21.

Sie hatten nicht miteinander geschlafen. Trotzdem war das die heißeste Nacht gewesen, die Ellen bislang erlebt hatte: dicht an dicht mit Ricco, ihr Atem an seiner Halsgrube, ihrer beider Hände auf Wanderschaft – sowohl über, als auch unter den Pyjamas. Es war spät geworden, bis sie eingeschlafen waren. Wie spät genau, das wussten sie nicht. Heute nebeneinander aufzuwachen war dann fast noch schöner gewesen.

Jetzt saßen sie bei einem späten Frühstück in der Küche der Russos. Romina, Riccos Mutter, hatte den Tisch gedeckt, ihnen herzlich einen guten Morgen gewünscht und sich dann taktvoll zurückgezogen. Sie hatte natürlich schon längst gefrühstückt.

»Deine Mum ist echt die Beste«, sagte Ellen und nippte an dem milchschaumgekrönten Cappuccino aus frischgemahlenen Bohnen. Wenn es um Kaffee ging, machte Romina Russo keine Kompromisse bei der Qualität. Ellens Erfahrung nach galt das für alles, was aus ihrer Küche kam. Ein Wunder, dass Ricco unter diesen Umständen ein so schlanker Junge geblieben war.

Ricco nickte stumm. Er hatte den Mund voll und verfolgte außerdem gerade die Nachrichten auf TNT TV über den kleinen Holoschirm im Küchenregal. Der Ton war ausgeschaltet, was nicht schlimm war: Es ging um den Mord auf der South Bridge. Sie hatten bereits morgens im Bett auf ihren HoloComs die Schlagzeilen gelesen und erste Bilder gesehen. Der Killercyborg trieb weiter sein Unwesen, Weihnachten hin oder her.

Ricco spülte den Toastbissen mit Cappuccino herunter und sagte: »Ich hab die Adresse überprüft. Von dem Professor. Es gibt tatsächlich eine Autowerkstatt da, direkt nebenan. Er ist es. Der Professor ist der Killercyborg.«

Ellen schloss für einen Moment die Augen. »Ich hab’s befürchtet. Ich hoffe nur, mein Dad hängt da nicht mit drin!«

»Und wenn du ihn nachher einfach mal offen darauf ansprichst?«

»Ach … Er würde mir nur wieder ausweichen. Er wollte ja schon die ganze Zeit nicht darüber reden. Er sagt, er dürfe es nicht – wegen der laufenden Ermittlungen.«

»Blödsinn!«

»Natürlich. Er hat nur Angst, mir irgendwelche Details zu erzählen. Fürchtet vermutlich, ich würde meine Nase dann in Dinge stecken, die mich nichts angehen.«

Ricco lachte. »Könnte dir nie passieren, was?«

Ellen lächelte. »Er kennt mich halt zu gut.«

Plötzlich rutschten ihre Mundwinkel herab. Auf dem Holoschirm erschien ein neuer Beitrag. Zu sehen war … ihr Elternhaus!

Die Front zur Straße war ramponiert, die Haustür eingeschlagen, die Fensterscheiben zerdeppert. Polizeiabsperrband grenzte Schaulustige aus. Ein Streifenwagen mit Blaulicht parkte auf dem Bürgersteig. »Mach den Ton an!«, stieß sie hervor. »Das ist unser Haus!«

Ungläubig schnappte Ricco sich die Fernbedienung.

Im selben Augenblick klingelte Ellens HoloCom. Ihr Blick fiel auf das Display. Es war ihr Vater. Sie nahm das Gespräch an und wedelte mit der freien Hand Ricco zu, damit er den Ton leiser stellte. »Ja, Daddy?« Sie konnte die Panik in ihrer Stimme nicht unterdrücken.

»Elli? Bei uns ist eingebrochen worden.« Dads Stimme klang düster, aber gefasst.

»Das gibt’s doch nicht! Geht’s dir gut?«

»Ja, ja. Ich war nicht zuhause, als es passiert ist.«

»Sie bringen es gerade auf TNT TV«, sagte Ellen. »Was bitte war das für ein Einbrecher, der dabei alles kurz und klein schlägt?«

Dad seufzte schwer. »Es war Howard. Howard Doyle, mein Bastlerfreund. Er ist … Er ist der Killercyborg. Er hat Mist gebaut beim Schrauben. Es war ein schrecklicher Unfall, da bin ich sicher. Biotechnische Implantate. Er hat mit dem Outdoor Pro herumexperimentiert, dem gleichen Modell, was ich auch habe, aber … anders. Howard hat das Ding ausgeschlachtet und daraus Arme zum Selbertragen gemacht. Ich war da, am Sonntag, kurz, nachdem es passiert ist. Ich hab die Protokolle der Prozedur im Computer gesehen. Dabei ist mächtig was schief gelaufen. Jetzt ist er nicht mehr er selbst.«

Ricco hatte sein Ohr nah an Ellens Kopf gebracht, um mitzuhören. Er war blass geworden, trotz seines sizilianischen Teints.

