15.
Am Mittwoch saß Ellen mit Dad zusammen beim Frühstück.
»Daddy, hast du heute auch noch Urlaub?«
»Hmja … Die ganze Vorweihnachtswoche.«
Sie umrundete den Küchentisch, schenkte ihrem Vater Kaffee nach und goss sich auch noch etwas ein.
»Eine komplette Woche? So ganz spontan?«
»Hmja.«
Sehr verdächtig.
Ellen schlürfte etwas von ihrer Tasse ab. »Du weißt ja: Wegen mir musst du nicht zuhause bleiben. Ich bin fast sechzehn und komme allein zurecht.«
Dad lächelte zerstreut. »Ja, mein Engel. Ich weiß. Es ist nicht wegen dir. Ich wollte einfach mal ein paar Tage durchschnaufen vor Weihnachten. Das ist alles.«
Ellen beugte sich über den Tisch und sah ihrem Vater in die Augen. »Sonst nichts?«
Er wich ihrem Blick aus. Fixierte den Feed auf dem Holoschirm. Lokalnachrichten auf TNT TV. »Nö. Sonst nichts.«
Lügner!
Dad blieb schon seit Wochenbeginn zuhause. Am Montag hatte Ellen nach der Schule einen Zwischenstopp in ihrem Zimmer einlegen wollen, gemeinsam mit Ricco. Ein bisschen was essen. Ein bisschen fummeln. Gegessen hatten sie, gefummelt nicht.
Doof.
Daddy war zwar mehr oder weniger die ganze Zeit über in seinem Bastelkeller gewesen, und Ellen glaubte auch nicht, dass er mir nichts, dir nichts in ihr Zimmer platzen würde, wenn sie Ricco mitbrachte, aber trotzdem … Allein zu wissen, dass ihr Vater zuhause war und ihn im Keller rumoren zu hören, war ein Hemmnis.
Gestern Abend hatte Dad ihr dann eröffnet, dass er sich Urlaub genommen hatte. Da ging sie hin, die schöne sturmfreie Zeit.
Ellen wusste, dass ihr Vater sich bestimmt nicht frei nahm, um sie hier nachmittags zu überwachen. Ihre Eltern mochten Ricco und sie vertrauten Ellen genug, um sich darauf zu verlassen, dass sie und ihr Freund sich verantwortungsvoll verhielten. Nein, hinter Daddys spontanem Urlaub steckte etwas anderes. Und sie war entschlossen dahinterzukommen, was das war.
Erwartungsgemäß verbrachte Dad die freie Zeit in seinem Keller. Vermutlich sah sie ihn nur jetzt, zum Frühstück und dann erst abends wieder, wie gestern auch. Ellen ahnte, dass der Schlüssel zu seinem Geheimnis unten im Bastelraum lag. Gestern hatte sie einmal den Kopf hineingesteckt, doch seit er diesen Wandschirm vor seiner Werkbank aufgestellt hatte, sah man von der Tür aus nicht allzu viel. Ehe sie den Raum hatte betreten können, war Dad um den Schirm herumgeeilt, hatte sie in die Arme genommen, gedrückt und auf der Schwelle festgenagelt. Keine Chance. Und über Nacht oder wenn er das Haus verließ war er dazu übergegangen, den Bastelkeller abzuschließen. All das waren klare Warnsignale.
»Nach der Schule mach ich was mit Ricco«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob ich vorher noch mal nach Hause komme.«
»Ist gut, mein Schatz.«
»Ich bin dann wahrscheinlich erst abends wieder hier.«
»Hm-hm. Kein Problem.« Wie hypnotisiert starrte Dad auf den Holoschirm. In dem Bericht war die Halle einer Autowerkstatt zu sehen. Das Tor war geschlossen. Es war beschädigt worden: Große Stücke aus den Plastiklamellen fehlten. Die Halle war von Polizeiabsperrband umgeben. Ellen sah mehrere Cops. Vor dem Geschehen schwang die Katastrophenreporterin von TNT TV das Mikrofon. ›Susan Taylor‹ verriet die Einblendung darunter.
