11.
Marc hob die Hände. »Howard? Ich bin’s, Marc.«
Der vierarmige Umriss trat durch das Rolltor. Eine Taschenlampe blitzte auf. Ihr Licht blendete Marc, er hielt sich eine Hand vor das Gesicht.
»So, so«, sagte eine fremde Stimme.
»Und wer sind Sie?«, wollte Marc wissen.
»Woodstein. Automechaniker. Was macht ein ›Freund‹ von Doyle allein in seiner Wohnung?«
Marc zuckte die Schultern. »Wir waren verabredet. Könnten Sie bitte die Taschenlampe runter nehmen?«
Der Lichtkegel senkte sich auf seine Füße.
»Danke. Wir waren verabredet, aber Howard war nicht da. Die Tür stand auf, da bin ich rein. Haben Sie ihn vielleicht gesehen? Ich hab auch schon bei Ihrem Import-Export-Nachbarn gefragt.«
Der Umriss kam näher. Plötzlich ging das Licht im Vorraum des Labors an. Woodstein hatte den Schalter betätigt. Er schien sich hier auszukennen. »Ja, hab ich. Heute, früher Nachmittag. Da hat er sein Nickerchen gemacht, genau hier.« Der Automechaniker deutete auf den Betonboden zu seinen Füßen. »Auf seiner Liege. In der Sonne. Wie immer bei schönem Wetter.«
Jetzt sah Marc, dass Woodstein sich locker eine Jacke über die Schultern gelegt hatte. Die herabhängenden leeren Ärmel hatten ihn genarrt. Von wegen vier Arme! Die Taschenlampe war von massiver Bauart und halb so lang wie ein Baseballschläger.
»Woher kennen Sie Howard denn?«, hakte Woodstein nach.
Er hatte tiefschwarze Haare und einen besonderen Teint. Indianische Abstammung, schätzte Marc.
»Wir sind Schrauberkollegen. Basteln beide gerne an GardenBots rum. Ich bin Mechatronikermeister.«
»Aha. Noch so ein Spinner.«
Marc lächelte gewinnend. »Wenn Sie so wollen. Und Sie und Howard sind auch so etwas wie Freunde?«
»Geht so. Wir sind Nachbarn. Ab und zu kauft er Diesel bei mir ein, für seinen Generator. Dann trinken wir schon mal ein Bier zusammen.«
»Wissen Sie, wo Howard steckt?«
»Keine Ahnung. Ist ja kein Überwachungsstaat hier.«
»Nein. Natürlich nicht.«
Woodstein wies mit seiner Stabtaschenlampe auf die Sporttasche in Marcs Faust. »Was haben Sie denn da drin?« Es war deutlich, dass er Marc nicht über den Weg traute.
»Das Steuerelement eines Outdoor Pro. Das ist ein ganz neues Modell. Der Professor … Howard wollte mir dabei helfen, das Teil mal durchzuchecken. Wir waren verabredet, wie gesagt. Schon vor einer Stunde. Aber jetzt ist er immer noch nicht da. Die Tür stand offen, da bin ich rein, um nach ihm zu schauen.«
»Und was haben Sie eine Stunde lang hier drinnen getrieben?«
»Ich habe versucht, ein Rätsel zu lösen.« Marc machte eine Geste zum Labor. »Sehen Sie selbst.«
Misstrauisch schob sich der Automechaniker an Marc vorbei, die Taschenlampe wie eine Keule erhoben. Er war ein hochgewachsener, massiger Mann, konnte Marc zum Frühstück verspeisen, wenn er es wollte. An der Tür zum Labor reckte er den Hals und knipste seine Lampe wieder an. Seine dunklen Augen wurden groß.