»Wie furchtbar!«, entfuhr es Ellen.

»Ja. Es ist schlimm«, fuhr ihr Dad fort. Howard muss vollkommen den Verstand verloren haben. Der Howard, den ich kenne, würde keiner Fliege etwas zuleide tun.« Erneut kurze Stille. »Jetzt ist er ein Mörder.«

»Oh, Daddy! Das tut mir so leid! Was, wenn du zuhause gewesen wärst?!«

»Keine Ahnung. Ich weiß nicht, ob Howard mich erkannt hätte. Und wenn, ob es einen Unterschied gemacht hätte. Er … er wollte meine Microbots. Er wusste, dass ich auch einen Outdoor Pro habe. Jetzt sind die Microbots weg. Und nur die. Das allein ist der Grund für seinen Einbruch gewesen. Dass er dabei so drastisch vorgegangen ist, zeigt, wie von Sinnen er sein muss. Er hat … er hat seine selbstgebauten Implantate mehr oder weniger direkt mit seinem Gehirn verbunden.«

Ellen und Ricco tauschten einen langen Blick. Ricco schüttelte fassungslos den Kopf.

»Ich komm nach Hause«, sagte Ellen.

»Nein, Elli«, wehrte Marc ab. »Das macht gar keinen Sinn. Ich bin froh, dass du das Chaos hier nicht live sehen musst. Die Polizei ist vorhin erst fertig geworden. Ich dichte jetzt notdürftig die kaputten Fenster und die Tür ab. Bleib du mal bei Ricardo, wenn es Misses Russo erlaubt. Wenn deine Mum nachher kommt, soll sie erst mal Gelegenheit haben, den Schock zu verdauen. Lass uns dann später am Tag noch mal telefonieren, wie wir Weihnachten unter diesen Umständen verbringen wollen.«

»Aber … Gut, Dad. Wenn du es sagst. Brauchst du denn keine Hilfe beim Aufräumen?«

»Nein, Elli. Macht euch mal einen schönen Weihnachtstag. Ich regele das hier schon. Ich ruf dich später noch mal an, okay?«

»Okay. Ich hab dich lieb, Daddy.«

»Ich hab dich auch lieb, mein Engel.«

Ihr Vater legte auf.

Ellen ließ den HoloCom sinken und sah Ricco an. Ihre Augen führten Hochwasser. Ricco kam um den Tisch herum und drückte sie an sich, ohne etwas zu sagen.

Ellen schluchzte los. Sie konnte es nicht verhindern. »Dad hätte tot sein können!«

Ricco hielt sie nur fest und schwieg.

Misses Russo kam herein, sah das Ende des Berichts und schlug eine Hand vor den Mund. »Mutter Maria!« Sie sah Ellens Gesicht. »Um Himmels Willen! Was ist denn geschehen?!«

»Bei Seymors wurde eingebrochen«, sagte Ricco über die Schulter, ohne Ellen loszulassen.

»Nein! So ein Unglück!«

Die Gegenwart von Misses Russo half Ellen, sich zusammenzureißen. Sie löste sich aus der Umarmung und wischte sich die Augen. Weder sie noch Ricco erwähnten den Killercyborg.

»Liebes, soll ich dich nach Hause fahren?«, erkundigte sich Romina.

Ellen räusperte sich, um ihre Stimme in den Griff zu kriegen. »Danke, Misses Russo, aber nein. Mein Vater möchte erst mal etwas Ordnung schaffen. Und mit meiner Mutter alleine sein, wenn sie heim kommt. Sie war die ganze Woche auf einer Fortbildung. Wenn ich … wenn ich vielleicht noch etwas hier bleiben dürfte?«

»Selbstverständlich. Und dein Vater? War der zuhause?«

»Der war auch unterwegs.«

»Ja, so arbeiten die!«, ereiferte sich Misses Russo. »Beobachten das Haus, bis sie sicher sein können, dass keiner zuhause ist, der sie bei ihrem schmutzigen Geschäft stört! Nun, also … Für deine Eltern war es natürlich besser so. Nicht auszudenken: Du wachst mitten in der Nacht auf, und plötzlich steht da ein Fremder neben deinem Bett! Mamma mia!« Sie nahm Ellen ebenfalls einmal fest in die Arme. Ellen ließ es geschehen. Romina war wirklich sehr nett, ihre Anteilnahme und die Nähe waren Ellen nicht unangenehm.