»… wurde mittlerweile bestätigt, das auch noch ein Nachbargebäude von den Verwüstungen betroffen ist. Wer die Vandalen waren, die in dem Gewerbepark im Westen Soontowns zuschlugen, ist derzeit noch unklar. TNT News sprach mit einem direkten Anwohner über das, was in der Nacht zum Montag hier passierte.«
Schnitt. Ins Bild kam ein Close-up von einem dürren Mann mit fahler Haut und Schorfstellen im Gesicht, dem jemand ein Mikro unter die Nase hielt. »Ich betreibe hier einen Import-Export-Handel«, sagte der Mann. Am Sonntag hab ich noch bis spät gearbeitet. Schon am Nachmittag hab ich seltsame Geräusche gehört. Einer der Pächter hier ist so etwas wie ein Möchtegernwissenschaftler, müssen Sie wissen. Ein Erfinder. In seiner Halle rumpelt es häufiger mal. Jedenfalls, es muss so gegen zwanzig Uhr gewesen sein, da ging hier dann plötzlich richtig die Post ab. In der Autowerkstatt gegenüber.
Ich schau also aus dem Fenster, und da seh ich so einen Typen mit einer schwarzen Wolke um sich herum, der gegen das Tor hämmert. Das Tor geht auf, und der Pickup von dem Autoschrauber donnert heraus. Junge! Die haben den Typen fast umgefahren! Sind über den Hof gekachelt, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her!«
Das Mikro verschwand kurz. »Was hat dieser Typ dann gemacht?«, fragte die Reporterin aus dem Off. Das Mikro kehrte zurück.
Der Import-Export-Händler kratzte sich eine schorfige Stelle auf der Wange. »Er ist in die Werkstatt gegangen. Ich bin natürlich nicht runter, um nachzusehen, aber den Geräuschen nach hat er da mal mächtig aufgeräumt.«
»Konnten Sie den Mann erkennen?«
»Nee. Diese Wolke, die ihn da umschwirrt hat, war zu düster. Wie ein Schwarm Riesenmoskitos sah das aus.«
Schnitt. Die Einstellung zeigte wieder Susan Taylor vor der ramponierten Autowerkstatt. »Leider liegt uns von offizieller Seite noch keine Stellungnahme zu der Aussage des Händlers vor. Wer ist dieser Moskitomann? Wieso kann er mitten in unserer Stadt ungestraft eine Autowerkstatt demolieren? Arbeitet er wirklich allein? Oder hat Soontown es mit einer neuen kriminellen Vereinigung zu tun? Gibt es einen Zusammenhang mit der verheerenden Explosion, die am Samstag die First Avenue verwüstet hat? Viele Fragen und bislang wenige Antworten seitens der Polizei. TNT News bleibt für Sie am Ball.«
Die Reporterin lächelte siegesgewiss. Schnitt zurück ins Studio.
Daddy stellte den Ton aus und rieb sich die Lider mit Daumen und Zeigefinger. Obwohl der Tag gerade erst anfing, sah er aus, als müsse er dringend ins Bett.
»Du, Dad? Ist wirklich alles okay bei dir?«
»Ja, ja, Liebes. Alles okay.« Da war es wieder, das Abwimmel-Lächeln, etwas gezwungen, aber fest. »Wie gesagt, ich brauche einfach mal etwas Zeit zum Ausspannen.« Damit drückte er sich aus dem Stuhl, nahm seine Kaffeetasse und schlurfte in den Keller.
Ellen sah auf die Uhr. Sie musste in die Schule. Musste Dad alleine lassen, zumindest den Vormittag. Das schmeckte ihr gar nicht. Sie würde mit Ricco reden. Vielleicht hingen sie heute doch einfach auf ihrem Zimmer ab, später am Tag. Oder machten es sich im Garten bequem. Laut Wettervorhersage sollte es sonnig bleiben, bei fast sommerlichen Temperaturen. In der windgeschützten Sonnenecke des Seymorschen Gartens konnte man es da gut aushalten. Von den Nachbargrundstücken direkt einsehbar war die Ecke auch nicht. Dort konnten sie ein wenig kuscheln und Ellen konnte zwischendurch im Keller nach dem Rechten sehen.
Ja, so würde sie es machen.
Sie ließ ihre Tasse halb ausgetrunken zurück, ging in ihr Zimmer und schnappte sich ihre Schulsachen.
»Daddy«, rief sie die Kellertreppe hinab, »ich bin jetzt weg!«
»Ist gu-ut!«, kam es zurück, gefolgt von metallischem Scheppern. Dad war irgendetwas von der Werkbank gerutscht.
Ellens Augen wurden schmal. Aber sie konnte jetzt nicht da runter gehen. Sie war ohnehin schon spät dran. »Bist du auch artig während ich weg bin?«, rief sie noch einmal.
