7.
Am Sonntag holten Ellen und Ricco nach, was sie tags zuvor wegen der Explosion an der First Avenue gestrichen hatten: Sie fuhren zum Skate Park in Downtown. Der Tag war klar und sonnig, bei milden vierzehn Grad. Ideale Wetterbedingungen.
Der Skate Park war gebaut worden, nachdem Biohead Inc. seine Hauptzentrale in Soontown errichtet hatte – eines der vielen Geschenke Bioheads an die Bürger, mit denen der Konzern die damaligen Proteste hatte besänftigen wollen, die sich gegen die Ansiedlung des mit teils brisanten synthetischen Bakterienzüchtungen arbeitenden Unternehmens gerichtet hatten. Als es im Jahr 2043 wirklich einmal zu einem gefährlichen Outbreak in den Labors gekommen war, hatte Biohead den Park noch einmal auf Vordermann gebracht.
Jetzt, fünfundzwanzig Jahre später, war der Lack ab. Alles war mit Graffiti bedeckt. Risse zogen sich durch die Betonflächen, Rost saß in den Stahlträgern und Verschraubungen. Die Halfpipe war so ausgefahren, dass man beim Fahren darin an einen Schotterweg denken musste. Müllansammlungen in den Ecken rundeten das Gesamtbild ab. Hätte die Skate Community sich nicht in Eigenregie um die Anlage gekümmert und zumindest immer wieder das Allernötigste instand gesetzt, hätte hier schon lange niemand mehr skaten können.
So aber waren Ellen und Ricco nicht die Ersten an diesem Vormittag. Eine Gang Jugendlicher hatte Quarter und Halfpipe in Beschlag genommen und zeigte mal mehr, mal weniger erfolgreich, was mit vier Rädern unter einem Brett alles möglich war. Ellen und Ricco setzten ihre Helme auf und schnallten sich Knie-, Ellbogen- und Handschoner um. Das brachte ihnen die ersten hämischen Kommentare der Gang ein. Einer der Teenager winkelte die Arme an, schlug mit imaginären Flügeln und gackerte wie ein Huhn. »Weicheier!«, fing Ellen auf. »Pussies!«
»Hey Russo«, rief einer der Typen Ricco zu, »was willst du denn hier? Bleib besser bei deinen Games. Wenn du hier auf die Schnauze fällst, tut’s nämlich in echt weh.«
Das war Tim Stratford, der Sohn des Nachbarn der Russos. Tim ging in die gleiche Klasse wie Ellen und Ricco. Bereits ehe sie seinem Vater die Pilotenlizenz entzogen hatten, war Tim eine unausgeglichene Nervensäge gewesen. Mister Stratfords Umschulung zur Imbissbuden-Aushilfe hatte es nicht besser gemacht. Tim und Ricco waren schon vorher nicht gut miteinander ausgekommen. Seitdem herrschte zwischen ihnen offene Feindschaft.
»Danke für den Tipp«, gab Ricco süßlich zurück, »da wär ich von alleine nicht drauf gekommen.«
»Gern geschehen, Spagettifresser!«
Ellen nahm Ricco am Arm. »Komm, wir gehen und fahren woanders.«
Ricco machte sich los. »Nein! Wir bleiben!«
Er betrat die plane Asphaltfläche und begann, sich warm zu fahren. Als er das erste Mal ungeplant abspringen musste, johlte die Meute von der Halfpipe herüber.
»Profi bei der Arbeit«, ätzte Tim.
Ellen gesellte sich zu Ricco und eine Weile rollten sie kreuz und quer über den Asphalt. Dabei war klar, dass Ellen Ricco vom Fahrkönnen her in die Tasche steckte. Sie fuhr scharfe Kurven, beherrschte Powerslides und schaffte sogar einen Kickflip. Das war der Moment, in dem Tims Gang aufhörte zu lachen.
»Das Babe hat’s drauf«, sagte ein schwarzhaariger Lulatsch respektvoll, offenbar der Anführer der Truppe.
»Kann man von dem Itaker nicht behaupten«, sprach Tim das Offensichtliche aus. Ricco fuhr mit verkniffenem Mund und geballten Fäusten – keine guten Voraussetzungen für sichere Moves. Als Ellen ihn einmal lobte, weil er in Ansätzen so etwas wie eine Powerslide-Bremsung hinbekam, fauchte er: »Das war gar nichts!«
Sie gab es auf und ließ ihn in Ruhe.
