9.

Marc schrak zusammen, als der Autopilot seinen Wagen in eine Parklücke setzte. Er musste kurz weggenickt sein. Benommen erfasste er die Umgebung. Eine kahle, schäbige Straße. Schlaglöcher. Kein Grün längs der Bürgersteige, dafür reichlich Graffiti. Übermannshohe Zäune als Grundstücksbegrenzungen. Mauern, von denen der Putz abblätterte. Ja, hier war er richtig. Der Block, in dem der Professor wohnte, war mehr Gewerbegebiet als Wohnviertel. Das passte zu ihm. Marc stieg aus und streckte sich, dass seine Gelenke knackten.

Kein Wunder, dass er eingeschlafen war. Er hatte die halbe Nacht in seinem Bastelkeller zugebracht, den Outdoor Pro bearbeitet und heute morgen direkt wieder losgelegt. Nur, um dann an einem entscheidenden Punkt steckenzubleiben. Sehr unbefriedigend. Jetzt war er müde und verwirrt und wusste nicht weiter.

»Kofferraum«, sagte er. Das Heck seines Ford Skydance 550i öffnete sich. Er nahm die Sporttasche mit der ausgebauten Steuereinheit heraus, sagte noch einmal »Kofferraum« und das Heck schloss sich wieder. »Parkmodus.« Alle vier Blinklichter des Fords glommen einmal auf, der Wagen war verriegelt.

Die Sonne war schon untergegangen. Im Restlicht der Abenddämmerung überquerte Marc die Straße und erreichte die Hofeinfahrt. Das Gelände dahinter war weitläufig. Der Professor hatte hier eine von mehreren Hallen angemietet. Auf dem Hof gab es noch eine Autowerkstatt, einen Alteisenhändler, einen Gas-Wasser-Installateur und ein Import-Export-Kontor, bei dem niemand so genau wusste, womit da eigentlich gehandelt wurde.

Unterwegs begegnete Marc keiner Menschenseele. Er ließ die Autowerkstatt mit dem angerosteten Fuhrpark und dem Berg aus Altreifen links liegen, registrierte, dass in der Import-Export-Bude Licht brannte und erreichte schließlich hinter dem Gebäude des Klempnerbetriebs die letzte kleine Halle, das Refugium des Professors. Das große Rolltor stand offen. Marc klopfte vernehmlich an das Türblech. »Hallo? Howard? Ich bin’s, Marc.«

Keine Antwort.

Marc trat ein und stand in dem vorderen Teil der Halle, die der Professor halb als Wohnraum, halb als Küche nutzte. Der Betonboden war mit alten Teppichen ausgelegt. Am Kühlschrank lehnte ein Schweißgerät, auf dem Küchentisch lag ein Lötkolben mit einem zerlegten Bausatz, aus dem Marc selbst bei näherem Hinsehen nicht schlau wurde. War es ein Modellflugzeug? Ein Modellauto? Ein kleiner Roboter?

Aus dem Mülleimer quollen Pizzakartons und Pop-Tarts-Schachteln. In der Spüle standen eine leere Champagnerflasche und ein Sektglas. Die Tür zum inneren Labor war angelehnt. Ein Lichtstrahl drang heraus.

»Howard? Bist du da drinnen?«

Sein Blick fiel auf eine Spur kleiner dunkler Flecken, die von der Türschwelle des Labors bis halb in den Vorraum reichten. Marc runzelte die Stirn. Rotwein? Der Professor schien in Feierstimmung zu sein. Er leuchtete mit der Taschenlampenfunktion seines HoloComs auf die Flecken und bekam eine Gänsehaut.

Das war kein Wein. Das war eine frische Blutspur.

Dann hatte er den Durchlass erreicht und drückte die Tür ganz auf.

Das Labor war ein Trümmerfeld. Zwei schwere Stahlschränke waren umgestürzt. Ein Aluminiumgestell, das entfernt an eine freistehende Garderobe erinnerte, lag, in Stücke geschlagen, am Boden verteilt. Mehrere Schubladen waren aus ihren Halterungen gerissen worden, der Inhalt über die Betonplatten verstreut. Die Hälfte der großen Deckenlampen waren heruntergekracht, Halteketten und Stromkabel durchtrennt. Die übrigen Lampen flackerten. Auf dem Beton fand Marc weitere Blutspuren. Hier waren die Spritzer überall. Es sah aus, als hätte sich jemand die Pulsadern aufgeschnitten und dann einen wilden Jive getanzt.

Marc nahm all das von der Schwelle aus wahr. Lange wagte er es nicht, auch nur einen Schritt in das verwüstete Labor zu setzen. Dann tat er es doch. Die Tasche mit der ausgebauten Steuereinheit ließ er solange im Türrahmen stehen.