»Herrgott! Ja doch! Geh in die Schule!«
»Tschü-üss!«
Als sie die Haustür hinter sich zuzog, war sie alles andere als beruhigt. Mum hatte den richtigen Riecher gehabt: Dad hatte eine schwere Bastleritis. Dass er dabei nicht fröhlich war, wie sonst, sondern sorgenvoll dreinschaute, machte Ellen beklommen.
Vielleicht konnte sie Ricco darum bitten, mal mit ihrem Vater zu reden, so von Mann zu Mann, von Schrauber zu Schrauber. Ricco setzte auch gerne Dinge zusammen, irgendwelche Bausätze – meist Drohnen. Er hatte nicht die mechatronische Ausbildung ihres Vaters, konnte keine GardenBots frisieren. Aber eine Schnittmenge hatten die beiden auf jeden Fall. Zumindest wäre das einen Versuch wert. Ihr würde Daddy jedenfalls nichts anvertrauen, das war deutlich.
Auf dem Weg zur Malcom High genoss sie die Sonne auf ihrem Gesicht. Am Ende machte sie sich vielleicht auch einfach zu viele Gedanken. Bald war Weihnachten. Am ersten Feiertag würde Mum wieder da sein. Sie würden zusammen ein Festessen zubereiten und Kerzen anzünden. Dann würde Dad schon runterkommen von seinem Trip. Gegen den Klammergriff seiner zwei Frauen war er chancenlos.
An der nächsten Ecke wartete Ricco auf sie. Das tat er öfter in letzter Zeit. Ellen wurde warm ums Herz. Sie küssten sich zur Begrüßung.
»Ich dachte schon, du kommst nicht mehr«, sagte Ricco.
»Mum ist ein paar Tage weg«, erklärte Ellen und hakte sich bei ihm unter. »Da muss ich mich halt um Daddy kümmern.«
* * *
Die Fotos von den Tatorten waren über die gesamte Magnetwand verteilt. Die Special Agents starrten auf das löchrig geschlagene Rolltor. Auf das Innere der Autowerkstatt, in der kaum noch ein Stein auf dem anderen stand. Auf die Scherben und das durch die Gegend gepfefferte Werkzeug. Einer der Prüfstände hatte Schieflage, weil eine tiefe Delle in einen der acht Zoll dicken, stählernen Stützpfeiler der Hebebühne geschlagen worden war. Wer immer die Werkstatt verwüstet hatte, war gründlich gewesen.
Die Bilder aus dem benachbarten Labor waren kaum besser. Auch hier war die Einrichtung stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Experimentieren würde dieser Howard Doyle, der Pächter des Laborgebäudes, dort bis auf Weiteres nicht mehr, so viel konnte man auch als Wissenschaftslaie sofort erkennen. Die Asservatenkammer quoll über vor Fundstücken. Es würde noch eine ganze Weile dauern, ehe der ganze Krempel zweifelsfrei identifiziert, nummeriert und ausgewertet war.
Howard Doyle war nicht irgendwer. Er war ›Colonel‹ der Furious Fusioneers. Und jetzt offenbar völlig durchgedreht. Er konnte der entscheidende Stock zwischen den Beinen dieser obskuren Vereinigung werden, der Grund, nach dem das FBI schon so lange suchte, um die Furious Fusioneers aufzulösen.
McMowans Blick ruhte auf der Aufnahme eines Pin-up-Kalenders, halb von Werkstatt-Schutt verdeckt. Smith betrachtete eine Aufnahme aus dem Labor. Darauf war ein umgestürztes Gestell zu sehen, dass aussah wie ein Mittelding aus freistehender Garderobe und Gewehrständer. Eine Spezialanfertigung. Im Team war man sich einig, dass man so ein Gestell nicht von der Stange kaufen konnte. Die Meinungen darüber, was es beinhaltet hatte, ehe es dem Vandalismus zum Opfer gefallen war, drifteten dagegen stark auseinander.
»Eine Neutronenkanone«, sagten die einen.
»Einen tragbaren Laser«, sagten die anderen.
»Eine Mega-Drohne mit integriertem Traktorstrahl«, mutmaßte ein Kollege aus der Technik mit glänzenden Augen.
