12.
Special Agent Smith staunte über die sichtlich gute Laune ihres Partners.
»Wir haben sie am Arsch.« McMowan wedelte mit dem Bericht der Spurensicherung über die Explosion auf der First Avenue. Die Kollegen waren fleißig gewesen, mussten den Sonntag durchgearbeitet haben. »Damit haben wir sie am Arsch!«
Er warf den Bericht auf Smiths Tastatur und blätterte vor ihr die Seiten durch. »Da: ›Eindeutige Spuren von Deuteriumgas‹. Und da: ›Schmelzspuren, die auf Temperaturen von bis zu dreitausend Kelvin schließen lassen‹.
Smith pfiff durch die Zähne. »Nicht schlecht für eine Privatsauna.«
McMowan blätterte weiter, hatte mehrere Seiten mit Post-its markiert. »Und hier: ›Reste eines Kälteaggregats zwecks Trocknung gasförmiger Substanzen‹. Klarer Fall – der Bursche hat nachweißlich illegal mit Kernfusion experimentiert.«
»Na ja … Halblegal«, murmelte Smith, klaubte einen Twinkie unter dem Bericht hervor und biss ein Stück von dem Biskuitgebäck ab. »Halblegal und inkompetent.«
McMowan schüttelte die erste, durchgeblätterte Hälfte des Berichts vor ihrer Nase. »Damit kriegen wir die ganze Bande dran!«
»Nun mal langsam«, sagte Smith und schob einen an ihren Lippen klebenden Krümel nach. »Nur weil du einem Spieler die rote Karte zeigst kannst du nicht gleich die ganze Mannschaft vom Platz stellen.«
»Nein«, bestätigte McMowan. »Aber der Vergleich hinkt: Wenn das Team nach einem Platzverweis nur noch mit neun Feldspielern unterwegs ist, hast du faktisch die ganze Mannschaft mitbestraft. Das ist bei den Furious Fusioneers nicht so. Die werden vielleicht eine Schweigeminute für ihr verstorbenes Mitglied einlegen. Und dann weitermachen wie bisher.«
»Vielleicht. Vielleicht kriegt aber auch der ein oder andere dank Athelston kalte Füße. Und sucht sich freiwillig ein anderes Hobby.«
McMowan sah sie durchdringend an. »Darauf können wir uns kaum verlassen, oder?«
Smith schob sich die zweite Hälfte des Twinkies in den Mund und sagte kauend: »Natürliff niff.« Spülte mit etwas Kaffee nach, schluckte. »Aber bevor wir den ganzen Verein hochgehen lassen, brauchen wir schon ein bisschen mehr gegen die in der Hand. Beweise über die Beschaffung verbotener Chemikalien. Beweise über den Bau von Fusionsreaktoren mit Kapazitäten, die das zugelassene Do-it-yourself-Maß überschreiten. Nachweisliche Verschwörung zum Zweck ungenehmigter staatsgefährdender Experimente … All die Dinge, an denen wir schon seit Jahren dran sind, wenn wir über die Fusioneers reden. Das brauchen wir. Daran ändert der Wumms auf der First Avenue leider wenig.«
Ihr Partner rieb sich die Koteletten. »Das sehe ich anders. Wir haben jetzt einen Präzedenzfall. Das ist wie damals bei dem globalen Ausstieg aus der Atomenergie: Da mussten auch erst ein paar Super-GAUs her, ehe die Politik ein Machtwort gesprochen hat. Dasselbe können wir hier jetzt auch erwirken.«
»Hmja… Vielleicht, wenn sich noch zwei, drei von den Jungs in die Luft jagen. Aber wegen einem lokalen Unglück allein bringen die in Washington keine Gesetzesänderung auf den Weg.« Smith klaubte die zweite Hälfte des Berichts von ihrem Schreibtisch und streckte sie McMowan hin. »Sei doch so lieb und schreib mir die wesentlichen Details stichpunktartig zusammen, ja? Ich schau mir das dann später an.«
Sie liebte es, wenn McMowan sie wütend anstierte. Er wurde nicht oft emotional, aber wenn, dann auf eine rohe, animalische Art. Sie konnte seinen Ärger förmlich riechen. Er riss ihr den Papierstoß aus der Hand und stürmte zurück zu seinem Schreibtisch. Kurz darauf hackte er auf die Tastatur ein, dass man Mitleid mit der Hardware kriegen konnte.
