20.
Marc Seymor hatte den Kragen hochgeschlagen. Gar nicht einmal, weil die Witterung so unwirtlich gewesen wäre. Das war sie nicht. Eigentlich war die Nacht viel zu mild für Dezember. Nein, es war wegen seiner Nerven. Er fühlte sich schutzlos, so spät noch unterwegs, in dieser Gegend. An diesem Ort. Doch es half nichts: Er wollte endlich sein Auto wiederhaben. Noch vor Weihnachten. Und da er ohnehin nicht hatte schlafen können, hatte er sich die Jacke übergestreift und ein Taxi gerufen. Jetzt wartete der Fahrer auf seinen Wunsch hin, bis er in seinen eigenen Wagen gestiegen war, den er vergangenen Sonntag gegenüber der Zufahrt zu Howards Hinterhof geparkt hatte.
Auf der Flucht vor dem Angriff des Cyborgs hatte es keine Möglichkeit gegeben, aus Woodsteins Pickup in sein eigenes Auto hinüber zu wechseln. Sie waren zum Polizeirevier gefahren und hatten den Anschlag auf Woodsteins Autowerkstatt dort gemeldet. Auf Bitten der Beamten hatten sie auf dem Revier gewartet, bis die Cops den Tatort gesichert hatten. Dann waren sie bis in die Nacht hinein von zwei Detectives befragt worden. Am nächsten Vormittag hatte man Marc sogar noch ein zweites Mal aufs Revier gebeten. Dort hatte ihm dann das FBI, dieser McMowan, weitere Fragen gestellt.
All die Tage danach hatte Marc Schweißausbrüche bei dem Gedanken bekommen, zu der Hofeinfahrt zurückzukehren. Er hatte dann jedes Mal wieder Howards verzerrtes Gesicht vor Augen gehabt, als das Tor der Werkstatt sich geöffnet hatte und der Cyborg auf sie los gegangen war. Marc war zuhause geblieben und hatte sich Urlaub genommen.
Jetzt hatte er sich endlich überwunden. Als die Sensorik des Wagens seinen Schlüsselchip erkannte, ging die Fahrertür auf und das Standlicht schaltete sich ein. Er schob sich hinter das Steuerrad, zog die Tür zu und zeigte dem Taxifahrer den erhobenen Daumen. Während das Taxi davonfuhr, verriegelte Marc den Wagen von innen und atmete lange aus. Geschafft!
Donnerstag Abend hatte Anne angerufen und mit ihm über den Anschlag auf den öffentlichen Bus in Soontown gesprochen. Er hatte versucht, seine Frau zu beruhigen und versprochen, mit Ellen zu reden, damit ihre Tochter vorsichtig wäre, wenn sie sich dieser Tage in der Stadt bewegte. Dass er selbst bereits Berührung mit dem Cyborg gehabt hatte, den Killer gar persönlich kannte, hatte Marc für sich behalten.
Er spähte zu der Einfahrt hinüber. Der Hof lag schwarz und ruhig da, das Rolltor stand offen. Aus seinem Blickwinkel konnte Marc das Büro des Import-Export-Händlers sehen. Die Fenster waren dunkel. Nicht einmal dieser Freak arbeitete in der Nacht zum fünfundzwanzigsten Dezember.
Wo Howard jetzt wohl gerade steckt?
Howard, der Killercyborg.
Mein Freund, der Amokläufer.
Howard Doyle würde keine Geschenke auspacken in diesem Jahr. Keine Kerzen anzünden. Er würde als Mensch-Maschine umherstreifen und weitere Mitbürger umbringen, wenn Polizei und FBI ihn nicht vorher zur Strecke brachten.
Einem Impuls folgend, startete Marc den Motor, querte die Straße und rollte im Schritttempo auf den Hof. Sowohl Woodsteins Werkstatt als auch Howards Labor waren noch mit Polizeiband abgesperrt. Beide Gebäude waren dunkel, die Tore verschlossen. Auszusteigen machte gar keinen Sinn. Nicht, dass er das vorgehabt hätte. Er konnte hier nichts mehr ausrichten. Das Schicksal des Professors lag in Gottes Hand.
Beklommen verließ Marc den dunklen Hof wieder.
Auf dem Rückweg machte er an einem 24/7-Laden halt und kaufte noch ein paar Sachen für Weihnachten ein. Zwei Sixpacks Bier, er würde sie brauchen. Eine gute Flasche Wein. Annes Lieblingsschokolade. Er sah auf die Uhr hinter dem Tresen. Zwanzig vor zwei. Gerade noch rechtzeitig. Das Geschäft hatte zwar durchgängig geöffnet, aber Alkohol durfte in Kalifornien nur bis zwei Uhr morgens verkauft werden, dann erst wieder ab sechs in der Frühe. Der Mann an der Kasse packte ihm alles in braune Papiertüten. Marc hielt ihm den HoloCom zum bargeldlosen Bezahlen hin.
