieg. Eine aufgesprengte, rußgeschwärzte Hauswand. Brandgeruch in der Luft. Die First Avenue mit Trümmern übersät. Stöhnende Verletzte. Eine ganze Flotte verschiedener Einsatzfahrzeuge. Ein Leichenwagen. Neben ihr kaute McMowan einen Kaugummi.
»Schöne Pleite«, sagte ihr Partner, strich sich über die Rockabilly-Tolle und kratzte sich die Koteletten.
Smith antwortete nicht. Sie war ganz damit beschäftigt, jedes Detail in sich aufzusaugen und abzuspeichern. Sie konnte gar nicht anders. Jahrelanger Drill während der Ausbildung hatten ihr das eingeimpft. Sie sah die verkohlten Steinsplitter aus der aufgesprengten Mauer. Sah Metallteile dazwischen aufblitzen, als sie den Blick schweifen ließ. Sie sah, wie eine Frau eine Decke um eines der Opfer legte und sanft mit ihm sprach. Das musste eine psychologische Unfallhelferin sein. Die hier erlittenen Traumata würden es in sich haben. Smith war heilfroh, das alles erst im Nachhinein zu sehen, nicht bei der Explosion dabei gewesen zu sein.
Sie hob den Kopf. Die halbe Außenwand der Wohnung im ersten Stock fehlte. Ein Mauerrest unterteilte die Öffnung dahinter in zwei Hälften. Die linke Zimmerdecke war komplett schwarz. Rechts der Mauer konnte Smith Überbleibsel von Hängeschränken erkennen, dort schien eine Küche gewesen zu sein. Der Knall hatte im linken, größeren Raum stattgefunden.
»Hat die Spurensicherung schon was für uns?«
McMowan ließ seinen Kaugummiballon platzen. »Ja: den Hinweis, dass sie gerade zu viel zu tun haben für ein Zwischenstatement.«
»Hak gleich noch mal nach, bitte.«
»Natürlich.«
Smith registrierte die zerbrochenen Fensterscheiben auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Blutspuren auf dem Asphalt. Einen umgefallenen Kinderwagen. Ihr Magen zog sich zusammen. Hoffentlich war dem Baby nichts Ernstes passiert.
»Wir gehen rein«, entschied sie.
»Okay.«
Der Hausflur war typisch für eine Protz-Immobilie an der First: riesige Marmorfliesen auf dem Boden und halbhoch an den Wänden. Indirekte Beleuchtung. Eine druckluftbetriebene Verteileranlage für die Briefpost, die die Sendungen von der Haustür direkt in alle Büro- und Wohneinheiten in dem Gebäude weiterverteilte. Zwei Aufzüge nebeneinander, wie in einer Mall. Smith wählte die Treppe. Die viele Schreibtischarbeit machte sie schon lasch genug. McMowan hielt ihr die Brandschutztür auf.
Oben trafen sie drei Cops, einen Notarzt nebst Helfer, eine Brandwache der Feuerwehr, vier Mitarbeiter der Spurensicherung und im Treppenhaus jede Menge abgewimmelte Nachbarn, teils verängstigt, teils neugierig. Unter den Cops war der Polizeichef persönlich: Bruce Oakfield, wie immer rotgesichtig, weißbärtig und kurzatmig. Oakfield und Smith waren von Berufs wegen alte Bekannte.