Lächelnd riss Smith ein zweites Twinkie auf und rührte in ihrer Kaffeetasse. Seit McMowan und sie im Herbst den Axtmörder von Soontown gejagt hatten, nahm sie es nicht mehr so ernst mit ihrer Diät. Ein bisschen mehr auf den Rippen war gut für die Stressresistenz. Kaffee und Kopfschmerztabletten allein waren auf die Dauer einfach keine vernünftige Basis. Es funktionierte: In den letzten drei Monaten hatte sie fünf Pfund zugenommen, Tendenz weiter steigend.
Sie wollte die Furious Fusioneers genauso gerne festnageln wie ihr Partner. Dieser Club spielte mit dem Feuer, jonglierte auf heikle Weise mit potenziell gefährlichen Elementen. Wie McMowan war auch Smith der Meinung, dass Fusionsenergie in die Hände von echten Wissenschaftlern gehörte, nicht von ambitionierten Laien, die sich bei ihren Experimenten auf Bauanleitungen aus dem Internet stützten. Die Herausforderungen rund um die zukunftsträchtigste Form der Energiegewinnung mussten professionell gemeistert werden anstatt im heimischen Hobbykeller.
Die Furious Fusioneers standen beim FBI schon eine ganze Weile unter Beobachtung. Bereits früher hatte es Zwischenfälle mit Mitgliedern gegeben, wenn auch nicht mit so dramatischen Folgen wie vorgestern. Doch selbst mit dem Knall auf der First Avenue würde es nicht für eine politische Initiative reichen. Die USA waren stolz auf ihr liberales Forschungsklima. Weder die Republikaner noch die Demokraten würden wegen eines Toten und einer Handvoll Verletzter eine Beschneidung des bestehenden Rechts beschließen.
»Gibt’s schon was Neues bei der Überprüfung von Athelstons Kontakten?«, fragte sie McMowan über die Monitore hinweg. »Etwas, das uns verraten könnte, wen er mit dem ›Professor‹ auf seiner Grußkarte meint?«
»Nein«, grollte McMowan und tippte weiter.
Smiths Lächeln wurde breiter. Ihr Partner schmollte. Wie süß.
Und selbst wenn, würdest du’s mir jetzt nicht sagen, du kleiner Trotzkopf.
Ihr HoloCom begann zu blinken. Ein Anruf. Sie linste auf das Display. Es war Bruce Oakfield, Soontowns Polizeichef. Sie ging ran. »Hallo Bruce. Haben Sie schon alle Weihnachtsgeschenke?«
»Noch nicht«, sagte Oakfield. »Aber ich habe ein Vorab-Geschenk, exklusiv für Sie.«
»Was denn?«
»Ich glaube, wir haben den ›Professor‹ gefunden. Diesen mutmaßlichen Mentor von Thomas Athelston. Wenigstens sein Zuhause.«
»Wirklich? Das ist aber ein schönes Geschenk! Von dem haben wir gerade noch gesprochen.«
»›Schön‹ ist relativ«, gab Oakfield zurück. »Sie sollten sich das mal selber ansehen.«
Smith lächelte in den Hörer. »Als ich Ihre Nummer sah, dachte ich mir schon, dass Ihre Sehnsucht nicht mit einem Telefonat zu stillen sein würde.«
Am anderen Ende der Leitung schnaubte der Chief in die Muschel. »So kenne ich Sie ja gar nicht. Schon in Weihnachtsstimmung, was?«
»Kleine Geschenke verfehlen bei einer Frau nie ihre Wirkung, Bruce. Ich bin da keine Ausnahme.«
»Dann freuen wir uns auf ihr Kommen.« Oakfield gab ihr eine Adresse durch.