»Hör zu, Liebes. Du kannst es mir immer sagen, wenn ich etwas für dich tun kann.«

»Danke! Das ist ganz lieb von Ihnen!«

Sichtlich mitgenommen rauschte Misses Russo wieder aus dem Raum. Sie hörten, wie sie sich im Wohnzimmer schnäuzte.

Der Cappuccino war kalt geworden.

»Was möchtest du jetzt machen?«, fragte Ricco sanft. »Aufs Zimmer gehen? Oder lieber raus? Wir könnten eine Runde skaten. Vielleicht lenkt dich das ja ab von diesem Murks.«

Ellen zog die Nase hoch. Erst sträubte sie sich innerlich gegen den Vorschlag. Dann aber nickte sie. »Ja, gute Idee. Aber vorher geh ich mich noch mal frisch machen.«

Bestimmt sah sie hoffnungslos verheult aus.

Der Badezimmerspiegel bestätigte ihre Vermutung. Sie warf sich ein paar Hände kaltes Wasser ins Gesicht und hübschte sich mit etwas Make-up auf. Dann straffte sie sich. Sie war schließlich kein kleines Mädchen mehr.

In der Diele schnappten sie ihre Skateboards.

»Mum, wir sind mal unterwegs, okay?«, rief Ricco.

»Ist gut, tesoro mio. Die Bescherung verschieben wir einfach auf heute Abend. Lasst euch erst mal ein wenig die Sonne aufs Gesicht scheinen. Dann sieht alles gleich wieder freundlicher aus.«

»Danke, Mum.«

Die frische Luft tat Ellen gut.

»Skate Park?«, schlug Ricco vor.

»In Ordnung.«

Sie erwischten den autonomen Bus. Skylar Johnson, ihren Lehrer, bemerkten sie erst, als der die Zeitung umblätterte.

»Ellen! Ricardo! Fröhliche Weihnachten!«

»Frohe Weihnachten«, gaben Ellen und Ricco zurück.

Skylars freundlicher Blick blieb an Ellen hängen. »Ist alles okay bei Ihnen?«

Nicht zum ersten Mal ging Ellen durch den Kopf, dass Skylar feine Sinne hatte. Gut, sie saßen hier auch nah beieinander – dass ihre Augenpartie geschwollen war, konnte die Schminke auf diese kurze Distanz nicht ganz kaschieren.

»Alles okay«, antwortete Ricco schnell, der richtig vermutete, dass Ellen ihrem Lehrer gegenüber von dem Einbruch nichts erzählen wollte. Wenigstens nicht hier, in einem öffentlichen Verkehrsmittel, unter all den anderen Fahrgästen.

Skylar musterte Ellen noch zwei, drei Herzschläge zweifelnd. »Na, dann. Ihr feiert Weihnachten zusammen?«

»Ja«, antwortete Ricco ausweichend. »Jetzt gehen wir aber erst mal skaten. Und Sie?«

»Ich bin auf dem Weg nach Hause«, erklärte Sky und hob eine Hand mit zwei Einkaufstüten. »Ich war Last-minute-Geschenke besorgen.«

Ellen besah die beiden identischen Tüten. ›Oxxs Garage‹ stand auf ihnen. Ein Computerfachgeschäft. Sie kannte den Laden von Ricco, es war eine echte Nerdbude, etwas für Experten. Dort gab es keine Rechner von der Stange, nur Bauteile zum selber Zusammenschrauben.

Riccos Miene drückte Respekt und Interesse aus.

Ellen dachte: Platinen, Festplatten … Wem schenkt man denn bitteschön so was?

Dann wurde ihr bewusst, dass ihr eigener Freund sich durchaus sehr über derlei Kram freuen würde. Ihr fehlte nur die Fachkenntnis, ihm gezielt zu kaufen, was er brauchte. Dennoch blieb ein Gefühl der Irritation bei ihr zurück. Etwas stimmte nicht an Skylars Aussage.

