18.

Morton Petersens neuer E-Roller schnurrte wie eine Katze. Sein altes Modell lag nach wie vor in der Asservatenkammer von Soontowns Polizeipräsidium, nachdem ein synthetischer Axtmörder es sich für eine Spazierfahrt ausgeliehen und dann keine Gelegenheit mehr gehabt hatte, es zurückzubringen. Sachen gab’s.

Morton, Rowan und Woodstein waren die Letzten im Yard’s gewesen und hatten Joe zum Abschied ›Frohe Weihnachten!‹ gewünscht. Morton war mit seinem persönlichen Schwebe-Pegel auf den Roller gestiegen. Promillebeflügelt sauste er über Soontowns zu dieser späten Stunde leere Straßen. Flüsterasphalt. Minimale Reibung. Völlig losgelöst. Er hätte längst daheim sein können, aber für den direkten Weg genoss er seinen ›Flug‹ gerade viel zu sehr. Morton stellte sich vor, er wäre Captain auf der Brücke eines Raumschiffes und würde mit seiner internationalen Crew die Tiefen des Weltalls erkunden. Ferne Planeten ansteuern. Fremde, spannende Lebensformen und Zivilisationen entdecken ...

Die Snack Corner würde über die Weihnachtsfeiertage geschlossen bleiben. Er konnte ausschlafen und seinen imaginären Weltraumtrip nach Lust und Laune auskosten.

»Captain Petersen an Maschinenraum«, rief er beschwingt, »Schub auf Maximum erhöhen! Dreifache Lichtgeschwindigkeit!«

»Aye, Aye, Captain!«, antwortete er sich selbst mit verstellter Stimme und drehte an dem Speed-Regler. Der Roller legte noch einen Zahn zu. Das neue Gefährt hatte mehr unter der Haube als sein altes Fahrzeug. Wenn er schon gezwungen gewesen war, sich Ersatz zu besorgen, so hatte Morton sich dabei auch verbessern wollen. Er begann, weite Schlangenlinien zu fahren und freute sich über die sanften Fliehkräfte, die dabei auf ihn einwirkten.

Links!

Rechts!

Links!

Rechts!

Dass die Ampel rot war, übersah er.

Es war sein Glück, dass der Streifenwagen eine Sekunde nach ihm in die Kreuzung einfuhr. Er spürte den Luftzug des Einsatzfahrzeugs in seinem Rücken, die Stoßstange hatte ihn um einen halben Meter verfehlt.

Der Zwischenfall sog ihn wie ein schwarzes Loch aus seiner Fantasie zurück in die Realität.

Morton bremste.

Der Streifenwagen bremste.

Die Cops ließen einmal kurz die Sirene aufheulen und schalteten das Blaulicht an. Die Beifahrertür öffnete sich. Ein Polizist stapfte zu Morton herüber, Dienstwaffe und Taschenlampe gezückt. »Absteigen, Mister!«

Mit weichen Knien verließ Captain Petersen die Brücke. Heiliger Strohsack! Das war wirklich knapp gewesen!

»Ihre Papiere, bitte!«

Morton nestelte sein Portemonnaie aus der Tasche. Dabei war er so nervös und von dem Schock voller Adrenalin, das ihm bis auf ID und Führerschein alles aus der Hand fiel.

Der Polizist besah sich den Personalausweis und musterte Morton dann in bester Bad-Cop-Manier. »Sie hatten rot, Mister Petersen. Ist Ihnen das bewusst?«

»Jetzt schon«, murmelte Morton, den Blick auf seine Füße gerichtet.

Gott! Hoffentlich riecht er meine Fahne nicht!

Als hätte er Mortons Gedanken gehört, fragte der Beamte: »Haben Sie etwas getrunken?«

»Ein Bud«, log Morton. »Vielleicht zwei.«

Die Miene des Cops blieb reglos. »Kommen Sie mit rüber zum Wagen.«

Morton verließ aller Mut, während er sein Portemonnaie auflas und dann seinen Roller vor dem Polizisten her zu dem Einsatzfahrzeug schob, das in der Zwischenzeit rechts ran gefahren war. Das Blaulicht blendete ihn.