»Schon unterwegs«, sagte Smith. »Ich wollte mir sowieso mal Ihren großen Weihnachtsbaum anschauen. Soll ja der größte im ganzen Central Valley sein.«
Oakfield schnaubte noch einmal. »Ja. So, wie jedes Jahr. Wenn man dem Bürgermeister glauben will.« Er legte auf.
Bereits während des Gesprächs hatte Smith gespürt, dass McMowan die Ohren gespitzt hatte. Sie stand auf und streckte sich. »Stell dir vor, wir müssen mal wieder nach Soontown.«
McMowan spähte um den Bildschirm zu ihr herüber. »Was gibt’s denn?«
»Oakfield möchte Weihnachtslieder mit uns singen.«
McMowan runzelte die Stirn. »Sag mal, hast du was getrunken? Oder kokst du wieder?«
Smith lachte. »Viel besser«, sie hielt einen der eingeschweißten Küchlein hoch, »ich mache eine Twinkie-Diät. Oakfield hat den ›Professor‹ für uns gefunden. Los, wir fliegen hin. Wollen Brucy doch nicht warten lassen. Den Bericht kannst du später noch für mich durchkämmen.«
»Zuckerflash«, murmelte McMowan kopfschüttelnd und klappte sein Notebook zu.
Auf dem Weg zum Helikopterlandeplatz auf dem Dach des regionalen Headquarters überwand ihr Partner seine Schmoll-Stimmung. »Hat Oakfield gesagt, was uns vor Ort erwartet?«
Smith schüttelte den Kopf, während sie ihren Mantel zuknöpfte. Auf dem Dach pfiff es ganz gut. »Nein, hat er nicht. Es soll eine Überraschung sein. Eine exklusive Vorab-Bescherung.« Als sie auf halbem Weg von einer kräftigen Windbö gepackt wurden, fügte sie hinzu: »Vielleicht hätte ich das zweite Twinkie besser nicht essen sollen.«
»Es gibt Spucktüten im Heli«, sagte McMowan. »Wenn’s einen Mord gegeben hätte, hätte Oakfield schon was fallen lassen.«
»Wahrscheinlich.«
Sie tauchten unter den bereits wirbelnden Rotoren durch und kletterten in die Kanzel.
»Wohin?«, wollte der Pilot wissen, während er Smith in die Kabine half.
»Ja, wohin wohl?«, fragte sie zurück und ließ sich in einen der Passagiersessel fallen. »In unsere Wahlheimat. Nach Soontown.«
Sie gab dem Piloten die Adresse durch. Der Mann checkte den nächstgelegenen Landeplatz.
»Sie haben Glück«, rief er über das sich stetig steigernde Rotorengeräusch hinweg. »Ist ’nen Gewerbegebiet. Da können wir praktisch gleich nebenan runtergehen.«
»Können Sie vorher eine Schleife über den großen Christbaum vor den Markthallen fliegen?«, rief Smith zurück. »Bei dem Weihnachtsdorf?«
»Wie bitte?«
»War nur ein Witz. Wir wollen dann starten.«
Während der Helikopter schlingernd abhob fragte sich Smith, wie lange sie wohl noch zu Scherzen aufgelegt sein würde. Die Spucktüte, die McMowan ihr boshaft anbot, schlug sie aus.
Sie wurden tüchtig durchgeschüttelt. Zum Glück kamen nach nur wenigen Momenten in der Luft schon die äußeren Gebäudekomplexe von Biohead Inc. in Sicht, dicht gefolgt von der South Bridge und der Skyline Downtowns.
Mal sehen, was diese verrückte Stadt heute für uns bereit hält.
Als sie McMowan das nächste Mal ansah, war ihre Miene wieder vollkommen glatt, wie immer.
»Landeanflug!«, rief der Pilot ihnen zu.
Smith und McMowan antworteten mit erhobenen Daumen.
Dann ging es abwärts.