13.
An der Malcom Highschool gab es Lehrer, die im Großen und Ganzen okay waren. Diese Sorte Lehrer machte während der letzten Tage vor Weihnachten eher gemächlich Unterricht, ohne sich und ihre Schüler dabei noch über die Maßen zu fordern. Dann gab es an der Malcom Lehrer, die waren schwer in Ordnung. Diese Sorte warf auf der Zielgeraden zum Fest der Feste den Holoschirm an und ließ einen Spielfilm laufen, der mehr oder weniger irgendwie zum zuletzt durchgenommenen Stoff passte. Und dann gab es noch die richtigen Arschlochpädagogen, die ihre Klasse kurz vor den Feiertagen noch einen Test schreiben ließen.
Miss Fletcher, die Biologielehrerin, war so eine, da waren sich alle einig. Das Thema des Tests lautete: ›Diffusion und die Fickschen Gesetze‹. Sie hatten das während der letzten drei Unterrichtseinheiten behandelt. Vergangenen Mittwoch hatte die Fletcher ihnen dann am Ende der Unterrichtsstunde eröffnet, dass sie kommenden Montag einen Test darüber schreiben würden. Dem war tödliches Schweigen im Klassenraum gefolgt.
Nachdem Miss Fletscher vorhin die Testbögen verteilt hatte, stand die ganze Klasse erneut unter Schock. Ellen brütete nach einer halben Stunde noch immer über der ersten Aufgabe (von sieben):
›Bestimmen Sie die Teilchenstromdichte J während der Photosynthese modellhaft bei gegebenem Diffusionskoeffizienten D = (Wert wie in der letzten Unterrichtseinheit angegeben) mittels des Konzentrationsgradienten ∂c/∂x. ‹
Neben Ellen murmelte Ricco kaum hörbar in Dauerschleife: »Ich hasse die Fletcher. Ich hasse sie. Gott, wie ich sie hasse!«
Hinter ihm wisperte Tim Startford seinem Nachbarn zu: »Lass mich abschreiben.«
»Ich weiß selber nichts«, kam die Antwort zurück.
Miss Fletcher stolzierte derweil scheinbar tagträumend vor dem Whiteboard auf und ab, drehte einen Non-permanent-Marker zwischen ihren Fingern und summte melodisch: »Mm-hmm… Mm-hmm...«
Nachdem das erste Entsetzen bei Sichtung der Testbögen durch die Klasse diffundiert war, hatte sich mittlerweile dumpfe Verzweiflung der Schüler bemächtigt, mit fließendem Übergang zum Wahnsinn als letzter Flucht vor der Wirklichkeit. An der Fensterfront kicherte jemand unterdrückt – bereits seit fünf Minuten. Aus der hintersten Reihe drang trockenes Schluchzen.
Die Zeit kroch dahin.
»Ich geb’s auf«, sagte Ricco schließlich, verließ seinen Platz, gab Miss Fletcher den größtenteils jungfräulichen Testbogen zurück und las dann ein Buch, das er aus seinem Rucksack fischte. Woher er die Seelenruhe dazu nahm, blieb sein Geheimnis.
Die Fletcher nahm Riccos Test mit erhobenen Brauen entgegen, überflog ihn mit missbilligendem Blick und setzte dann ihre versonnene Runde fort.
»Mm-hmm…«
Ermutigt von Riccos Beispiel, gaben nach und nach auch die anderen Schüler auf und ihre Bögen bei der Fletcher ab. Ellen gehörte zu den Letzten, die kapitulierten, kurz bevor die Pausenklingel schrillte. Sie hatte ein paar Antworten zu Papier gebracht, die sie allerdings mehr dem Reich des Ratens als dem des Wissens zuschrieb.
Während die Schüler hinaus auf den Flur strömten, brandete lautstarke Empörung auf.
»Eine Unverschämtheit!«
»Mein Notenschnitt ist hin!«
»Sauerei!«
»Ich wünsch mir von Santa, dass die Tucke abkratzt!«
Miss Fletcher focht das alles nicht an, sie beherrschte die Kunst temporärer Taubheit.
Ricco tat das einzig Vernünftige in dieser Situation: Er wechselte das Thema. »Machen wir was zusammen heute Nachmittag?«
»Klar«, sagte Ellen.
Riccos Miene hellte sich auf.
»Wir gehen skateboarden.«
Riccos Gesicht verfinsterte sich wieder, aber er fing sich schnell. »Okay. Okay, super.«
Erst aber mussten sie noch eine Stunde Erdkunde bei Skylar Johnson absitzen. Nach dem Terrortest der Fletcher war Skylars Unterricht der reinste Urlaub.
