10.
Bei den Seymors gab es Chili con Carne. Das war Dads Leibgericht. Nur, dass Daddy gar nicht mit am Tisch saß, Ellen und ihre Mum waren zu zweit.
»Wo ist er denn hin?«
»Ach, zu diesem ›Professor‹«, antwortete Mum mürrisch und warf einen Blick auf die Küchenuhr. »Sagte, es würde nicht lange dauern. Typisch!«
Ellen schwieg. Wenn Mum sauer war, tat man gut daran, ihr möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Und jetzt war sie richtig sauer. Sie hatte das Chili in erster Linie für ihren Mann gekocht.
»Hör mal, Schatz, ab morgen bin ich auf einer Fortbildung«, sagte sie nach einer Weile. »Die geht die ganze Woche, bis Freitag. Wahrscheinlich komm ich aber erst Samstagvormittag wieder. Das Seminar ist in San Francisco. Da fahr ich Freitagabend lieber nicht mehr stundenlang durch die Dunkelheit.«
Ellen sah von ihrem Teller auf. »Eine Fortbildung? So kurz vor Weihnachten?«
»Es ging nicht anders. Ich werde am Samstag früh losfahren und zeitig wieder hier sein. Und den Festtagseinkauf gleich mitbringen.«
»Okay.«
»Pass so lange auf deinen Vater auf, ja? Er hat gerade wieder eine seiner heißen Schrauberphasen, da müssen wir ein Auge auf ihn haben. Du weißt ja, wie er dann ist.«
Oh ja, Ellen wusste nur zu gut, wie ihr Dad in so einer Phase war: kaum ansprechbar. Vergraben in seinem Bastelkeller. Oberflächlich freundlich, mit den Gedanken woanders. Permanent im Abwimmel-Modus. Mum trieb das immer in den Wahnsinn. Für Ellen dagegen bedeutete das: Während Mum fort war und Daddy im Keller schraubte, war das fast so gut wie eine sturmfreie Bude. Sie lächelte. »Mach dir keine Gedanken. Ich kümmer mich schon um Daddy.«
»Danke.« Mum wirkte ehrlich erleichtert. »Lust hab ich null, wegzufahren, aber mein Boss hat darauf bestanden, das noch in diesem Jahr durchzuziehen. War wohl noch Budget übrig. Und wenn sie’s nicht alles ausgeben, kriegen sie nächstes Jahr weniger.« Sie schnaufte verächtlich.
Ellens Mutter arbeitete als Lotse bei der städtischen Flugüberwachung. Luftbusse, Air Taxis und privater Kurzstrecken-Flugverkehr … Alles, was über den Dächern der Stadt unterwegs war, bedurfte der Registrierung, wurde getrackt oder wenigstens stichprobenartig überprüft. Es war ein guter Job. Ellen hatte zumindest den Eindruck, dass Mum das gerne machte. Auch, wenn sie einmal im Monat eine Wochenendschicht übernehmen musste und oft genug darüber stöhnte.
»Wenn Daddy Blödsinn macht, droh ich ihm einfach, dir alles zu erzählen«, sagte Ellen mit vollem Mund. Mums Chili war köstlich, wie immer. »Das sollte ihn zu Verstand bringen.«
Zum Nachtisch gab es Eiscreme.
»Und? Hattet ihr einen schönen Tag zusammen?«, erkundigte sich Mum.
»Mja«, antwortete Ellen, »Wir waren skaten. Und am großen Weihnachtsbaum vor den Markthallen.«
»Na, klingt doch gut!« Etwas wehmütig fügte Mum hinzu: »An den Markthallen waren dein Vater und ich schon ewig nicht mehr zu Weihnachten. Einfach mal wieder bummeln, Eierpunsch trinken, Leute treffen …«
»Dann macht das doch einfach diese Weihnachten«, schlug Ellen vor. »Wegen mir braucht ihr euch da nicht zurückhalten. Ich kann ja so lange zu Russos und mit Ricco und seiner Mama weiterfeiern.«
»Lieb von dir, Schatz. Vielleicht kommen wir ja darauf zurück. Falls dein Vater nicht auch noch am ersten Weihnachtstag zum Schrauben in den Keller verschwindet.« Mum begann, den Tisch abzuräumen. »Aber jetzt muss ich morgen erst mal zu dieser blöden Fortbildung.«
Es war weit nach 21 Uhr. Dad war immer noch nicht zurück.