»So hab ich Howards Labor vor einer Stunde vorgefunden«, erläuterte Marc. »Jetzt verstehen Sie wohl, dass ich mir Sorgen mache.«
Woodstein schaltete die Taschenlampe wieder aus. »Dieser Spinner! Das sieht übel aus. Was mag hier passiert sein?«
»Tja …«, Marc kratzte sich den Hinterkopf, »ich würde sagen, Howard hat ein bisschen herumexperimentiert. Dabei ist wohl was schief gelaufen. Haben Sie die Blutspur gesehen? Hier.« Jetzt war es an ihm, auf die Betonplatten zu deuten.
Knips. Woodstein leuchtete mit der Taschenlampe den Boden ab. »Donnerwetter!« Er folgte der Spur durch das Rolltor auf den Hof. Draußen funzelte er noch ein wenig herum. Dann machte er die Taschenlampe wieder aus und zündete sich eine Zigarette an. »Scheiße.«
Marc entspannte sich, schaltete das Licht im Vorraum aus und leistete Woodstein beim Rauchen Gesellschaft. »Ja. Ich hab da ein ganz mieses Gefühl. Howard ist so etwas wie der Guru unter den Bastlern dieser Stadt. Wer mit seinem Kram mal nicht weiter kommt, der kommt hierher zu ihm. So wie ich heute Abend. Wir nennen ihn nicht umsonst ›den Professor‹. Wenn jemandem wie Howard sein Labor um die Ohren fliegt, dann war die Kacke richtig am Dampfen.«
Außerdem gibt’s da eine Aufzeichnung seiner Körperfunktionen, mit echt wüsten Werten.
Aber das behielt Marc für sich.
Woodstein schickte eine Rauchsäule gen Himmel. »Typisch Hobbyschrauber! Haben’s nie richtig gelernt und wollen trotzdem zu den Sternen greifen! Kein Wunder, wenn das schief geht.«
Marc schwieg. Die Nacht war mild. Insekten summten, Zikaden zirpten – selbst hier, in der Stadt. Ein voller Mond stand am Himmel.
Er sollte längst wieder zuhause sein. Anne würde schäumen vor Wut, es war der letzte Abend vor ihrer mehrtägigen Fortbildung.
»Wohnen Sie auch hier?«, fragte er Woodstein. »Oder arbeiten Sie hier bloß?«
Der Automechaniker aschte ab. »Ich wohne über meiner Werkstatt.«
»Hören Sie, ich muss jetzt zurück zu meiner Familie. Wir könnten die Cops rufen, aber … Na ja … Nicht alles, was Howard da drinnen so treibt, ist hundertprozentig legal. Also, das Meiste schon, aber wenn die Polizei kommt und dieses Chaos sieht …«
»Ich hab Sie schon verstanden«, brummte Woodstein. »Ich selbst leg auch keinen Wert drauf, dass die Aufsichtsbehörde öfter als nötig bei mir vorbeischaut.« Er zog an seiner Zigarette. »Andererseits … Das ganze Blut auf dem Beton …«
Marc seufzte. »Wenn Ihr Bauchgefühl sagt, wir sollten besser die Kavallerie rufen, dann tun Sie’s. Ich hätte jetzt erst mal diese Nacht abgewartet. Vielleicht lässt Howard sich ja gerade ambulant versorgen. Dann kommt er wieder und findet die Cops in seinem Labor.«
»Versteh schon«, brummte Woodstein. »Ich werd ein Auge auf seinen Schuppen haben. Und morgen früh noch mal nach dem Rechten schauen.«
»Lieb von Ihnen«, sagte Marc erleichtert. »Ich geb Ihnen meine Nummer. Rufen Sie mich an, wenn Howard wieder da ist oder Sie irgendwas Ungewöhnliches bemerken. Rufen Sie mich auch mitten in der Nacht an, ganz egal.«
»Was Ungewöhnliches?« Woodstein sah ihn von der Seite an. »Denken Sie da an was Bestimmtes?«
Marcs Blick schweifte zurück zu dem Refugium des Professors. Vor seinem inneren Auge sah er das zerstörte Labor. »Nein, ich …«
Etwas Kleines krabbelte über seinen Unterarm. Reflexartig schlug er darauf. Ein Microbot taumelte zu Boden, fing sich wieder und schwebte mit wütendem Surren in den Nachthimmel. »Mist!«
Woodstein schickte dem winzigen Flugobjekt eine Rauschschwade hinterher. »Was war’n das für ’ne komische Hummel?«
Das Surren schwoll an, wurde aggressiver, metallischer. Das war kein einzelnes Exemplar mehr. Das war ein ganzer Schwarm. Marcs Eingeweide gefroren. Eine böse Vorahnung befiel ihn.