»Feiern Sie in Soontown?«, erkundigte sie sich höflich. »Oder besuchen Sie auswärts Ihre Familie?«

»Ich feiere zuhause ein bisschen«, sagte Sky. »Zusammen mit meinem Untermieter. Vielleicht gehen wir später noch zu den Markthallen. Dann schauen wir uns die Santa-Claus-Projektion an und trinken einen Eierpunsch unter dem größten Weihnachtsbaum der Welt.« Er lachte mit gutgelaunten Spott. »Da kann man heute Abend ja die halbe Stadt treffen.«

»Das stimmt wohl«, sagte Ricco grinsend. »Gute Idee eigentlich.« Er sah Ellen an. »Könnten wir später auch noch machen.«

»Mal sehen«, sagte Ellen unverbindlich. Jetzt war sie sich sicher: Etwas stimmte nicht mit dem Lehrer, obwohl der sich ganz normal verhielt. Vielleicht war es auch nur ihre Verwunderung darüber, Skylar in so kurzer Zeit zweimal zufällig zu treffen.

Skylar Johnson mit den Alienaugen ...

An der nächsten Haltestelle stand der Lehrer auf. »Also, dann feiern Sie mal schön!« Er tippte sich an seinen steifen Hut und stieg aus.

Draußen wechselte er eine Tüte in die linke Hand, sodass er nun in beiden Händen eine Tragetasche hielt – so wie sonst, in der Schule, seine beiden Kunstlederaktenkoffer. Perfekt ausbalanciert.

Etwas später passierten sie die ersten Hochhäuser von Downtown. Die Buslinie fuhr über die First Avenue. An der Stelle, wo die Explosion stattgefunden hatte, war die Häuserfront rund um das Appartement nach wie vor geschwärzt. Das notdürftig verkleidete Loch in der Wand wirkte wie ein Pflaster auf der Fassade.

Gegenüber war Mortons Snack Corner zur Straße hin mit Kartons und Sperrholzplatten abgedichtet. Morton hatte die Reparatur so kurz vor Weihnachten nicht mehr über die Bühne bringen können. Das Ladenlokal sah geschlossen aus. Auch der Schnellrestaurantbesitzer gönnte sich über die Weihnachtsfeiertage eine Auszeit.

Wie sie und Mum und Dad wohl die Weihnachtsfeiertage verbringen würden? Ob sie überhaupt feiern würden? Ellen war nicht im Mindesten in der Stimmung dazu. Sie wusste ja noch gar nicht, wie schlimm es zuhause nach dem Einbruch wirklich aussah, kannte nur die Außenaufnahmen aus dem lokalen Feed. Und die waren richtig übel gewesen.

Als hätte er ihre trüben Gedanken gespürt, legte Ricco einen Arm um sie. Das half.

Sie war so glücklich gewesen heute morgen. Und jetzt so etwas! Wenigstens war Dad nichts zugestoßen.

Ihr Kopf sank an Riccos Schulter. Ellen schloss die Augen.

Alles wird wieder gut!

Sie atmete ein paar Mal ruhig durch. Versuchte, alle Gedanken los und alle Sorgen ziehen zu lassen.

Und plötzlich war es da, kristallklar in ihrer Erinnerung: wie sie gestern mit Skylar in dem Café in der Mall gesessen hatte. Wie sie sich unterhalten hatten. ›Haben Sie schon alle Weihnachtsgeschenke?‹ hatte sie ihn gefragt. ›Gewiss doch‹ hatte er geantwortet. ›Ich bin nur hergekommen, um mich ein wenig treiben zu lassen.‹

Von wegen Last-minute-Geschenke! Das in Skylars Tüten vorhin, das waren keine Geschenke gewesen! Er hatte sie angelogen. Aber warum? Was versuchte Skylar Johnson zu verbergen? Es war ja nicht verboten, bei Oxxs Computerkrempel zu kaufen und zuhause zusammenzusetzen.

Sie erwog, Ricco in ihre Gedanken über ihren Lehrer einzuweihen, entschied sich aber erst einmal dagegen. Was hatte sie schon zu berichten, außer einem schlechten Traum, vagen Mutmaßungen und einer einzigen, unstimmigen Aussage? Ricco würde ihre Bedenken zu Recht abtun.

»Downtown – Shepherds Cross«, flötete die Bandansage aus den Boxen.

Das war ihre Zielhaltestelle.

Ricco lächelte ihr aufmunternd zu. Ellens eigenes Lächeln wollte ihr nicht recht gelingen. Vielleicht würde es helfen, wenn sie gleich erst einmal auf vier Rollen stand. Der Morgen war eine Achterbahn der Gefühle für sie gewesen. Da war Skaten nicht das Schlechteste, um sich zu sammeln. Dabei musste man schließlich konsequent nach vorne schauen.