»Hallo Bruce.«
»Smith! McMowan! Sie können nicht genug kriegen von unserer schönen Stadt, wie?«
»Nein. Soontown ist immer eine Reise wert. Was haben wir denn hier? Hat jemand versucht, zu kochen?«
»Tja«, Oakfield fuhr sich mit der Rechten über seine weißen Stoppeln, »so ganz wissen wir das noch nicht. Der Bursche hat sein Wohnzimmer zu einer Art Labor umgerüstet, so viel ist klar. Wir haben Spuren ausgefallener Chemikalien gefunden. Überbleibsel von komischen Armaturen und jede Menge Kabelzeugs. Verdächtige Glassplitter. Und eine Mitgliedsurkunde der ›Furious Fusioneers‹. Da hab ich Sie dann gleich rufen lassen.«
»Danke. Für die Furious Fusioneers interessieren wir uns schon lange.«
»Keine Ursache. Weiß ich doch.«
Smith besah die Reste des Appartements. »Ist das Gebäude einsturzgefährdet?«
»Der Unfallstatiker meint, nein.«
»Wenigstens etwas.«
Sie zog einen Einweg-Gummihandschuh aus ihrer Sakkotasche und streifte ihn über. »Zeigen Sie mir mal die Urkunde, bitte.«
Oakfield winkte eine Frau der Spurensicherung heran und ließ sich ein Papier aushändigen. »Hier.«
Smith las das Dokument:
›Thomas Athelston
Honored member of the Furious Fusioneers
Geboren am 14. Dezember 2008
Rang: Lieutnant.
In fusing we trust.‹
Sie seufzte tonlos. Das Schicksal hatte diesen Athelston nur wenige Tage nach seinem sechzigsten Geburtstag ereilt. Dann straffte sie sich. »Er hat nicht gekocht, er hat experimentiert.« Sie fotografierte das Dokument und gab es dem Polizeichef zurück. »Danke. Dann kennen wir die Ursache der Explosion. Zumindest schon mal im Groben.«
»He, Smith. Das hier solltest du dir mal ansehen.«
Während sie mit Oakfield gesprochen hatte, war McMowan durch die übrigen Räume des Appartements gewandelt. »Das hier lag im Schlafzimmer. Auf seinem Nachttisch.«
Ihr Partner drückte ihr eine Postkarte in die Hand, mit einer historischen Aufnahme auf der Vorderseite, die Neil Armstrong mit der amerikanischen Flagge auf dem Mond zeigte. Innen stand:
›Hallo Herr Professor,
Sie haben gesagt: »Das funktioniert so nicht.«
Sie haben gesagt: »Das ist zu riskant.«
Sie haben gesagt: »Geben Sie acht, dass es nicht Ihr letzter Testlauf wird.«
Ich lege Ihnen die Ergebnisse des Tests bei. Was sagen Sie nun, Herr Professor?
Beste Grüße
Tom‹
Smith ließ die Karte sinken und sah McMowan an. »Ich glaube, den Fall hier haben wir schnell gelöst. Schon das zweite Indiz für die ›Verrückter-Möchtegernwissenschaftler-jagt-seine-Hütte-in-die-Luft-Theorie‹.« Sie sah noch einmal auf die Karte. »Oben rechts steht das Datum von heute. Schien sich seiner Sache ja ziemlich sicher gewesen zu sein, dass er das schon schreibt, ehe er sein Fusionsding überhaupt durchgezogen hat.«
McMowan hielt einen farblich auf die Karte abgestimmten Briefumschlag in die Höhe. »Der passende Umschlag dazu.«
»Und? Sind da irgendwelche Testergebnisse drin?«
»Nö.«
»Wie auch. Wir können ja ein Stückchen Putz als Durchführungsbeweis beifügen. Liegen ja genug Brösel herum. Steht da ein Adressat drauf?«
»Nö.«
»Schade. Dieser ›Herr Professor‹ könnte uns sicher mehr erzählen. Lass alle Kontakte von diesem Athelston überprüfen. Alle Anrufe, alle E-Mails, sein ganzes Umfeld. Konzentrier dich dabei auf diese Furious-Fusioneers-Typen. Klingt ganz so, als ob hier ein Kollege vom Fach angesprochen wird.« Sie wedelte mit der Karte und reichte sie McMowan zurück. Dann wandte sie sich noch einmal an Oakfield. »Wir könnten erste Ergebnisse Ihrer SpuSi gebrauchen.«
Der Polizeichef lächelte grimmig. »Lassen Sie meine Leute erst mal ihre Arbeit tun. Sobald ich den Bericht auf dem Tisch liegen habe, haben Sie ihn auch.«
Sie betraten den Raum, in dem die Explosion stattgefunden hatte.