Er packte seine Sporttasche fester und Woodstein am Arm. »Ich glaube, wir sollten verschwinden.«
»Hä? Wieso?«
Im nächsten Augenblick schwebte eine humanoide Silhouette über das Dach von Howards Halle, ein schwarzer Umriss vor dem Mond, mit Tentakeln an Kopf und Schultern. Aber Marc wusste es besser: Das waren keine Tentakel. Das waren Trauben von Microbots, die sich an die Gestalt klammerten und sie durch die Luft trugen. Zwei mächtige Greifarme schimmerten silbrig im Mondlicht. Das metallische Summen klang wie ein Hornissenschwarm aus der Hölle.
»Das … Das meine ich mit Ungewöhnlich!«, stammelte Marc.
Woodstein war die Zigarette aus dem Mundwinkel gefallen. Er hielt sich nicht damit auf, sie auszutreten. »In die Werkstatt! Kommen Sie! Schnell!«
Während Sie rannten, schwirrten winzige Schatten an ihnen vorbei. Woodstein schlug sich in den Nacken, Marc rubbelte sich panisch die Haare, wo sich ein Cyberinsekt hatte einnisten wollen. Das Summen des Schwarms folgte ihnen, wurde lauter.
Woodstein drückte auf einen Controller, den er im Laufen aus der Hosentasche gezogen hatte. Das Rolltor seiner Garage öffnete sich. »Da rein!«
Gebückt stürzten sie in die Werkstatt. Der Automechaniker hämmerte auf den Controller und das Tor sank wieder herab, quälend langsam. Mehrere der Minidrohnen schafften es, ihnen zu folgen, ehe die Gummilippe des Tores den Boden küsste. Marc fuchtelte wild mit beiden Händen herum. Woodstein war da kaltblütiger: Er zielte und zog die Stabtaschenlampe durch. Etwas Kleines prallte mit voller Wucht von innen gegen das Tor, klatschte auf den Beton und zappelte mit vier Beinchen wie ein Käfer auf dem Rücken.
»Was zum Geier sind das für Viecher?!«, schrie der Automechaniker.
»Roboter«, schrie Marc zurück und duckte sich, als Woodstein zum zweiten Mal die Taschenlampe schwang. »Minidrohnen! Ein ganzer Schwarm davon.«
Zwei oder drei der Microbots schwirrten durch die Werkstatt, zwei weitere umtanzten Woodstein und seine Taschenlampe. Marc spurtete zum Tor und trat mehrmals heftig auf den dort abgestürzten Hightech-Käfer, der im Begriff gewesen war, wieder auf die Beine zu kommen. Es knirschte unter seinem Fuß. Der Microbot zuckte spastisch wie eine tödlich verwundete Wespe. Währenddessen schienen seine Artgenossen genau zu wissen, was sie in der Werkstatt zu tun hatten. Zwei von ihnen landeten auf dem Steuerkasten des Rolltors. Geräusche wie von feinen Miniaturbohrern wurden laut. Der Dritte setzte sich auf einen der Reifen eines aufgemotzten schwarzen Pickups, dem einzigen Auto, das in der Garage stand.
Kurz darauf krachte draußen etwas gegen das Tor, sodass die ganze Rollwand klapperte.
»Wir sind hier nicht sicher!«, schrie Marc.
Woodstein streifte einen seiner Peiniger mit der Taschenlampe und sprang zurück. »In den Pickup! Schnell! Rosebud! Rosebud!«
Die vier Blinklichter des Ungetüms auf Rädern flammten alle gleichzeitig auf. Der Geruch von verschmortem Gummi füllte den Raum.