Während ihn der erste Cop in das Röhrchen pusten ließ, überprüfte der zweite im Wagen Mortons Papiere. Beim Pusten wurde Morton schwindelig, bis der Beamte endlich zufrieden war. Der Cop las das Ergebnis ab. »1,4 Promille, Mister. Wir werden Ihren Führerschein behalten müssen.«

Scheiße! Scheiße! Scheiße!

»… und fünfhundert Dollar Bußgeld von Ihnen kassieren.«

Morton setzte einen Hundeblick auf, um den ihn Jip beneidet hätte. »Aber Officer … Schauen Sie mal … Es ist doch Weihnachten!«

»Ja«, bestätigte der Polizist. »Deshalb werden wir Sie ausnahmsweise nach Hause fahren, nicht aufs Revier. Seien Sie froh. Wir könnten Sie auch über die Feiertage bis nach Silvester bei uns behalten.«

Morton nickte ergeben. Da konnte man nichts machen. Widerstand war zwecklos. »Danke, Sir«, gab er sich geschlagen.

»Stellen Sie den Roller ab und warten Sie hier.«

Morton gehorchte und klappte mit dem Fuß die Parkstütze aus.

Der Cop ging um den Wagen herum und wechselte ein paar gedämpfte Worte mit seinem Einsatzpartner. Dann kehrte er mit einem E-Cash-Gerät zurück.« Ihr HoloCom, bitte. Sie können nur elektronisch bezahlen.«

Ach was! Wie schade. Natürlich hätt ich die fünfhundert Piepen auch in bar dabei gehabt. Armleuchter!

Die Verbindung wurde hergestellt. Das Display des Geräts fragte Morton nach seiner PIN. Er tippte und bestätigte mit einem zittrigen Finger. Kurz darauf erschien die Meldung: ›Falsche PIN‹.

Alkohol und Nervosität waren ein schlechtes Team für das Gedächtnis.

»Konzentrieren Sie sich, Mister. Wenn Sie nicht gleich hier vor Ort bezahlen können, müssen wir Sie doch noch mit auf die Wache nehmen.«

Noch zwei Versuche.

Morton dachte: Acht, zwo, sieben, vier. Verdammt, so war es doch?! Ich muss mich beim ersten Mal schlicht vertippt haben. Also, noch mal: Acht, zwo …

Bei der dritten Ziffer verrutschte sein Finger, er erwischte noch einmal die Acht, anstatt die Sieben.

»Wie … Wie kann ich hier zurückgehen?«, fragte er kleinlaut. »Ich glaub, ich hab mich wieder vertan.«

Der Polizist funkelte ihn an, drehte das Gerät zu sich, löschte die bisherige Eingabe und hielt ihm die Tasten erneut hin.

Morton begann zu schwitzen. Acht, zwo …

Und bestätigen.

›Falsche PIN‹ meldete das Display.

»Das gibt’s doch gar nicht!«, fuhr er auf.

»Letzter Versuch«, wies ihn der Beamte auf das Offensichtliche hin. »Reißen Sie sich zusammen, Mister Petersen. Sonst feiern Sie Weihnachten in einer Zelle.«

Die Drohung machte Mortons Hand nicht gerade ruhiger.