»Howard?«

Jetzt, wo er den Raum betreten hatte, nahm er ein feines elektrisches Summen war. Es schien aus einem der Schränke zu kommen, die noch standen. Quer über die Schranktüren lief ein Riss, der Stahl war aufgeschlitzt worden wie ein dünnes Stück Stoff. Marc öffnete die Türen. Auf einer ausfahrbaren Arbeitsplatte stand eine Konsole. Vertikale Zahlenkolonnen regneten über den Monitor. Marc brauchte einen Augenblick, um zu realisieren, dass das nur ein Bildschirmschoner war. Er tippte auf das Touchpad. Jetzt zeigte der Monitor ihm mehrere Statusfenster an – lauter Vorgangsprotokolle. Eine Zeitangabe am Fuß einer der Tabellen sprang ihm ins Auge: 16:53 Uhr. Jetzt war es kurz nach sechs. Was immer sich hier zugetragen hatte, war noch gar nicht lange her. Das korrespondierte mit den Blutflecken, die noch glänzten. Howard war aber offenbar nicht zuhause. Irgendetwas musste mächtig schief gelaufen sein.

Marc zog einen Rollhocker zu sich und pflanzte sich vor die Konsole, um die Protokolle näher zu prüfen. Dabei überlegte er, ob er die Cops rufen sollte.

Schwierige Entscheidung.

Er wusste, dass einiges, was der Professor hier tat, sich an der Grenze zur Illegalität bewegte, manches vermutlich auch jenseits davon. Wenn er jetzt die Polizei verständigte, konnte das für Howard unangenehme Folgen haben. Dann würde er womöglich einen Freund hinter Gitter bringen. Und hätte niemanden mehr, den er fragen konnte, wenn er beim Tunen seiner GardenBots nicht mehr weiter wusste. Andererseits schwebte der Professor vielleicht in akuter Gefahr. Marc zweifelte nicht daran, dass es Howards Blut war, das den Boden sprenkelte.

Er beschloss, zunächst die Protokolle zu sichten und die umliegenden Pächter zu fragen, ob sie heute Abend irgendetwas Seltsames bemerkt hätten. Zumindest der Import-Export-Fritze schien ja sonntags zu arbeiten. Vielleicht kam dann ja bereits etwas Licht ins Dunkel. Danach würde er weitersehen.

Wirklich wohl war ihm nicht dabei, sich inmitten all dieses Chaos’ an Howards Computer zu vergreifen. Aber es half nichts, er brauchte Antworten.

Dann wollen wir mal sehen …

Ein Fenster auf dem Monitor hatte den Energieverbrauch im Labor aufgezeichnet. Marc sah einen geradezu wahnwitzigen Ausschlag von gestern Abend. Junge, hatte Howard da Strom durchgebraten! Es war ein einmaliger Peak gewesen, danach flachte die Kurve wieder auf Durchschnittsverbrauch ab und blieb unauffällig. Das konnte nur bedeuten, dass Howard gestern Abend seinen Fusionsreaktor angeworfen hatte. Marc war nicht tiefer im Thema, er wusste nur, dass der Professor Teil eines etwas obskuren Clubs von Hobby-Atomkernverschmelzern war.

Eine andere sich selbst fortschreibende Tabelle verfolgte die Raumtemperatur im Labor. Übereinstimmend mit dem Ausschlag beim Stromverbrauch, hatte es gestern Abend einen Anstieg gegeben. Gegen 17 Uhr war es hier drinnen in relativ kurzer Zeit richtig heiß geworden – über hundert Grad Fahrenheit, eine gute Stunde lang. Danach war die Temperatur peu a peu wieder auf Normalniveau gefallen.

Okay. Der Professor hatte gestern mit seinem Reaktor herumexperimentiert. Das war ja ganz aufschlussreich, verriet aber nichts darüber, was sich hier vor mutmaßlich einer Stunde mit Howard abgespielt hatte.

Warte! Wo war noch gleich diese andere Tabelle gewesen? Die mit dem stehengebliebenen Zeitmesser? Ah ja, da! 16:53 Uhr.

Marc klickte das Fenster nach vorne. Scannte die Einträge. Dabei begann er zu frösteln, obwohl es in dem Labor nicht kalt war.

Diese Tabelle hatte bis vor rund einer Stunde ein buntes Spektrum von Howards Körperfunktionen aufgezeichnet. Herzrhythmus. Hirnströme. Blutdruck. Atemfrequenz. Marc war kein Mediziner, aber ein Puls von deutlich über zweihundert, eine geschlagene Viertelstunde lang, von 16:38 Uhr an bis zum Ende der Aufzeichnung – das konnte nicht gesund sein. Zumal der Professor ja nicht gerade eine Sportkanone war. Dazu Hyperventilation, soweit Marc aus den pneumologischen Daten schlau wurde. In welche Spalte der Tabelle er auch schaute, alle Werte waren zur selben Zeit sprunghaft in die Höhe geschnellt und bis zum letzten eingehenden Impuls oben geblieben.

Im nächsten Moment machte Marcs eigenes Herz einen Satz: Etwas berührte ihn am Bein. Vor Schreck fiel er fast vom Hocker. Ein schwarzer Schatten huschte unter die Werkbank. Ein grünes Augenpaar funkelte ihn an.

Gott! Eine Katze! Nur eine Katze!