Auf dem Holoschirm im Regal gegenüber der Theke flimmerte TNT TV mit der Wiederholung einer Reportage über das Mittwochs-Massaker in dem öffentlichen Bus. Plötzlich wurde der Bericht von einer Eilmeldung abgelöst. Neben der Studiosprecherin erschien das Logo des Killercyborgs, das der Sender mittlerweile eigens für Beiträge über Howard geschaffen hatte.
»Entschuldigung, könnten Sie das mal kurz lauter stellen, bitte?«
Der Verkäufer drückte auf einer Fernbedienung herum.
»… alles Weitere live von Susan Taylor«, schloss die Sprecherin gerade ihr Intro. »Susan, was ist da draußen schon wieder passiert?«
Schnitt. Von einem erhöhten Standort aus war die South Bridge zu sehen. Das TNT Team musste für diese Einstellung eine der Serpentinenstraßen in die umliegenden Berge genommen haben. Die Brücke war erleuchtet, wie jede Nacht. Jetzt aber war zusätzlich das Blaulicht auf der Fahrbahn zu sehen, zusammen mit dem Flutlicht der Spurensicherung. Es hatte einen Polizeieinsatz mit mehreren Streifenwagen gegeben. Ein größeres Fahrzeug stand mit eingeschalteter Warnblinkanlage auf der stadtinwärtigen rechten Spur. Es war ein Truck.
»Auch in der Nacht zu Weihnachten setzt der Killercyborg seine Mordserie gnadenlos fort«, begann die Reporterin im Vordergrund. »Um die Mitternachtsstunde wurde offenbar ein Lastwagenfahrer Opfer seiner brutalen Stahlklauen. Die Polizei Soontowns schweigt sich über den Hergang der Ereignisse noch aus, doch die Blutspuren auf dem Asphalt, ein Leichenwagen und das Aufgebot an Einsatzkräften sprechen eine deutliche Sprache: Es ist die Sprache des Terrors. Warum musste der Trucker heute Nacht auf der South Bridge sterben? Warum hat der Killercyborg gerade ihn ausgesucht? Liegt seinen Gräueltaten ein verborgenes Muster zugrunde oder geht das Monster vollkommen willkürlich vor? Viel spricht dafür, dass jeder von uns der Nächste sein kann.«
Schnitt zurück ins Studio. »Susan, die Menschen fragen sich, wie dicht die Polizei wirklich an dem Cyborg dran ist. Spuren hat er ja genügend hinterlassen. Offenbar ist er auch all die Zeit über in Soontown geblieben und denkt gar nicht daran, der Stadt den Rücken zuzukehren. Schon fünf Tage jetzt! Langsam aber sicher müssten die Kreise der Kriminaler um ihn herum doch enger werden. Werden wir überhaupt in Frieden Weihnachten feiern können?«
Schnitt zurück zu der Totalen mit der Brücke. »Ja, also, man muss sich da schon fragen, was die Task Force von Chief Oakfield in dieser Sache bislang überhaupt erreicht hat«, führte Susan Taylor genüsslich aus. »Der jetzige Fall zeigt, dass im Revier völlige Unklarheit über die Bewegungen des Killers herrscht. Hätte nicht ein couragierter Autofahrer angehalten und den Mord gemeldet, wäre die Tat vielleicht bis jetzt unentdeckt geblieben. Von offizieller Seite erfahren wir sehr wenig über den Stand der Ermittlungen. Doch je näher Weihnachten rückt, desto mehr verfestigt sich der Eindruck, dass die Polizei diesem Wahnsinnigen hilflos hinterherläuft. Ich fürchte, wenn heute kein Wunder geschieht, werden die Bürger Soontowns das Weihnachtsfest in Angst und Schrecken begehen.«
Die Kamera zoomte näher an die Brücke heran. Zwischen den Streifenwagen rückte eine Ambulanz ins Blickfeld. Die Notfallmediziner warfen ihre Koffer in den Van, stiegen ein und fuhren ohne Sirene weg. Sie hatten nichts mehr ausrichten können, fuhren ohne Patienten zurück in die Klinik. Polizeimitarbeiter in weißen Ganzkörper-Overalls mit Kapuze und Mundschutz standen und knieten bei dem Tatort. Das Bild war körnig, die Distanz zu groß für eine scharfe Aufnahme.