»Na, hier steht nichts mehr«, kommentierte Smith. »Alles Schrott.«
Metallteile und Glassplitter lagen auf dem Boden verstreut. In der Mitte war ein unförmiger Klumpen auf den Fliesen festgebacken, mit einem Durchmesser wie ein Regenschirm.
Smith deutete auf die undefinierbare Masse. »Wissen wir schon, was das hier für ein Fleck ist?«
»Herrgott, Smith!«, brauste Oakfield auf. »Ein bisschen Geduld würde Ihnen gut stehen. Ich hab schon alle meine Spürnasen hier. Das hier ist kein ganz gewöhnlicher Tatort, wie Sie sehen.«
»Ja, ja. Schon gut.«
An dem Loch in der Außenwand warf Sie einen Blick auf die Straße. »Wie geht es dem Baby?«
»Dem Baby?« In Oakfields Gesicht arbeitete es. »Ach so, wegen dem Kinderwagen da unten. Ich weiß es nicht. Aber bis auf diesen Athelston selbst hatten wir zum Glück keine weiteren Toten. Wenigstens nicht bis jetzt. Vielleicht weiß ja der Notarzt mehr.«
»Der ist schon wieder weg«, schaltete sich McMowan ein, der zu ihnen getreten war. »Hey, Partner, schau mal da unten: ›Mortons Snack Corner‹. Ist das am Ende der Morton, den wir schon kennen? Der, dem dieser Zombie im Herbst den E-Roller geklaut hat?«
Smith Brauen zogen sich zusammen. Sie mochte es nicht, wenn McMowan ihr Geschlecht überging und sie ›Partner‹ nannte. Aber sagen würde sie ihm das nie. Sie wollte nicht in den Ruf geraten, empfindlich zu sein. »Womöglich. Fragen wir ihn doch gleich einfach.«
Sie trat von dem rußgeschwärzten Durchbruch zurück. »Gut. Die Postkarte nehmen wir an uns. Alles Weitere verbleibt dann erst mal bei Ihnen, Bruce. Wir freuen uns auf Ihre Ergebnisse. Passen Sie derweil auf Ihre Stadt auf.«
Der Polizeichef salutierte spöttisch: »Aye, aye, Special Agent.«
Im Fahrstuhl brummte McMowan: »Dieses Kaff scheint Unglück geradezu anzuziehen. Kommt mir vor, als wären wir gar nicht weg gewesen seit dem letzten Fall.«
»Gib mir noch mal die Karte, bitte.«
»Voilà.«
Ein zweites Mal las Smith Athelstons unfreiwilligen Abschiedsbrief. »Das kann man so deuten, als ob da zwei selbsternannte Profis ihre Rivalität ausgetragen hätten. So etwas wie ein Fusionswettstreit der Amateure. Himmel nochmal! Warum können die nicht einfach nur bowlen gehen?«
Die Türen glitten zurück.
»Weil das die Furious Fusioneers sind«, sagte McMowan mit Pathos. »Die lassen lieber ihre Atome rollen als Bowlingkugeln.«
Smith schnaubte. »Dann war das hier wohl ein Strike, was?«
Sie überquerten die Straße und steuerten auf Mortons Snack Corner zu. Die Explosion hatte die komplette Fensterfront des Restaurants zerstört. Unzählige Scherben glitzerten im Licht der Abendsonne. McMowan tauchte durch eines der zerschmetterten Fenster, Smith nahm die Tür.
Drinnen kehrten zwei Männer die Scherben auf und sammelten sie in Plastikwannen. Sie erkannten beide gleich wieder. Der eine war Morton, der Eigentümer. Der andere war zu ihrer Überraschung jener Bruchpilot, der im Herbst mit seinem Air Taxi mitten in Soontown notgelandet war. Smith hatte den Namen des Kerls nicht mehr parat.
»Hi Morton«, grüßte sie.
Die Augen des Schnellimbiss-Besitzers wurden groß. »Ich werd nicht mehr. Die Special Agents sind wieder da. Welche Ehre! Kaffee?«
»Nein, danke«, sagte Smith.
»Ja, gerne«, sagte McMowan, riss ein Erfrischungstuch auf und rieb sich die Hände sauber. Zitronenduft vermischte sich mit dem Geruch von Frittierfett.
