6.

Das Yard’s lag am Nordrand der Stadt, in der Nähe des Waldes. Es war die einzige Bierschwemme in dieser Gegend. Joe, der Barkeeper, hatte alle Hände voll zu tun, immerhin war es Samstagabend. Der Gastraum war gut gefüllt – eigentlich ein Grund zur Freude für den Inhaber. Doch Joe schaute so bärbeißig aus der Wäsche, das man fast Angst bekam. Seine einzige Aushilfe, neben der Köchin, hatte ihn versetzt. Am Tresen hing ein rasch improvisierter Hinweis mit der Aufschrift: ›Heute nur Selbstabholung‹. Trotzdem kam Joe kaum mit den Bestellungen hinterher. Die Stammgäste störten der eingeschränkte Service und Joes grimmige Visage nicht weiter. Sie saßen ohnehin immer direkt am Tresen und wussten, dass Joes Killerblick nur aufgesetzt war und er im Grunde keiner Fliege etwas zuleide tat.

»Noch drei Bier für uns«, sagte Hui-Chen Tinkerman und gab Joe ein Handzeichen, um seinen Wunsch zu untermalen.

Früher war Hui meistens als Letzter dieser Runde eingetroffen. Zu viel Arbeit, zu wenig Zeit. Seit er aber im Herbst seinen Job als leitender Arzt und Wissenschaftler bei Biohead Inc. verloren hatte, war er häufig der Erste an Joes Tresen. Wie die Jungs so hörten, lief es bei Hui derzeit auch familiär nicht ganz optimal. Hui und seine Frau hatten schon länger Zoff, Huis Rausschmiss bei Biohead hatte sich als Gift für die Ehe erwiesen. Die viele gemeinsame Zeit zuhause hatte zu getrennten Schlafzimmern geführt. Zu späterer Stunde ließ Hui sich neuerdings schon mal über die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen und seine Frau im Speziellen aus, sprach von überzogenen Ansprüchen und von Sues losem Umgang mit Geld. Zu seinen Biohead-Zeiten hatte er noch mehr als genug Dollars nach Hause getragen, hatte sich darin gefallen, im Yard’s zur Begrüßung erst einmal eine Runde zu schmeißen. Mittlerweile sah es anders aus.

»Das wird schon wieder«, betete Skylar Johnson, der Highschool-Lehrer, sein Mantra herunter und legte Hui die Hand auf die Schulter. »Gute Leute finden immer etwas. Und du bist gut, das wissen wir doch alle.«

Hui schnaufte. »Dein Wort in Gottes Ohr.«

Ihre Budweiser kamen, und Skylar verteilte die Biere an Hui und Hank Borrows, den Dritten im Bunde. Hank war schon viel länger arbeitslos als Hui, wohnte mit seinem Hund bei Skylar zur Untermiete und hatte die Parkinson-Krankheit.

»Cheers, Männer!«, bemühte Skylar sich, etwas Schwung in ihre Runde zu bringen. Morton Petersen und Rowan Stratford, Nummer vier und fünf des Stammtisches, waren heute nicht gekommen.

»Cheers«, sagte Hui und gab sich wenigstens etwas Mühe.

»Mmm…«, machte Hank, der nach ein paar Budweiser und zwei Tequila so aussah, als gehöre er dringend ins Bett. Hank war nicht mehr der Jüngste. Außerdem sägten seine Krankheit und sein angegriffenes Nervenkostüm an seiner Standfestigkeit. Sein Hund Jip lag wie immer unter seinem Barhocker und döste vor sich hin.

»Sicher hast du schon einige Eisen im Feuer«, meinte Skylar zuversichtlich und wischte sich den Schaum von der Oberlippe.

»Nee«, brummte Hui mürrisch.

»Nicht?« Skylar hob die Brauen. »Warum denn nicht?«

»Weil ich mich noch gar nicht wieder beworben habe«, gab Hui zurück.

»Ach so?«, staunte der Lehrer. »Verstehe. Na, alles braucht eben so seine Weile. Es sind ja auch erst drei Monate, seit du …«

Hui richtete sich auf und starrte Skylar böse an. »Weißt du was, Sky? Manchmal kannst du einem mit deinem Gequatsche echt mächtig auf den Zeiger gehen!«

Skylar ließ sich durch den Ausbruch des Freundes nicht aus der Ruhe bringen. Er sah Hui durch die Gläser seiner Nickelbrille milde an und schwieg.