»Wir bleiben rund um die Uhr an dem Fall dran«, stellte die Reporterin aus dem Off klar. »Sobald es etwas Neues von dem Killercyborg gibt, sind die Zuschauerinnen und Zuschauer von TNT TV die Ersten, die es erfahren.«
Schnitt ins Studio. »Danke, Susan.« Die Sprecherin wandte sich wieder frontal der Kamera zu.
»Danke«, sagte auch Marc zu dem Verkäufer, nahm seine Tüten und ging, ohne ›Fröhliche Weihnachten‹ zu wünschen. Bei solchen Nachrichten wollte sich einfach keine festliche Stimmung einstellen.
Howard, was tust du da!
Zurück am Wagen packte er alles in den Kofferraum und bat den Autopiloten, ihn nach Hause zu bringen.
Unterwegs schloss er die Augen. Jetzt merkte er richtig, wie müde er war. Seit Montag hatte er fast die ganze Zeit an seinem Outdoor Pro herumgetüftelt, um die Sache mit Howard wenigstens für eine kleine Weile zu vergessen. Das Problem mit der Steuereinheit hatte er dabei selbst in den Griff gekriegt. Er konnte die Microbots jetzt auch mit ausgebautem Prozessor lenken, ohne den Hauptroboter dazwischenschalten zu müssen. Aber er freute sich nicht über dieses Erfolgserlebnis. So ähnlich musste es der Professor auch gemacht haben. Wie sonst könnte er während seiner Attacken den Schwarm der Miniatur-Maschinen befehligen? Er musste den Prozessor irgendwie am Leib tragen, verbunden mit einem seiner Implantate. Wie er es dann noch schaffte, die Microbots derart intuitiv zu steuern, ohne Eingabepanel, ohne Controller in den Händen, das war Marc allerdings nach wie vor ein Rätsel.
Wenn er mehr darüber herausfinden würde, vielleicht könnte er das FBI und die Cops dann bei der Fahndung unterstützen? Ihnen wertvolle Hinweise geben?
Na ja … Wahrscheinlich hatte dieser McMowan seine eigenen Jungs auf diese Sache angesetzt. Sicher hatte das FBI noch ganz andere Spezialisten zur Verfügung und war gar nicht auf ihn angewiesen. In zehn, zwölf Stunden würde Anne von ihrer Fortbildung zurückkommen. Dann würden sie Weihnachten feiern, ob Howard bis dahin immer noch frei herumlief oder nicht. Marc nahm sich vor, seinen Bastelkeller während der Feiertage nicht zu betreten. Zuhause gab es noch genug Dinge vorzubereiten. Die Zimmer mussten durchgesaugt werden und der Weihnachtsbaum geschmückt. Er konnte schon einmal ein Dessert vorbereiten. Vanillepudding – den bekam er ganz gut hin. Vielleicht würde er den Schlamassel mit Howard über solche häuslichen Tätigkeiten eher verdrängen können als beim Herumschrauben an dem gleichen Roboter, den der Professor als Basis für seine Untaten genommen hatte.
Ein blauer Schimmer drang durch seine Lider. Der Wagen hatte gestoppt. Marc öffnete die Augen. Und fand sich auf der Straße vor der abgesperrten Zufahrt zu seiner Garage wieder. Mehrere Polizeiautos hatten den Bürgersteig vor seinem Haus zugeparkt, drei Beamte hielten schaulustige Nachbarn auf Abstand.
Die Haustür aus massiver Buche war eingeschlagen worden, wie auch mehrere Fenster im Erdgeschoss. Die Scherben im Vorgarten funkelten bläulich im Warnlicht der Einsatzfahrzeuge. Er tastete nach dem Griff der Autotür. Dabei zitterte er so stark, dass er den Hebel zuerst nicht fand. Er hatte noch kein Bein auf den Asphalt gesetzt, da lief einer der Cops schon auf ihn zu. »Hören Sie, Mister! Fahren Sie bitte weiter! Sie dürfen hier nicht einfach mitten auf der Straße halten!«
»Das ist mein Haus!«, stieß Marc hervor. »Ich wohne hier.«
Ungläubig glitt sein Blick über all die Zerstörung. Der Pfahl mit dem roten Postkasten darauf war umgeknickt wie ein Streichholz.