»Rowan, bring uns welchen, ja? Und ein paar Cookies.«
»Okay, Boss«, sagte der Bruchpilot gedehnt und zog ab.
Morton warf Handfeger und Kehrblech in eine Wanne und stand ebenfalls auf.
»Schöne Pleite, was?«, brummte McMowan.
»Kann man wohl sagen«, stimmte Morton zu.
»Das Todesopfer hat praktisch direkt gegenüber gewohnt«, sagte McMowan. »Wohnappartement im ersten Stock, First Avenue No. 327. Vielleicht ein Stammkunde von Ihnen?«
Smith schenkte ihrem Partner einen anerkennenden Blick. So weit hatte sie noch gar nicht gedacht. McMowan sprach nicht viel, aber so schwerfällig er manchmal auch wirkte, er war immer wieder für eine Überraschung gut.
Morton hob die Schultern. »Nicht, dass ich wüsste. Ist vielleicht mal hier gewesen, schon möglich. Kann mir ja nicht jeden merken.« Er machte eine Geste, die den ramponierten Gastraum einschloss. »Schauen Sie sich mal diese Bescherung an! Ich will morgen wieder öffnen können, verdammt!«
Sein Handlanger kam mit dem Kaffee zurück. Jetzt griff Smith auch nach einer Tasse.
»Wir wollen Sie nicht lange aufhalten«, übernahm sie das Gespräch. »Sie haben die Explosion direkt miterlebt, nehme ich an?«
»Jau. War ein ziemlicher Rums.« Morton trat gegen die Wanne mit den Scherben. »Nicht zu überhören.«
»Ist Ihnen unmittelbar vor der Explosion irgendetwas Verdächtiges aufgefallen?«
»Hm… nee«, sagte Morton und schlürfte etwas Kaffee. »Haben mich die Cops auch schon gefragt. Ein ganz normaler Samstag war’s bis dahin. War gut Betrieb hier, bevor das passierte, obwohl die Mittagszeit schon rum war. Möchte mal wissen, was ich verbrochen hab, um sowas hier zu erleben. Und das kurz vor Weihnachten! Wie soll ich den Laden jetzt über Nacht wieder halbwegs in Ordnung bringen? Die kaputte Front abdichten? Mit Pappen und Klebeband kriegt man das ja gar nicht mehr hin!«
Während Morton sprach, blieb Smiths Blick an einem Metallteil hängen, das zwischen den Scherben unter dem Tisch einer Sitzgruppe lag. Sie ging hinüber, streifte sich einen weiteren Einweghandschuh über und hob es auf. Das Metallteil ähnelte einem Küchensieb – ein Stück engmaschiges Drahtgeflecht. Nur, dass der Draht deutlich stärker war und per Hand weder eingedrückt noch verbogen werden konnte. Ein gewölbtes Gittergewebe.
Sie hielt ihren Fund Morton unter die Nase. »Ist das von Ihnen?«
Der Restaurantbesitzer runzelte die Stirn. »Nee.«
Smiths Blick schweifte aus der zerstörten Fensterfront zu der rußbedeckten Fassade gegenüber. »Dann ist es womöglich von da drüben bis hier herüber gesegelt.« Sie drehte das Gitterstück in den Fingern. »Was das wohl mal gewesen ist?«
»Das sollen die im Headquarter enträtseln«, brummte McMowan mit vollem Mund. Er hatte sich einen halben Cookie auf einmal in den Mund gestopft.
»Ja.« Smith sah Morton an. »Sie haben nicht zufällig eine Pommesschale, wo wir dieses Stück für den Moment reinlegen können?«
»Sicher.« Morton ging zu seinem Tresen und fischte einen tiefen Pappteller aus dem Regal. »Sie können auch noch einen Burger haben. Nach dem Wumms waren natürlich alle Gäste auf und davon. Was da noch auf dem Grill war, muss ich sonst wegschmeißen. Ich mach’s Ihnen auch noch mal warm.«
»Nein, danke«, sagte Smith.
»Ja, gerne«, sagte McMowan.