Der Arzt trank einen Schluck und seufzte tief. »Du weißt so gut wie ich, dass drei Monate ohne Bewerbungen scheißelang sind. Da klafft schon jetzt eine Lücke in meinem Lebenslauf.«

»Ich glaube kaum, dass ein Vierteljahr Auszeit oder ein halbes oder selbst ein ganzes Jahr in deinem Fall eine große Hürde für eine Neueinstellung sein werden«, antwortete Skylar. »Du bist schließlich eine Koryphäe auf deinem Gebiet.«

»Mag sein«, sagte Hui matt. »Aber die Forschung steht ja nicht still. Bist du ein ganzes Jahr draußen, hat dich die Entwicklung schon abgehängt. Das geht ganz schnell. Schon nach einem halben Jahr fängst du an, den Anschluss zu verpassen. Das zwacken die dir dann sofort beim Gehalt ab. Ich kann mir ja schlecht ein Heimlabor einrichten und im Keller künstliche Gefäße züchten.«

Hui war bei Biohead Inc. Spezialist für synthetische Blutbahnen gewesen.

»Warum eigentlich nicht?«, erwiderte Skylar munter.

»Weil Sue endgültig die Kinder einpackt und abhaut, wenn ich unter unserem Dach anfange, mit Serum, Insulin und Zellkulturen zu experimentieren.«

»Verstehe«, meinte Skylar verbindlich.

»Mmm…«, machte Hank, setzte sein Bierglas an und zitterte dabei so stark, dass die Hälfte auf der Hose landete. Jip bekam auch etwas ab. Skylar half Hank fürsorglich, den Trinkprozess abzuschließen.

»Wo stecken eigentlich Rowan und Morton?«, wechselte Hui das Thema.

»Hast du’s noch nicht gehört?«, wunderte sich der Lehrer.

»Was denn?«

»Na, das mit der Explosion. Auf der First Avenue.«

»Bitte? Nein, ist mir neu.«

»Heute Mittag hat’s da mächtig gerumst. Praktisch direkt gegenüber von Mortons Imbiss. Keine Sorge …«, beeilte sich Skylar nachzuschieben, »… ihnen wird schon nichts weiter passiert sein. In den Newsfeeds ist die Rede von einem Toten – dem Mann, dessen Wohnung in die Luft geflogen ist. Vielleicht hat Mortons Laden ja auch durch die Explosion gelitten. Die First war jedenfalls voller Scherben auf den Bildern. Vermutlich waren die zwei den ganzen Abend mit Aufräumen beschäftigt.«

»Ach, du Heiliger!«

»Ja. War wohl ein ordentlicher Wumms.«

»Hauptsache, Morton und Rowan sind wohlauf.«

»Wir können sie ja mal anrufen.« Skylar zückte seinen HoloCom, tippte darauf und hielt das Gerät dann auf der Handfläche vor sich. Kurz darauf schwebten Kopf und Torso von Morton über seiner Hand. »N’Abend Morton. Wir haben das mit der Explosion gehört und uns Sorgen um euch gemacht.«

»Ganz reizend«, brummte Morton. »Aber überflüssig. Unkraut vergeht nicht. Uns ist nichts passiert.«

»Ein Glück!«

»… aber mein Laden ist eine einzige Schutthalde. Alle Fenster hin! Die ganze Front!«

»Das haben wir fast befürchtet.«

»Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie viele Scherben da zusammenkommen! Das kriegen wir heute gar nicht mehr alles abgefahren. Wir waren bis gerade eben noch dran, das Restaurant halbwegs abzudichten für die Nacht.« Das Morton-Hologramm fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. »Mit Latten, Spanplatten und Kartons. Tackern, nageln, Heißkleberpistole … Irgendwie.«

»So ein Ärger!«, warf Skylar taktvoll ein.

»Kannst du wohl laut sagen!«, bestätigte Morton.