»Sie sind Marc Seymor? Können Sie sich ausweisen?«
»Ich … Ja. Ja, natürlich.« Ohne die Augen von seinem demolierten Heim abzuwenden, fingerte Marc sein Portemonnaie aus der Jackentasche und drückte dem Cop den halben Inhalt unbesehen in die Hände – ID, Führerschein, Kreditkarten, den Mitgliedsausweis vom Fitnessclub und das Foto seiner Frau. »Was ist hier passiert?«
Der Cop prüfte die Papiere. »Bei Ihnen wurde eingebrochen, Mister Seymor.«
»Wer …? Warum …?«
»Sir, es tut mir leid, aber Sie können hier nicht stehenbleiben. Bitte parken Sie erst Ihren Wagen.«
»Okay … Ja …«
Marc sank zurück auf den Fahrersitz. Der Cop drückte die Tür zu. Der Parkassistent fand einen freien Platz, das Steuerrad drehte sich selbstständig, während die Limousine rückwärts in die Lücke setzte.
»Oh nein!«, murmelte Marc. »Oh Gott! Oh Gott!«
Beiläufig pries er, dass Ellen diese Nacht bei Ricco verbrachte. Er hatte sich lange bitten lassen, ehe er damit einverstanden gewesen war. Jetzt war er im Nachhinein heilfroh darüber. Mit offenem Mund schleppte er sich über die Straße, auf die Polizeiabsperrung zu.
»Wissen Sie, ob jemand zuhause war?«, fragte ihn der Cop, der Marc beim Einparken nicht aus den Augen gelassen hatte. »Drinnen haben wir niemanden gefunden.«
»Nein, niemand«, antwortete Marc. »Meine Frau ist auf einer Fortbildung. Und unsere Tochter übernachtet bei ihrem Freund.«
Sie wandten die Köpfe, als ein schwarzer Van mit quietschenden Reifen direkt vor der Absperrung hielt. Die Beifahrertür öffnete sich, und eine attraktive Frau undefinierbaren Alters stieg aus. Ihr dunkelblaues Kostüm war etwas zerknittert, ansonsten gab sie ein Musterbeispiel an professioneller Schneidigkeit ab. Eine FBI-Agentin, gar keine Frage. Marcs Annahme bestätigte sich, als auf der anderen Seite der Kopf des Rockabilly-Typs über dem Dach des Vans erschien, der ihn schon einmal daheim besucht und vernommen hatte. McMowan. Während die Special Agents näherkamen, raunte McMowan seiner Partnerin etwas zu.
»Mister Seymor?«, sprach die Frau ihn an.
Marc nickte.
»Special Agent Smith.« Der Blick der Agentin schweifte über die stark in Mitleidenschaft gezogene Fassade und den verwüsteten Vorgarten. »Schöne Bescherung, was?«
Allmählich drang ein Gedanke durch Marcs schockgefrostetes Hirn. Moment mal. McMowan! Wenn jetzt auch noch das FBI hier anrückt, dann bedeutet das … Das bedeutet …
Ihm wurde schwindelig. Der Cop stützte ihn. »Geht es ihnen gut, Mister? Wollen Sie sich einen Moment setzen?«
Der Mann bugsierte ihn zu den Stufen des zerstörten Eingangsbereichs, schob mit dem Fuß ein paar Scherben zur Seite und pflanzte Marc auf seinen Allerwertesten. Die Special Agents waren mitgekommen.
»Mister Seymor«, übernahm McMowan das Wort, »wir haben Grund zu der Annahme, dass Ihr Freund Howard Doyle Ihnen einen Besuch abgestattet hat.«
»Ja«, murmelte Marc. »Sonst wären Sie wohl kaum hier.«
»Die Beamten vom Police Departement haben uns während der Anfahrt bereits darüber aufgeklärt, dass es sich hier keinesfalls um puren Vandalismus handelt. Ihr Haus wurde offenbar gründlich durchsucht, Doyle hat alles auf den Kopf gestellt. Ich fürchte, dabei war er nicht gerade zimperlich.« McMowan ging neben Marc in die Hocke. »Scheint, als habe er irgendetwas bei Ihnen gesucht. Und da Sie unlängst so freundlich waren, offen mit uns zu reden, habe ich so ein Gefühl, ich weiß auch bereits, was Doyle bei Ihnen so dringend gesucht hat.« McMowan machte eine Kunstpause, ehe er schloss: »Sechzig kleine, ungezogene Rabauken.«
»Neunundfünfzig«, verbesserte ihn Marc, den Blick starr auf seinen Schuhen. »Einen davon hab ich ja Ihnen gegeben.«
»Bestens!«, kommentierte Smith. »Einer weniger!« Sie grimassierte in die Runde. »Wir sind gerettet!«