Natürlich nicht. Wenn er diesen Professor besucht, kann das die halbe Nacht dauern.
Oben auf ihrem Zimmer checkte Ellen sofort ihre Nachrichten. Zwei neue Mails von Ricco – eine mit Anhang, ganz ohne Text, plus eine reine Textnachricht.
Ellen klickte den Anhang auf, eine Videodatei. Ricco hatte sich eine Weihnachtsmannmütze auf den Kopf gesetzt und zwei Christbaumkugeln über die Ohren gehängt. »Ho, ho, ho! Willst du mit mir Weihnachten später noch mal runter zu den Markthallen gehen? Zur traditionellen Afterparty? Wir könnten hinskaten.« Er kam näher an die Kamera heran und sagte geheimnisvoll: »Vielleicht kriegst du da ja auch noch ein nachträgliches Weihnachtsgeschenk.«
›Wie? Nur vielleicht?‹, schrieb Ellen zurück.
Dann las sie die zweite Mail von Ricco:
›Ich bin immer noch mächtig eifersüchtig auf diesen Skateboard-Typen und werde ab sofort täglich vier Stunden lang üben – mindestens. Dann bin ich bald richtig gut und mach den Blödmann in der Halfpipe nass. Dann gehört deine Liebe wieder mir allein.‹ Kuss- und Zwinkersmiley.
›Super! Ich halt schon mal das Verbandszeug bereit‹, schrieb Ellen zurück. Lach- und Kuss-Smiley.
Ping! Prompt ging ihr Chatprogramm auf. Ricco hatte ein neues Avatarbild hochgeladen – ein Shot von ihm mit der Weihnachtsmannmütze und den Kugeln an den Ohren.
›Ich kann jetzt übrigens den Kickflip.‹, schrieb er.
Ellen prustete los. Antwortete: ›Ja nee – ist klar!‹
›In Gedanken‹, ergänzte Ricco. ›Theoretisch.‹
›Ah so. Na dann … Glückwunsch. Mein Held!‹
›Als nächstes perfektioniere ich im Kopf den Smith Grind. Stark, was?‹
›Gähn.‹
Sie chatteten bis fast 23 Uhr. Irgendwann steckte Mum den Kopf in Ellens Zimmer. »Jetzt ist aber Schluss. Morgen ist ein ganz normaler Montag. Mit zeitig aufstehen und in die Schule.«
»Pfff… Da passiert die letzten Tage vor Weihnachten eh nichts mehr.«
»Trotzdem. Ab ins Bett. Ich geh jetzt auch schlafen.«
»Gu-ut.«
Im Bad liefen sie sich noch einmal über den Weg.
»Ist Daddy immer noch nicht zurück?«, stichelte Ellen.
»Nein«, grollte Mum mit einem Blick, bei dem sich Ellen glücklich pries, nicht in ihres Vaters Haut zu stecken. Spätestens morgen beim Frühstück würde Marc die Abreibung dafür bekommen, seine Frau derart versetzt zu haben. »Es ist ja auch nicht so, dass ich die ganze Woche unterwegs bin und wir uns erst am fünfundzwanzigsten wiedersehen. Und es ist ja auch nicht so, dass dein Vater das nicht ganz genau wüsste.«
Während Ellen in ihrem Zimmer in ihren Schlafanzug schlüpfte, hörte sie Mum nebenan im Elternschlafzimmer an den Schränken hantieren und ihre Sachen für die mehrtägige Fortbildung packen.
Beim Haarebürsten fiel Ellen wieder ein, dass sie noch gar kein richtiges Geschenk für Ricco hatte. Nur die neuste Ausgabe seiner Lieblings-Computer-und-Programmierer-Zeitschrift. Sie wusste, dass Ricco dieses Blatt aus Sparsamkeitsgründen immer nur online las, es aber eigentlich liebte, auf Papier zu schmökern. Ricco war der einzige Junge, den Ellen kannte, der noch gedruckte Bücher zuhause im Regal stehen hatte. Von daher war die Zeitschrift ein sehr treffendes Geschenk, für sich genommen allerdings ein bisschen wenig und außerdem nicht besonders romantisch.
Ich könnte mich selbst schenken. So mit roter Schleife, zum Auspacken.