So hatte sie sich den gemeinsamen Skate-Ausflug nicht vorgestellt. Während sie an ihren Flips arbeitete, bekam sie aus den Augenwinkeln mit, dass die meisten der Gangtypen keine besonders gute Figur in Halfpipe und Quarter machten. Der Einzige, der wirklich sicher fuhr und auch ein paar Tricks beherrschte, war der Lulatsch mit den langen schwarzen Haaren. Deshalb war er natürlich auch der Boss. Er trug eine weite Sporthose im Military-Design und einen schwarzen Hoodie. Beides schlackerte ihm wie ein Sack um den dürren Leib. Als er einmal bei einem ›Disaster‹ patzte, federte er den Sturz gekonnt ab, sprang auf das herabrollende Bord auf und fuhr direkt weiter.
Oh ja – der machte das schon länger.
Etwas später war die Quarter frei.
»Ich geh mal rüber«, sagte Ellen und wechselte zu der Rampe hinüber.
Ricco brummelte etwas Unverständliches und kam etwas später nach.
Für Ellen stellte die Quarter kein Hexenwerk dar. Die Rampe hatte einen großen Radius, war nicht übermäßig steil. Ohne größere Schwierigkeiten fuhr sie vorwärts hoch, rückwärts wieder zurück, vorwärts hoch, rückwärts wieder zurück, bis sie sich für den Axle sicher genug fühlte, der dann auch meistens klappte. Sie wusste, dass Ricco lieber auf der Asphaltfläche geblieben wäre, aber bitteschön: Wenn er sich wie ein Idiot benahm, würde sie eben alleine ihren Spaß haben.
Irgendwann hielt er es nicht mehr aus, nur daneben zu stehen und zuzuschauen und nahm selbst auch einmal die Rampe in Angriff. Dabei pushte er zu halbherzig, rollte kaum bis zur Hälfte hinauf und musste beim herunterrollen abspringen. Tim hatte es gesehen. War ja klar.
»Bist ja’n richtiger Rocker, Russo!«, höhnte er. »Soll ich schieben kommen?«
Ricco antwortete nicht. Beim nächsten Mal pushte er zu stark, flog über die Rampe hinaus in die Luft und landete mit knapper Not oben auf den Füßen. Sein Board rollte ohne ihn abwärts. Ellen hob es im Fahren auf.
»Was machst du nur, wenn du mal keine Perle dabei hast, die dir dein Brett zurückträgt?«, krähte Tim schadenfroh.
»Mach’s besser, Stratford!«, rief Ellen über die Schulter.
Ricco war erst einmal bedient. Er hockte sich auf eine Bank neben der Quarter und begann, auf dem HoloCom herumzuspielen. Ellen übte noch eine Weile den Smith Grind.
Plötzlich rollte der Lulatsch neben ihr her. »Du fährst gut«, sagte er, überholte sie, grindete und kam die Rampe wieder herunter, als sie gerade in die Quarter einfuhr.
Ellen ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Die drei Jahre Erfahrung, die sie in ihrer Mädchenzeit gesammelte hatte, waren eine gute Schule gewesen. Damals in der Skater-Clique hatte sie gelernt, dass sie umso schlechter fuhr, je mehr sie dabei auf Kommentare von außen hörte. Ganz bei sich bleiben, immer nur auf den nächsten Move konzentrieren …
»Komm doch zu uns in die Halfpipe«, bot ihr der Lulatsch bei seinem nächsten Überholmanöver an.
»Nein, danke«, rief sie ihm hinterher. Und, als sie sich am Fuß der Rampe entgegenkamen: »Ich bin mit meinem Freund hier.«
»Ah«, machte der Lulatsch.
Die folgenden Fahrten absolvierten sie schweigend. Ricco tat so, als ob er sich ganz auf seinen HoloCom konzentrierte, aber Ellen wusste, dass er gerade vor Wut schäumte. Pfff… Sollte er doch. Ein bisschen würde sie ihn noch schmoren lassen. Sie hätten ja auch direkt woanders hingehen können, aber er musste natürlich seinen Dickkopf durchsetzen.
»Angebot steht«, sagte der Lulatsch beim nächsten Überholmanöver.
Ellen pushte nach und überholte ihn nun ihrerseits. »Danke.« Sie wagte den Grind und stand ihn. Jetzt war sie es, die dem Lulatsch bergab entgegen kam. »Heute nicht.«
In ihrem Rücken hörte sie ein Board die Rampe herunterpoltern. Der Anführer der Gang hatte seinen Grind verbockt.
Oups.