»Kommt ihr noch ins Yard’s?«

Morton schüttelte den Kopf. »Nee. Heute nicht mehr. Rowan ist schon vor einer halben Stunde weg. Der war völlig fix und alle. Ist nicht so belastbar, der Gute. Ein Schnellrestaurant rocken ist halt was anderes, als den ganzen Tag im Air Taxi sitzen und Knöpfe drücken. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie lange das mit uns beiden noch gut geht hier.«

»Ja. Also …« Skylars Kopf wanderte zur Eingangstür des Yard’s. Gerade hatte Rowan den Gastraum betreten. »Ähm, ich lass dich dann mal wieder in Ruhe. Du Armer, was für ein Mist. Schlaf dich am besten erst mal richtig aus auf den Schreck.«

Morton nickte düster. »Danke. Werd ich machen. Trinkt einen für uns mit.«

Skylar lächelte, während er Rowan nicht aus den Augen ließ, der zielstrebig auf die Dreiergruppe zusteuerte. »Machen wir. Ciao. Kopf hoch. Ciao!« Er legte auf, eine Zehntelsekunde, ehe Rowan lautstark zu ihrer Runde dazu stieß. »Na, Männer? Schon die Nachricht des Tages gehört?«

»Ja, sicher«, bestätigte Skylar. »Sie bringen ja nichts anderes mehr auf TNT TV.«

»Zu Recht«, sagte Rowan gewichtig. »Die ganze Hausfront hat’s weggerissen. Ich kann euch sagen, das waren Szenen wie aus einem Katastrophenfilm!« Er gestikulierte in Richtung Joe, um sich ein Budweiser und einen Tequila zu bestellen. »Jetzt brauch ich erst mal einen vernünftigen Schluck. In Mortons Ranzbude gibt’s ja nur Softdrinks.«

»Aber Morton und dir ist nichts passiert, ja?«, gab Skylar sich unwissend.

»Nee. Nur die Fenster sind hin. Haben den ganzen Nachmittag lang Glas geschaufelt. Elende Plackerei! Für so ein Geschufte werd ich nicht bezahlt!«

»Nun komm«, mahnte Skylar freundlich. »Du wirst doch deinen Kumpel nicht hängen lassen in so einer Lage.«

»Morton ist nicht mehr mein Kumpel«, stellte Rowan klar. »Er ist ein Leuteschinder. Kein Wunder, dass ihm sein Mexikaner weggelaufen ist. Ich glaube nicht, dass das noch lange funktioniert mit uns beiden am Grill.«

Joe brachte die Drinks und Rowan kippte den Tequila wie ein Verdurstender.

»Ach ja: Erzählt ihm bitte nicht, dass ich heute noch hergekommen bin. Hab gesagt, ich sei todmüde und hab mich früher ausgeklinkt. Hatte echt keinen Bock mehr auf den Blödmann!«

Hui schnaufte, halb tadelnd, halb belustigt.

Skylar hob den Zeigefinger. »Du kleiner Schlingel!«

»Mmm…«, machte Hank und tastete nach seinem Bier. Skylar führte ihm die Hand. Diesmal ging fast nichts daneben.

»Da war vielleicht was los!«, erzählte Rowan weiter. »Die Bullen, Krankenwagen, sogar ein Leichenkutscher! Später kam dann noch das FBI.« Er stürzte sein halbes Bier in einem Zug herunter und schüttelte den Kopf. »Mann! Die ganze Straße hat gebebt. Der ganze Block! Zwei Stunden später kam immer noch Qualm aus der Wohnung.«

»Krass«, sagte Hui. »Wenn sogar das FBI da war … Und ihr habt nichts weiter aufgeschnappt?«

Rowan wiegte den Kopf. Er kostete es sichtlich aus, dass die anderen an seinen Lippen hingen. »Na ja … Die Special Agents neigen nicht so dazu, mit einem Imbissbesitzer über laufende Ermittlungen zu sprechen, wisst ihr. Tatsächlich standen die aber irgendwann bei uns im Laden. Wie vorher schon die Cops. Fragten, ob wir was gesehen hätten. Die haben sogar was bei uns gegessen, zwischen den ganzen Scherben.« Er senkte seine Stimme. »Dabei hab ich was mitgekriegt von dem, was sie untereinander so beredet haben.« Er schaute erwartungsvoll in die Runde.

»Ja?«, fragte Skylar.

»Und?«, fragte Hui.

»Stellt euch vor: Die sagten, da wäre ein Fusionsreaktor hochgegangen!«