Sky, wie ihn die Schüler unter sich nannten, betrat das Klassenzimmer in seinem altmodischen Trenchcoat, den steifen Hut auf dem Kopf, in jeder Hand einen Aktenkoffer aus abgewetztem Kunstleder. Den einen Koffer stellte er neben das Pult, den anderen legte er darauf und öffnete das Zahlenschloss. »Sicher erwarten Sie alle, dass wir heute einen Film gucken«, eröffnete er die Stunde.
Die Schüler nickten lebhaft.
»Warum erfreuen sich Filme eigentlich nach wie vor so großer Beliebtheit?«, wollte Skylar wissen. »Bild und Ton – schön und gut. Doch der Mensch hat ja noch mehr Sinne, die man zu Unterhaltungszwecken ansprechen kann. Wie viele nämlich? Insgesamt? Weiß es jemand?«
»Fünf«, kam es aus einer der hinteren Reihen.
»Sechs«, widersprach ein anderer.
»Sieben«, setzte Ricco noch einen drauf.
»Und welche Sinne wären das, Ricardo?«, fasste Skylar nach.
»Sehen, hören, riechen, tasten, schmecken«, sagte Ricco wie aus der Pistole geschossen. Dann stockte er und warf Ellen einen hilfesuchenden Blick zu. Offenbar war er mit seiner Wortmeldung zu forsch gewesen.
Ellen verdrehte die Augen und schwankte auf ihrem Stuhl hin und her.
»… und der Gleichgewichtssinn!«, schob Ricco nach.
»Soweit korrekt«, sagte Skylar anerkennend. »Weiß denn jemand, wo der Gleichgewichtssinn beim Menschen verankert ist?«
»Im Innenohr«, kam die Antwort von der Klassenstreberin an der Fensterfront.
»Sehr gut!«, lobte Sky. »Was denken Sie? Haben taube Menschen Gleichgewichtsprobleme?«
Das konnte selbst die Streberin nicht beantworten.
Skylar lächelte über seinen kleinen Sieg. Dann wandte er sich wieder Ricco zu. »Und der siebte Sinn, von dem Sie sprachen, Ricardo? Was ist das für einer?«
Ricco wich dem Blick des Lehrers nicht aus. Ellen konnte ihm ansehen, wie es in ihm arbeitete. »Der Sinn für Humor«, sagte er schließlich.
Die Klasse lachte.
Skylar fiel mit ein. »Da haben Sie recht. Den gibt es zweifellos auch. Und gerade die Filmindustrie weiß ihn meisterhaft anzusprechen und für ihre Zwecke zu nutzen.«
Während Ellen Skylar ansah, musste sie plötzlich wieder an ihren Traum von Samstagmorgen denken. Darin hatte Skylar Johnson schwarze Augen und lila Fühler statt Ohren gehabt. Sky, der Außerirdische, der mit Seinesgleichen einen Komplott zur Unterwerfung der Menschheit schmiedete ...
Schwachsinn!
Tim Stratford meldete sich. »Äh, Mister Johnson. Sagen Sie mal, was hat das alles mit Erdkunde zu tun?«
»Dazu komme ich jetzt«, erklärte Skylar, klappte seinen Aktenkoffer auf und nahm etwas heraus, das entfernt an eine kompakte Stereoanlage erinnerte. Er stellte einen Stuhl auf das Pult und arrangierte die Anlage darauf. »Ich werde Ihnen tatsächlich einen Film zeigen. Darin sehen Sie verschiedene Landschaften, natürliche und auch urbane, menschengemachte. Dieses Gerät hier ist ein fortschrittlicher Sens Explorer. Er spricht ihren Geruchs- und Geschmackssinn an, abgestimmt auf das Filmmaterial, das sie gleich sehen werden. Das geschieht durch spezielle Geruchsmoleküle und Pheromone, die passend zur jeweiligen Filmszene in diese Boxen hier eingespeist werden.« Skylar deutete auf die beiden Kästen links und rechts an der Anlage. »Darin befinden sich kleine, aber leistungsstarke Ventilatoren, die Ihnen die Geruchs- und Geschmacksreize zuspielen werden. Bevor wir anfangen, die Frage: Hat irgendjemand etwas dagegen, mit derlei Reizen konfrontiert zu werden?«
»So lange in dem Streifen keine Hundekacke gezeigt wird …«, kommentierte Tim halblaut.
Das sorgte für neue Lacher. Sonst meldete sich auf Skylars Frage hin keiner. Ellen überraschte das nicht. Diese Filmvorführung versprach, spannend zu werden.
»Gut. Dann lassen Sie uns beginnen.«
Skylar schaltete den Beamer ein, woraufhin die Jalousien automatisch herunterfuhren. Er richtete seinen HoloCom auf den Projektor unter der Decke und übertrug den Film. Dann schaltete er den Sens Explorer ein und wartete, bis das Gerät sich mit dem Beamer gekoppelt hatte.