Weihnachten auf dem Polizeirevier, weggebuchtet wie ein Schwerverbrecher … Die Demütigung, wenn er seine Schwester darüber würde informieren müssen … Lina North, geborene Petersen, wohnte mit ihrer Familie am Ort, Morton war bei ihr zum Weihnachtsdinner eingeladen. Linas Mann lächelte ohnehin schon immer auf den Schwager herab, nannte ihn ›Burger-Morton‹. Und das Schlimmste: Später am Abend hinter Gittern nüchtern auf kahle Wände starren, statt launiger Christmas-Afterparty vor den Markthallen …

Ihm brummte der Schädel. Nein, diesen Mist hier hätte er im alten Jahr wirklich nicht mehr gebraucht. War es denn nicht genug, dass er und sein Restaurant am Samstag fast in die Luft gesprengt worden wären? Nun durfte er auch noch fünfhundert Kröten Bußgeld berappen! Wo er doch wegen der Explosion auf der First Avenue noch die komplette Fensterfront seines Ladens ersetzen musste. Ob die Versicherung für diesen Schaden einspringen würde, war zum jetzigen Zeitpunkt noch völlig offen. Morton kannte dieses Pack. Die arbeiteten im Schadensfall doch nie für ihre Versicherten, sondern immer gegen sie. Verbrecher! Aasgeier! Abzocker!

»Mister Petersen?« Der Cop wurde ungeduldig.

Das Brummen in Mortons Schädel nahm zu. Bloß, dass es gar nicht in seinem Kopf brummte, sondern außerhalb davon, wie er jetzt bemerkte. Auch der Polizist hatte etwas gehört, blickte von dem E-Cash-Gerät auf.

So sahen sie beide den ungewöhnlichen Verkehrsteilnehmer, der in drei Fuß Höhe über die Kreuzung schwebte und in der Straße verschwand, die auch Morton hatte nehmen wollen, ehe ihn der Streifenwagen erwischt hatte. Ein Mensch mit zwei metallenen Greifarmen, getragen von einer Traube schwarzer Hummeln. Im Vorbeifliegen wandte er sein Gesicht dem Blaulicht zu, eine entstellte Grimasse, von einem stählernen Stirnband gekrönt. Das Brummen wurde heller, als der Hummelschwarm beschleunigte. Dann war die Erscheinung hinter dem nächsten Häuserblock verschwunden.

»Das war doch …!«, begann Morton.

»Scheiße!«, rief der Cop und sprang auch schon zu seinem Partner in den Wagen. »Wenden! Fahr! Fahr! Wenden!«, drang es aus den offenen Fenstern.

Der Motor heulte mit der Sirene um die Wette. Mit quietschenden Reifen drehte der Streifenwagen und brauste dem fliegenden Mann hinterher.

»… der Killercyborg!«, beendete Morton seinen Satz, den HoloCom noch immer erhoben. Dann, halblaut, fast ehrfürchtig: »Ich hab ihn gesehen!«

Und er hat mir fünfhundert Dollar Strafe erspart.

Im nächsten Moment fiel ihm ein, dass die Cops ja noch seine Papiere hatten. Es würde nur ein Zahlungsaufschub sein.

Kurz erwog er, sich den Polizisten an die Fersen zu heften, verwarf den Gedanken aber wieder. Sicher wäre es spannend, sich an der Jagd zu beteiligen, doch mit seinem E-Roller würde er dabei keine Chance haben. Außerdem hatte der Cyborg ja an die zehn Leute umgebracht. Nein, nein, das überließ er mal besser ganz den Cops. Auch, wenn es mächtig cool gewesen wäre, den Jungs im Yard’s ein selbstgeschossenes Foto von der mörderischen Mensch-Maschine zeigen zu können.

Morton seufzte. »Was für eine Nacht!«

Sein Schwebegefühl war vollständig verflogen. Zeit, nach Hause zu fahren. Das würde keine Fahrerflucht sein – die Bullen hatten die Verkehrskontrolle ja selbst abgebrochen. Sie würden noch früh genug auf ihn zurückkommen, kein Zweifel.

Als er auf das Trittbrett stieg und den Elektroantrieb startete, war er einfach nur noch Morton, der schlagartig ernüchtert der Heimat zustrebte.

Captain Petersen hatte vorerst ausgedient.