Smith wusste es besser. Sie hatten die Rechnung über einen ›Outdoor Pro ZX 5000‹ bei dem Professor gefunden, wie auch den ausgeschlachteten Rumpf des GardenBots. Smith hatte das Gestell von einem Kollegen der Spurensicherung noch einmal separat untersuchen lassen und ihre Annahme hatte sich mit hoher Wahrscheinlichkeit bestätigt: Es hatten zwei Gliedmaßen auf dem Gestell geruht – die Gliedmaßen dieses hochmodernen Heimroboters. Was genau Doyle mit den beiden Roboterarmen angestellt hatte, entzog sich derzeit noch Smiths Kenntnis. Die Auswertungen der Protokolle auf dem sichergestellten Laborrechner dauerten noch an. Smith behielt die Details ihrer Zwischenergebnisse im Augenblick noch für sich. Die vielen Blutspuren in dem Labor boten auch so schon genug Spielraum für abenteuerliche Fantasien. Die Gerüchteküche im Headquarter brodelte. Was sollte erst daraus werden, wenn Details von diesem Schlamassel an die Presse dringen würden?
Nur McMowan hatte sie natürlich ins Vertrauen gezogen. Ihr Partner und sie hatten keine Geheimnisse voreinander, wenigstens keine, die ihre gemeinsamen Fälle betrafen.
»Und?«, fragte sie ihn. »Enthüllt dir dieser Kalender irgendwelche aufschlussreichen Hinweise?«
»Das Titelgirl ist nicht übel«, brummte McMowan.
»Ah«, machte Smith. »Das bringt uns weiter.«
»Wir sollten uns auch Marc Seymor noch einmal vorknöpfen«, sagte McMowan.
»Den? Wieso? Der ist nicht mal Mitglied der Furious Fusioneers.«
»Nein. Aber er ist Mechatronikermeister. Und er ist ein Freund von diesem Doyle. Hat er selbst gesagt. Und diese Erscheinung vor der Autowerkstatt … Das klang ziemlich mechatronisch in meinen Ohren. Vielleicht hängt Seymor nicht direkt mit drin. Aber er weiß mehr darüber, als er uns weismachen wollte, das spür ich.«
Smith nahm ein Foto von der Wand, dass ein Stück eines Gitterkäfigs zeigte. Es stammte aus Doyles Labor. »Schau mal. So etwas Ähnliches haben wir auch schon nach der Explosion auf der First Avenue gefunden.«
McMowan kniff die Brauen zusammen. »Ja. Eine Gitternetzsphäre. Für einen hübschen kleinen Heim-Fusionsreaktor. Der Größe nach der Innere der beiden Käfige. Der mit der negativen Aufladung.«
»Du bist ja richtig im Thema.«
McMowan gab ihr seinen besten Rockabilly-Bad-Boy-Blick, sagte aber nur: »Das liegt daran, dass du mir so gerne die Basisrecherche überlässt.«
Smith lächelte glatt. »Wo wir davon sprechen: Knöpf dir den Mechatronikermeister doch alleine vor, ja? Ich steck so lange mal den Kopf in die IT-Abteilung und erkundige mich danach, was die schon alles aus dieser Laborkonsole herausgeholt haben.«
McMowan verzog keine Miene. »So machen wir das.«
»Super.« Die Aufnahme mit dem Stück des Reaktors wanderte zurück an die Magnetwand. Diesmal war das Teil zerschnitten worden, nicht auseinandergesprengt. Die Schneide, die das getan hatte, musste ziemlich scharf gewesen sein. Und sehr kraftvoll. Wenn Smith richtig lag, hatte Doyle die Arme des Outdoor Pro tüchtig aufgemotzt. Oder er hatte eine Vibroklinge mit den Greifklauen geschwungen. »Dann viel Erfolg.«
Aber McMowan antwortete nicht, er war schon in Richtung Aufzüge gestapft. Einen Kollegen, der seinen Weg kreuzte, rempelte er halb zur Seite.
Smith schaute auf die Uhr. Schon nach zwölf. Höchste Zeit für den nächsten Kaffee. Und für einen Twinkie. Was Richtiges essen würde sie später. Für den Moment galt: Hauptsache Koffein und Kalorien.
Auf dem Weg zur Kaffeeküche vibrierte ihr Knopf im Ohr. Sie nahm das Gespräch blind an. »Ja, Smith hier.«
»Hallo Special Agent. Ich bin’s, Oakfield«, schmetterte der Chief durch die Leitung. »Wir haben etwas für Sie.«
»Bruce. Schon wieder? Noch ist nicht Weihnachten.«
»Macht nichts. Ich schenke Ihnen einen weiteren Tatort ihres Mannes.«
»Zu gütig. Wir arbeiten noch an den Spuren vom Letzten.«
»Dann müssen Sie schneller arbeiten.« Oakfield raschelte mit Papier herum. Es klang mehr nach Butterstullen-Einwickelpapier als nach Dokumenten. »Wir haben einen bemerkenswerten Krabbelkäfer am Tatort gefunden.«
»Wie bitte?«
»… eine Art mechanisches Insekt. Und bei der Zeugenaussage des Opfers musste ich gleich an unseren verrückten Wissenschaftler von der Nacht zum Montag denken. Der, der in der Autowerkstatt randaliert hat.«
Smiths Finger verharrte über der Taste für den Cappuccino.