Kurz darauf zogen wechselnde Landschaften vor den Augen der Schüler vorbei. Eine weite Savanne. Wind rauschte, in der Ferne trompetete ein Elefant. Es roch nach Akazien und Zitronengras.
Dann eine Großstadt. Hupkonzerte, Autoabgase. Der Geruch von Gummi auf heißem Asphalt. Ein Presslufthammer, dazwischen Menschengeschrei.
Eine Steilküste. Hoch spritzte die Gischt an den schroffen Felsen. Salz in der Luft. Die Brecher zerschellten donnernd an den Klippen. Fast meinte Ellen, die Erschütterungen der Naturgewalt in den Knochen zu spüren.
Dann eine Militärparade. Tausende Stiefelpaare, die im Gleichschritt marschierten. Ein Salut wurde gefeuert. Schießpulver und Schweißgeruch.
Ein Waldspaziergang. Grüne Laubdächer und mannshohe Farne, von Sonnenflecken gesprenkelt. Es roch harzig, mit einer leicht modrigen, erdigen Note. Exotische Vögel riefen in den Bäumen und im Unterholz.
So ging es eine ganze Weile weiter. Die einzelnen Szenen variierten in der Länge: Einige nahmen sich Zeit, während andere wiederum kaum länger als ein paar Augenblicke dauerten. Andächtige Stille hatte sich im Klassenraum ausgebreitet.
Irgendwann schweifte Ellens Blick von der Leinwand zu ihren Mitschülern. Das machte sie auch im Kino gerne: einfach mal die Perspektive wechseln und ins Publikum schauen, in die Gesichter der anderen Besucher, die dem Film folgten. Obwohl der Film alles in allem eher unspektakuläre Natur-, Landschafts- und Stadtaufnahmen zeigte, wirkte die ganze Klasse wie gebannt. Niemand tuschelte, alle waren mit voller Aufmerksamkeit dabei.
Mit allen Sinnen.
Als sie sich wieder nach vorne orientierte, blieb ihr Blick an Skylar hängen. Der Lehrer beobachtete seine Schüler, jeden einzelnen von ihnen. Die Filmvorführung gab ihm die Freiheit, das ganz ungeniert zu tun und Sky nutzte das aus. Scannte die Reihen. Machte sich Notizen. Scannte weiter. Etwas seltsam war das schon, sonst schauten die Lehrer meistens mit, wenn sie einen Film zeigten. Skylar aber saß mit dem Rücken zur Leinwand und hatte nur Augen für die Reaktionen seiner Klasse. Ellen wusste nicht warum, aber es machte sie beklommen. Sie fühlte sich … ausgespäht.
Dann kreuzten sich ihre Blicke und verschränkten sich ineinander. Normalerweise lächelte Skylar seinen Schülern zu, wenn er sie ansah. Jetzt lächelte er nicht. Nicht einmal ansatzweise. Im wechselnden Licht der Projektion hatte seine Miene etwas Starres, Maskenhaftes. Ellen bekam eine Gänsehaut und schlug als Erste die Augen nieder.
Was soll das hier? Was zieht er hier mit uns ab?
Aber außer ihr schien niemand etwas Seltsames an der Vorführung mit dem Sense Explorer zu finden. Alle folgten der Darbietung fasziniert, mal mit einem Lächeln im Gesicht, mal ernst, mal ablehnend, mal furchtsam – je nachdem, welche Art von Szene gerade lief.
Ellen sagte sich, dass sie Gespenster sah. Skylar war mit Abstand der netteste Lehrer ihrer Klasse, wenn nicht gar der netteste der ganzen Schule. Etwas eigen vielleicht, aber echt nett. Wahrscheinlich hatte sie eben nur das Licht der Projektion genarrt.
Nachdem sie eine Weile dem Geschehen auf der Leinwand gefolgt war, sah sie noch einmal verstohlen zu Skylar herüber. Schlagartig kehrte die Gänsehaut zurück. Die Augen des Lehrers waren komplett schwarz geworden.
Die Szene wechselte und der Eindruck verging.
Als der Film kurz darauf endete und die Jalousien wieder hochfuhren, waren Skylars Augen ganz normal.
Ich seh schon Gespenster.
Daran waren nur ihre schlechten Träume schuld. Sie würde gleich mit Ricco in den Skatepark fahren und sich dort richtig auspowern, dann würde sie in der kommenden Nacht schlafen wie ein Stein.
Als sie neben Ricco den Klassenraum verließ, schaute sie noch einmal zum Pult zurück. Skylar Johnson winkte ihr zu. Sein warmes Lächeln war wieder da.