Sie kicherte. Bisher hatten sie sich geküsst und leicht bekleidet liebkost und gestreichelt. Von ihr aus konnten sie nun langsam aber sicher den nächsten Schritt wagen. Sie war sich sicher, dass Ricco da mitziehen würde. Er war vor kurzem sechzehn geworden und sie würde im Januar ebenfalls Geburtstag haben. Es war nur noch eine Frage der richtigen Gelegenheit.
Zum Einschlafen schnappte sie sich ihren HoloCom und recherchierte ein wenig zum Thema ›Mein erstes Mal‹. Dabei lauschte sie mit halbem Ohr darauf, die Haustür gehen zu hören. Schließlich hatte Mum ihr einen Auftrag gegeben. Ellen war bewusst, dass das mehr als nur scherzhaft gemeint gewesen war.
Nach einer halben Stunde wurden ihr die Lider schwer. Die diversen Internetseiten boten ihr nichts zu dem Thema, was sie nicht schon wusste oder was sie weiterbrachte. Nebenan war es still geworden. Ellen checkte die Smart-Home-App: Ihr Daddy war nach wie vor nicht da, die Haustür war nach ihrer Rückkehr von dem Ausflug mit Ricco nicht mehr geöffnet worden.
Blödmann! Mum so hängen zu lassen!
Es kam nicht oft vor, dass sie die Partei ihrer Mutter ergriff. Meistens war es andersherum. Aber wenn Marc Seymor sich in seine Bastelleidenschaft verstieg, schlug er manchmal einfach über die Stränge. Da gab es ab einem bestimmten Punkt dann auch von Ellens Seite her kein Pardon mehr.
Was er wohl bei diesem Professor wollte? Und warum dauerte das so lange? Die Erfahrung lehrte: Immer, wenn der Professor ins Spiel kam, pries ihr Dad ihn als die Lösung all seiner vertrackten Schrauberprobleme. Und immer, wenn der Professor mit seiner Hilfe fertig war, fingen die richtigen Probleme erst an. Das wenigstens war bisher Ellens Wahrnehmung. Schwer zu glauben, dass es dieses Mal anders sein sollte.
Die Sorge geleitete sie in den Schlaf.
* * *
Sie träumte, dass sie nackt Skateboard fuhr und dass Chester, der dürre Cliquenanführer, ihr dabei zusah.
»Du hast’s voll drauf«, rief er und klatschte in die Hände.
Reflexartig versuchte Ellen, ihre Blößen mit den Händen zu bedecken. Da rollte sie schon die Rampe hoch, flog in die Luft und verlor dabei das Brett.
Das gibt fiese Schürfwunden, so ganz ohne Klamotten!
Aber als sie wieder herunterfiel, landete sie auf der Wiese des elterlichen Gartens. Daddy war da und streckte ihr die Hand hin. »Ich helf dir auf, mein Schatz.«
Ellen schoss die Schamröte ins Gesicht. Da bemerkte sie, dass sie wieder etwas an hatte.
Ein Glück!
Sie nahm die Hand ihres Vaters, doch es war eine Roboterklaue, die ihre Finger zusammenquetschte. Nur noch Marcs Kopf war da, aufgepfropft auf einem GardenBot.
»Wir beide mähen jetzt den Rasen!«, sagte Daddy mit blecherner Stimme.
»Aua! Du tust mir weh!«, jammerte Ellen und riss sich los. Jetzt hatte sie selbst einen Roboterarm und während sich die Titaniumklaue, die ihre Hand ersetzt hatte, vor ihren Augen drehte, hörte sie ihren Vater sagen: »Keine Bange, ich krieg dich wieder hingetüftelt.«
Der Marc-Roboter rollte mit einem monströsen Schraubenzieher in den Greifern auf sie zu.
Ricco, hilf mir! Hilfe!!
Ellen erwachte in ihrem Schweiß. Es war mitten in der Nacht. Etwas blinkte auf dem Nachttisch. Ihr HoloCom. Sie hatte eine neue Nachricht.
Von Daddy. Abgeschickt um 1:34 Uhr.
›Macht euch bitte keine Sorgen. Bin etwas versackt hier. Komme jetzt nach Hause. Deine Mutter soll sich nicht aufregen. Alles ist gut.‹
Ellen rieb sich die Augen und las die Nachricht ein zweites Mal. Sie war schlaftrunken und noch halb in ihrem Albtraum gefangen. Aber wach genug um zu spüren, dass Dad ihr etwas verheimlichte. Er war schon immer ein schlechter Lügner gewesen.
Gar nichts war gut.