Die Microbots des Outdoor Pro.
Laut sagte sie: »Okay, Bruce. Ich komme zu Ihrer nächsten Vorab-Bescherung. Keine Toten, hör ich heraus? Wenn das Opfer noch aussagen konnte?«
»Keine Toten«, bestätigte Oakfield kauend.
Bingo! Butterstulle!
»Der Typ hat mehr Glück als Verstand gehabt. Ein Lieferwagenfahrer. Lebensmitteleinzelhandel, in den frühen Morgenstunden. Sagte, plötzlich habe er während der Fahrt einen Rums an der Ladeklappe gehört und eine Erschütterung gespürt. Da ist er rechts rangefahren. Als er zum Heck kam, wäre die Klappe aufgebrochen gewesen, und ein Cyborg hätte zwischen der Ladung gesessen und sich über die Pop Tarts hergemacht.«
»Ungetoastet? Pfui Teufel.«
»Dann sind diese Käfer auf den Fahrer losgegangen und der Fahrer ist zurück in die Kabine geflüchtet. Einen dieser Robo-Krabbler hat er zerquetscht, als er die Tür zugerissen hat. Der Cyborg selbst hatte offenbar kein Interesse an dem Mann. Der wollte nur Pop Tarts.«
»Danke, Bruce. Ich komme sofort.«
»In Ordnung. Kommen Sie gleich ins Hauptrevier. Wir haben beides da, den Lastwagen und den Fahrer. Und auch den Käfer.«
»Bis gleich.«
Smith tippte an ihr Ohr und danach auf die Cappuccino-Taste. Während die Maschine brühte, klaubte sie sich einen Twinkie aus dem Schrank. Der Helikopterpilot hasste es, wenn man mit Kaffeetasse ankam, aber Smith wollte verdammt sein, ohne ihre kleine Stärkung aufzubrechen.
Auf dem Weg zum Treppenhaus hoch zum Dach steckte sie noch kurz den Kopf in die IT-Abteilung. »Na, was machen meine Daten?«
Ein junger Mann, der aussah wie der ewige Student – Smiley-T-Shirt, Baseball Cap, Hipsterbärtchen – reckte den Kopf an seinem Bildschirmen vorbei. »Das dauert noch. Wenigstens, wenn Sie den Krempel aussagekräftig aufbereitet haben wollen.«
»Gut. Ich muss jetzt spontan los. Heute Abend habe ich den Bericht auf dem Tisch.«
Der ›Student‹ salutierte. »He, Smith, kann es sein, dass Sie zugenommen haben?«
Smith schloss die Abteilungstür und blieb die Antwort schuldig.
Auf der Treppe schlürfte sie etwas von ihrem Cappuccino. Weniger wegen des Pilots als vielmehr wegen ihres Blazers. Das Geheimnis jeder Autorität lag in dem ersten Eindruck. Kaffeeflecken machten sich da nicht so gut.
Obwohl die Tasse schon fast halb leer war, als sie in den Helikopter stieg, erntete sie einen bösen Blick. Ehe sie abhoben, gelang es ihr noch, die Tasse kurz abzustellen und den Twinkie auszupacken.
Zugenommen! Pah!
»Wohin?«, fragte der Pilot bärbeißig.
»Soontown, Polizeirevier. Bei Bruce gibt’s wieder Geschenke.«
* * *
Als er die Klingel hörte, hatte Marc Seymor sofort ein schlechtes Gefühl. Er erwartete keinen Besuch und kein Paket. Für den Postboten war es auch schon zu spät am Tag. Während er die Kellertreppe hochstieg, dachte er flüchtig, dass es verschroben war, gleich ein schlechtes Gefühl zu haben, nur, wenn einmal unerwartet die Klingel ging. Es konnte zig vollkommen harmlose oder gar schöne Gründe geben, warum an diesem frühen Mittwochnachmittag jemand klingelte.