»Diese Drecksbiester nehmen hier alles auseinander!«
Wieder prallte draußen etwas auf das Tor. Ein großes Stück brach aus einer der Lamellen und wurde quer durch die Werkstatt geschleudert.
Marc und Woodstein rissen die Türen auf und warfen sich auf die Sitze, Woodstein auf der Fahrerseite, Marc daneben, noch immer seine Sporttasche umklammernd. Kaum hatte er die Beifahrertür ins Schloss geworfen, prallte außen ein Microbot gegen die Scheibe.
»Anblasen!«, bellte Woodstein und das Audiosteering-Modul des Pickups startete den Motor. Der Pickup erzitterte.
Ehe Woodstein den Controller betätigen konnte, ging das Tor plötzlich von alleine auf. Die zwei Microbots verließen den Steuerkasten unter der Decke und setzten sich auf die Frontscheibe des Pickups.
Klick!
Klick!
Zwei Steinschlagsternchen blühten in dem gehärteten Spezialglas auf. Woodstein betätigte die Scheibenwischer und trat das Gaspedal durch.
In der Toröffnung stand der Professor. Oder vielmehr, eine albtraumhafte Cyborg-Version von ihm, von einer Wolke dunkler Hornissen umschwärmt.
Der Pickup schoss vor. Ein blechernes Knistern verriet, dass der Microbot, der seinen Schweißrüssel in den Reifen versenkt hatte, sich nicht schnell genug aus dem Gummi hatte lösen können. Woodstein rauschte knapp an Howard vorbei. Unter metallischem Kreischen pflügte eine Cyborgklaue eine tiefe Furche in die Seitenwand des Pickups.
Dann donnerten sie über den Hof, nahmen mit ausbrechendem Heck eine scharfe Kurve (noch mehr Geruch von verbranntem Gummi) und setzten mit einem Hopser über die Schwelle der Zufahrt raus auf die Straße. An dem Rückspiegel baumelte ein Traumfänger. Marc fühlte sich, was Woodsteins Abstammung betraf, in seiner Indianervermutung bestätigt.
»›Rosebud?‹«, fragte er. Es war das Erste, was ihm auf die Zunge sprang, während die Nadel auf über fünfundvierzig Meilen pro Stunde kletterte.
»Jau«, knurrte Woodstein. »Das Audiosteering-System ist personalisierbar. Und ich mag die alten Klassiker.«
Die Scheibenwischer hatten die zwei blinden Passagiere vertrieben, die Sicht war frei, von den beiden Sprüngen im Glas einmal abgesehen. Marc sah über die Schulter zurück, in banger Erwartung, dass der Professor sie verfolgen würde – ein gefallener Engel mit schwarzen Schwingen aus lauter kleinen, mechanischen Teufeln. Aber hinter ihnen war niemand. Erst jetzt bemerkte er, dass zwei E-Roller auf der Ladefläche des Pickups festgeschnallt waren. Oder irgendetwas in der Richtung.
»So eine Scheiße!«, fluchte Woodstein und hieb auf das Lenkrad. »Die Frontscheibe ist Sondermaß. Die kostet ein Vermögen!« Für den Moment schien ihn das mehr zu betrüben als die Tatsache, dass seine gesamte Werkstatt vermutlich gerade von seinem durchgedrehten Nachbarn kurz und klein geschlagen wurde.
Marc sah noch immer das Gesicht des Professors vor sich. Er hatte es nur für den Bruchteil einer Sekunde gesehen und doch in jeder Einzelheit erkannt: die strichschmalen Lippen. Die gefletschten Zähne. Die wie irr aufgerissenen Augen. Die geblähten Nasenflügel. Es war die Fratze eines rasenden Berskers gewesen.
Das war nicht mehr der Howard, den er kannte.
»Vielleicht sollten wir doch die Cops rufen«, sagte er.
»Ja«, stimmte Woodstein zu, »Ich bin dafür.«