Man musste dem Lulatsch lassen, dass er seinen Fehler mit Ruhe nahm. Er räumte sein Board für sie aus dem Weg, klemmte es sich unter dem Arm und grinste breit. »Dann vielleicht ein andermal. Ich bin übrigens Chester.«
»Ellen«, sagte Ellen und zeigte auf Ricco. »Das ist Ricco.«
Rampe hoch – Rampe wieder herunter. So langsam war sie wieder eins mit dem Board, wie zu ihren besten Zeiten.
»Also dann.« Chester tippte sich an die Stirn und kehrte zu seinen Jungs zurück.
»Und, kommt die Braut?«, wollte einer der Teens wissen.
»Heute nicht«, hörte sie Chester noch sagen.
»Bist du bald fertig?«, ranzte Ricco sie an.
Ellen bremste und sprang ab. »Hä? Du wolltest doch gerne bleiben.«
»Ja. Jetzt reicht’s mir aber.«
Ellen kickte ihr Board in die Luft und fing es auf. »So ist das also! Der Herr sagt ›bleiben‹ und wir bleiben. Der Herr sagt ›gehen‹ und wir gehen.«
Ricco sprang auf. »Du kannst ja noch fahren, wenn du willst.« Damit stapfte er davon.
Einen Augenblick war Ellen versucht, seinem Vorschlag nachzukommen. Dann atmete sie einmal tief durch und lief ihm hinter her. »Du bist echt albern, weißt du das?«
»So? Findest du?«
»Ja.«
Eine Weile gingen sie stumm nebeneinander her.
Ellen dachte: So viel zu einem schönen gemeinsamen Vormittag! Sehr romantisch, wirklich!
Da spürte sie Riccos Hand an ihrer.
»Tut mir leid«, murmelte Ricco. »Tim nervt halt.«
Sie nahm Riccos Hand. »Absolut. Komm, wir schauen uns den großen Weihnachtsbaum vor den Markthallen an.«
»Ist gut.«
Ellen hatte den diesjährigen Rekordbaum bislang nur im Fernsehen gesehen. Das Prachtstück stand traditionell vor den Markthallen – neben der Central City Mall der Treffpunkt aller shoppingfreudiger Soontowner. Die Hallen waren nicht so modern wie die Mall, verströmten aber gerade deshalb ein gemütlicheres Flair. Die Mall lag am Nordende der First Avenue, die Markthallen an ihrem Südende. Vom Downtown Skate Park war es nicht weit bis dorthin, sie konnten laufen. Sie hätten auch skaten können, aber dann hätten sie sich nicht länger an den Händen halten können, und darauf wollte nach dem Streit gerade keiner von beiden verzichten.
»Ich glaub, uns steckt beiden noch der Schreck von gestern in den Knochen«, sagte Ellen irgendwann.
Ricco nickte. »Auf jeden Fall. Will ich nicht noch mal erleben, so was!«
»Ich auch nicht.« Ellen fasste Riccos Hand fester und begann, ihre Hände sanft vor und zurück zu schaukeln. »Glaubst du, was sie auf TNT News sagen? Dass es ein Hobbybastler war, der zuhause einen auf Kernfusion gemacht hat?«
Ricco schnaufte. »Das ist so verrückt, dass es schon wieder stimmen könnte.«
»Das FBI war da«, sagte Ellen nachdenklich. Auf den Aufnahmen des lokalen Feeds von der Unfallstelle waren die schwarzen Vans nicht zu übersehen gewesen. Sie mussten eingetroffen sein, als Ricco und sie schon wieder fort gewesen waren.
»Ja. Die fangen noch an, sich richtig heimisch zu fühlen bei uns.«
»Warum? Ich dachte, die kommen immer nur bei grenzüberschreitenden Sachen dazu.«
»Keine Ahnung«, antwortete Ricco. »Hab ich mich auch schon gefragt. Vielleicht steckt mehr dahinter, als sie’s bei TNT News wissen.« Er machte eine Pause, ehe er bedeutungsvoll hinzufügte: »Oder mehr, als sie öffentlich sagen dürfen.«
»Du immer mit deinen Verschwörungstheorien!«
Ricco lächelte. »Du glaubst gar nicht, wie viel in diesem Land hinter unserem Rücken läuft.«
»Ja, ja. Ich hoffe jedenfalls, das FBI dampft bald wieder ab.«
»Hoff ich auch. Aber die sind wie Schmeißfliegen: Wenn die einmal da sind, gehen die so schnell nicht wieder weg.«
Sie ahnten nicht, wie recht Ricco damit behalten sollte.