Sein Erlebnis in der Nacht zum Montag hatte ihn mächtig verstört. Die Begegnung mit dem Cyborg-Professor glühte in seinem Kopf nach. Vor allem Howards Gesichtsausdruck, den er bei der wilden Flucht kurz gesehen hatte, erschien Marc seitdem ständig vor Augen: schmerzverzerrt und gleichzeitig … genießerisch. Extatisch. Howard war vielleicht nicht mehr er selbst, doch das, was aus ihm geworden war, schien einen Teil von ihm glücklich zu machen.
Als Marc öffnete, bewahrheiteten sich seine bösen Vorahnungen. Vor ihm stand der FBI-Agent, der Woodstein und ihn schon am Montagvormittag auf dem Polizeirevier vernommen hatte. Nur gut, dass Anne da schon auf ihrer Fortbildung und Ellen in der Schule gewesen war. So war Marc nicht in Erklärungsnot geraten, warum er spontan nicht zur Arbeit gefahren war, sondern stattdessen den Bus in Richtung Downtown genommen hatte.
Der Schrank mit Geltolle und Koteletten tippte sich an die Stirn. »McMowan, FBI. Wir haben noch einige Fragen an Sie, Mister Seymor. Darf ich eintreten?«
»Äh … ja. Ja, natürlich. Bitte.«
Sie gingen ins Wohnzimmer.
»Kaffee?«, fragte Marc automatisch.
»Da sag ich nicht nein.«
Während er in der Küche fuhrwerkte bekam er mit, wie dieser McMowan im Wohnzimmer herumging und alles inspizierte. Das war Marc unangenehm. Sein schlechtes Türklingel-Gefühl setzte sich fort.
Wie machen das diese Typen bloß, dass man sich ihnen gegenüber immer gleich wie ein Würstchen vorkommt?
Als er kurz darauf mit frischem Kaffee und einer Gebäckschale zurückkam, stand der Special Agent vor der Anrichte mit den Familienfotos. Zum Glück war kein Foto von Howard dabei. Ganz so nah standen der Professor und Marc sich dann doch wieder nicht.
»Ist das Ihre Frau?«, fragte McMowan und hob ein Bild von Anne und ihm an.
»Ja.« Marc konnte den Typen von Moment zu Moment weniger leiden.
»Mister Seymor, Sie haben uns gesagt, Sie sind Mechatroniker. Und kennen Howard Doyle. Mister Doyle hat, unter anderem Ihrer Aussage nach, sein Labor und die benachbarte Autowerkstatt verwüstet und Sie und Mister Woodstein angegriffen. Im Augenblick ist er weiterhin flüchtig. Dem Bild nach, das wir, Stand jetzt, von ihm haben, müssen wir davon ausgehen, dass er weitere Straftaten begehen wird. Dass er gefährlich ist.«
Während McMowan redete, hatte Marc die Wohnzimmertür geschlossen. Ausgerechnet heute Nachmittag musste seine Tochter mit ihrem Freund zuhause rumhängen!
»Wir möchten diese Gefahr gerne bannen«, fuhr McMowan fort. »Dabei brauchen wir Ihre Hilfe. Sie wussten, dass Howard Doyle mit Fusionsenergie experimentiert?«
Marc widerstand dem Impuls, sich auf die Lippen zu beißen. »Ja, das war mir bekannt. Das ist ja auch nicht verboten.«
»Innerhalb gewisser Grenzen nicht, nein. Wir haben allerdings Grund zu der Annahme, dass Mister Doyle diese Grenzen regelmäßig überschritten hat. Kennen Sie die Vereinigung ›Furious Fusioneers‹?«
»Ich weiß, dass es sie gibt«, sagte Marc vorsichtig. »Der Professor … Howard hat sie mal erwähnt.«
»Gut. Wir beobachten diese Organisation schon seit längerer Zeit. Ihre Mitglieder neigen leider dazu, es mit ihren Hobby-Fusionsreaktoren zu weit zu treiben. Es findet eine Art sportlicher Wettkampf zwischen ihnen statt. Sie clustern sogar ihre Hierarchie danach – nach der Rücklaufquote der gewonnenen Energie. Wer mehr zurückgewinnt, der bekleidet bei den Fusioneers einen höheren Dienstgrad. Lieutnant, Captain und so weiter. Howard Doyle ist Colonel der Furious Fusioneers. Ein hohes Tier bei denen.«
Marc schwieg. So detailliert hatte der Professor ihn da nie eingeweiht. Howard hatte einmal versucht, ihn für die Furious Fusioneers zu gewinnen. Als Marc aber kein gesteigertes Interesse gezeigt hatte, hatte er das Thema fallen lassen.