Er entließ die sprunghaft eingesogene Luft aus seinen Lungen und stand auf. Er hatte genug gesehen. Was immer den Professor in einen derartigen körperlichen Ausnahmezustand versetzt hatte, es war kein Zufall gewesen. Howard hatte sich vorher Elektroden auf die Haut gesetzt, hatte in voller Absicht gehandelt und aufzeichnen wollen, was dann in der Folge mit ihm geschah. Ein Selbstversuch. Aber wozu? Welcher Natur sollte dieser Versuch gewesen sein?

Und warum das ganze Blut?

Klägliches Miauen unter der Werkbank.

Als Marc in den Vorraum zurückkehrte, lief die Katze ihm nach. Er schaltete das Licht im inneren Labor aus, fand das Katzenfutter in einem der Küchenschränke und riss dem Tier einen Beutel auf. Wer weiß, ob und wann Howard zurückkommen würde.

Mit Hilfe der Taschenlampenfunktion seines HoloComs erkannte er bei zweitem Hinsehen, dass die Blutspur bis vor das Rolltor führte, wo sie sich im Staub des Hofs verlor. Unschlüssig pendelte Marcs Blick zwischen Hof und Labortür hin und her.

Ein gescheiterter Selbstversuch. Eine Art extremer Tobsuchtsanfall. Die Zerstörung im Labor hatte sich nur mit diversen Hilfsmitteln herbeiführen lassen. Dann raus in den kalifornischen Dezemberabend, ein bisschen die Beine vertreten, um wieder runterzukommen.

Nur, dass Howard dabei geblutet hatte.

Marc verließ die kleine Halle. Das Rolltor zog er hinter sich zu. Die Haustür musste ja nun nicht sperrangelweit offen bleiben, wenn niemand da war.

Auf dem Rückweg fasste er sich ein Herz und klingelte bei dem Import-Export-Händler, bei dem immer noch Licht brannte. Als er sich nach dem zweiten Klingeln abwenden wollte, knackte die Gegensprechanlage. »Wer ist da?«

»Verzeihung, Marc Seymor ist mein Name. Ich bin ein Freund vom Professor.«

»Von wem, bitte?«

»Von Howard Doyle.«

»Ah. Der.«

»Haben Sie ihn zufällig gesehen? Kürzlich, heute Abend? Er scheint nicht zuhause zu sein.«

»Nee.«

»Haben Sie vor etwa einer Stunde vielleicht irgendwelche seltsamen Geräusche aus seiner Halle gehört?«

»Ja, hab ich. Wenn schon. Der Kerl macht ständig irgendwelchen Lärm. Und nun entschuldigen Sie mich bitte, ich hab den Schreibtisch voll. Ich sitz hier nicht umsonst noch am Sonntag im Büro.«

»Natürlich. Danke. Schönen Abend.«

Es knackte wieder, die Leitung war tot.

Marc kratzte sich am Hinterkopf.

Polizei oder keine Polizei, das ist hier die Frage.

Howard war verletzt, so viel war sicher. Vielleicht hatte er eine Klink aufgesucht? Laufen konnte er ja offensichtlich noch. Wenn Marc jetzt die Cops rief, kam der Professor womöglich frisch versorgt und guter Dinge wieder und fand einen Streifenwagen vor seiner Tür, nebst dem fürsorglichen Freund, der ihm das eingebrockt hatte.

Marc versuchte, den Professor auf dem HoloCom zu erreichen, aber es ging keiner ran. Er hinterließ eine Nachricht auf der Mailbox und legte wieder auf.

Ich komme morgen noch mal wieder. Wenn er dann immer noch nicht hier ist, ruf ich die Bullen.

Zurück an seinem Wagen, fiel ihm ein, dass er die Tasche mit der ausgebauten Steuereinheit beim Labor des Professors vergessen hatte. Also noch einmal zurück.

Der Hof war jetzt deutlich dunkler als vorhin. Es gab hier nur spärliche Beleuchtung. Das Neonschild der Autowerkstatt. Eine Außenlampe vor der Garage des Klempnerbetriebs. Das funzelige Bürolicht des unfreundlichen Import-Export-Händlers. Als Marc das Kontor ein zweites Mal passierte, sah er ein Gesicht hinter der Jalousie des Bürofensters. Der Typ beobachtete ihn.

An Howards Halle angekommen, schob er das Rolltor gerade so weit auf, dass er hineinschlüpfen konnte. Etwas strich um seine Beine, doch dieses Mal war er vorgewarnt.

»Jaaa, Kitty, Kitty. Bist ’ne Feine.«

Er wusste nicht, wo im Vorraum der Lichtschalter war und behalf sich wieder mit seiner HoloCom-Lampe. Die Tasche mit der Steuereinheit stand noch immer am Durchgang zum Labor. Die Katze wich ihm nicht von der Seite. Als er die Tasche aufhob, kraulte er das Tier ein bisschen. »Jaaa … Fein …«

In seinem Rücken wurde das Rolltor weiter aufgeschoben. Vor Schreck fiel Marc der HoloCom aus der Hand. Das Licht kullerte über den Betonboden, die Katze flitzte fort.

Marc fuhr herum. Auf der Schwelle stand ein Umriss mit vier Armen.