McMowan nippte an seiner Tasse und aß einen Keks. Kaute. Schluckte. »Manche der Mitglieder sind einfach nur harmlose Hobbybastler. Wenigstens noch im Augenblick. Denn die Dynamik innerhalb dieser Organisation taugt dazu, aus harmlosen Bastlern tickende Zeitbomben zu machen. Die höheren Chargen zählen wir allerdings zu den Subjekten mit gesteigertem Gefährdungspotenzial für unsere Gesellschaft. Diese Leute pflegen Kontakte zu illegalen Beschaffungsquellen. Sie treiben es mit ihrer privaten Kernverschmelzung zu weit. Wegen ihnen hat es in der Vergangenheit schon häufiger Unfälle gegeben. Und Ihr Freund Howard steht spätestens seit der Nacht zum Montag ganz oben auf unserer Liste.«
Bei den ›tickenden Zeitbomben‹ war Marc etwas in den Sinn gekommen. »Die Explosion am Samstag … Auf der First Avenue … Hatte die auch etwas mit den Furious Fusioneers zu tun?«
McMowan verzog keine Miene. »Die Ermittlungen dauern noch an.«
Also ja!
»Mister Seymor, wir wissen ferner, dass Howard Doyle einen Outdoor Pro ZX 5000 genutzt hat, um so zu werden, wie sie ihn vor Woodsteins Autowerkstatt erlebt haben.«
Marcs kleiner Triumph zerbröselte. McMowan machte eine Kunstpause.
Die haben mich überprüft. Die wissen, dass ich auch einen Outdoor Pro im Keller habe.
Er kam ins Schwitzen. Und bemerkte die neue, raue Färbung in seiner Stimme, als er sagte, weil er das Schweigen nicht länger aushielt: »Und?«
»Der Outdoor Pro ZX 5000 ist ein aktuelles Hightech-Modell«, führte McMowan aus. »Limitierte Stückzahl. Programmierbar. Modulare Titaniumklauen. Und last but not least: Microbots. Fünf Dutzend. Ein ganzer Schwarm davon, jeder Einzelne ein kleines technisches Wunderwerk. Sie als Mechatroniker haben vielleicht schon davon gehört. Womöglich kennen Sie das Modell ja sogar. Es hat, so weit ich weiß, schwer Furore in den einschlägigen Kreisen gemacht.«
»Herrgott, ja!«, beendete Marc das Spiel. »Ich kenne das Modell. Ich habe selbst einen davon im Keller. Sind Sie jetzt zufrieden? Es ist schließlich nicht verboten, einen Outdoor Pro zu kaufen, Himmel nochmal! Und es ist auch nicht verboten, daran herumzuschrauben! Mein Risiko, wenn ich dabei den Garantieanspruch verwirke! Wollen Sie ihn sehen? Ich zeige Ihnen gerne meinen Hobbykeller! Einen Fusionsreaktor werden Sie da unten aber nicht finden.«
McMowan lächelte schwach und trank noch einen Schluck Kaffee. »Wenn Sie mich so fragen … Ja, ich würde das Ding tatsächlich gerne sehen. In Mister Doyles Labor haben wir nur die Reste gefunden. Einen ausgeschlachteten Rumpf.«
»Dann folgen Sie mir bitte!«
Auf dem Weg zur Kellertreppe fanden sie Ellen und Ricco in der Küche sitzen und vorgeblich etwas essen. In Wahrheit waren sie natürlich nur heruntergekommen, weil sie von dort aus besser hören konnten, was im Wohnzimmer geredet wurde, da hatte Marc keinen Zweifel. Er bemerkte, wie die Augen seiner Tochter und ihres Freundes groß wurden, als sie den Special Agent sahen. McMowan hielt sich nicht damit auf, die Jugendlichen zu grüßen.
Unten führte Marc seinen Besucher um den Wandschirm herum und zeigte ihm alles. Jetzt, wo er den unliebsamen Gast einmal in seinem Allerheiligsten stehen hatte, sah er auch keinen Grund mehr für falsche Zurückhaltung. »So, bitte sehr! Schauen Sie sich ruhig um und ziehen Sie alle Schubladen auf. Mir ist es gleich. Ich habe nichts zu verbergen.«
McMowan setzte das Angebot nicht in die Tat um. Er schien sich nur für den Outdoor Pro zu interessieren, betatschte seine Außenhülle und wackelte ein paar Mal an den Armen und den Greifklauen. »Und die Microbots?«
Wortlos sperrte Marc den Stahlschrank auf und stellte den Karton auf die Werkbank. McMowan schaute hinein. Seine Hand schwebte über der Öffnung. »Darf ich?«
»Tun Sie sich keinen Zwang an. Die Dinger sind zwar klein, aber lange nicht so zerbrechlich, wie sie aussehen. Und im Augenblick sind sie inaktiv und werden Sie nicht in den Finger zwicken.«
McMowan nahm einen Microbot heraus und setzte ihn sich auf die Hand. »Können Sie den mal anstellen?«
Marc schüttelte den Kopf. Es schwang ehrliches Bedauern mit, als er zugab: »Leider nein. Im Augenblick nicht. Ich habe die Steuereinheit ausgebaut, weil ich erreichen wollte, die Microbots ohne den Outdoor Pro betreiben zu können. Das hab ich bisher nicht hingekriegt. Deshalb war ich ja Sonntagabend mit dem Professor … mit Howard verabredet. Ich wusste, dass er auch einen Outdoor Pro hat, und ich wusste, er schraubt auch daran herum. Was konkret er mit seinem Modell vor hatte, wusste ich allerdings nicht.«
McMowan wog den Microbot auf der Handfläche. »Wie leicht der ist …«
»Ja. Aber er kann ein Vielfaches seines Eigengewichts tragen. So ein bisschen wie eine Ameise. Sie würden staunen, was der Schwarm zusammengenommen für ein Gewicht anheben und transportieren kann.«
McMowan nickte. »Und da draußen läuft jetzt einer Amok, der so einen Schwarm unter seiner Kontrolle hat.«
Marc stützte sich auf die Werkbank und wiegte den Kopf. Die letzten Nächte hatte er kaum geschlafen. Seine Gedanken waren ständig um den Professor gekreist. »Hören Sie: Howard ist kein Unmensch. Auch kein Verbrecher. Er hat herumexperimentiert, ja. Etwas ist schief gelaufen, ja. Irgendetwas muss seinen Verstand verwirrt haben. Ich war in seinem Labor und habe die Aufzeichnungen seiner Körperfunktionen dort gesehen. Er muss sich die Arme irgendwie selbst implantiert haben. Ich fürchte, er hat sich dabei auch irgendetwas in den Kopf gesteckt. Da war so ein Metallbügel über seiner Stirn. Ich konnte es nicht genauer sehen, es ging alles zu schnell. Aber sie dürfen ihn nicht einfach über den Haufen schießen! Er ist ebenso Opfer wie Täter.«
McMowan legte den Microbot zur Seite und strich sich mit beiden Händen über die Geltolle. »Ob wir schießen oder nicht hängt stark davon ab, was Ihr Freund als Nächstes so anstellt. Noch hat er niemanden getötet. Sein Glück. Ein Mord ist so ein Punkt ohne Umkehr. Hat er den erst einmal überschritten, wird’s richtig ernst für ihn.«
Marc nickte. »Ja. Ja, natürlich.«
Der FBI-Agent nahm den Microbot noch einmal zur Hand. »Darf ich einen davon mitnehmen? Das könnte nützlich sein für unsere Ermittlungen.«
Marc nickte noch einmal. »Bitte, ja.«
»Danke. Auch für Ihre Zeit. Falls Ihnen noch irgendetwas rund um Howard Doyle einfällt oder er Kontakt mit Ihnen aufnimmt, rufen Sie uns an. Meine Karte haben Sie ja schon.«
»Ja«, bestätigte Marc, »die hab ich.«
Oben saßen Ellen und Ricco noch immer in der Küche und taten so, als ob sie aßen. Zu Marcs Erstaunen blieb McMowan diesmal vor dem Türrahmen stehen und fragte die beiden: »Kennen wir uns nicht irgendwoher?«
Ellen nickte. »Im Herbst. In der Central City Mall. Wir waren dabei, als Sie den Axtmörder geschnappt haben.«
McMowan schnippte einmal mit den Fingern. »Genau. Das war’s.«
Vor der Haustür tippte sich der Special Agent zum Abschied erneut an die imaginäre Krempe eines imaginären Cowboyhuts.
»Er ist selbst nur ein Opfer«, rief Marc ihm noch einmal nach, aber McMowan reagierte nicht mehr darauf, stieg in seinen Van und fuhr davon.