24.

»Fröhliche Weihnachten, Ricco.«

»Fröhliche Weihnachten, Elli.«

»Fröhliche Weihnachten, ihr Lieben!« Misses Russo drückte Ricco an sich und küsste und herzte ihn ausgiebig. Ricco ließ es über sich ergehen.

Ellen dachte: O-oh. Danach komm ich an die Reihe.

Als Romina Russo sie nahezu ebenso intensiv knuddelte, geschah das so selbstverständlich, dass Ellen keine Einwände erhob und die Geste zwanglos erwiderte.

Im Rücken seiner Mutter warf Ricco Ellen grinsend einen Jetzt-weißt-du-mal-wie-das-ist-Blick zu.

»Hier, Ricco-Schatz, die Geschenke da rechts unterm Baum, die sind für dich. Und die links, die sind für dich Ellen, Liebes.«

Ellen mochte ihren Augen nicht trauen. Auf der linken Seite lagen fast ebenso viele bunt und glitzernd eingepackte Gaben wie auf der rechten. Wann um alles in der Welt hatte Misses Russo es geschafft, noch Geschenke für sie zu besorgen? Dass Ellen ungeplant den ersten Weihnachtsfeiertag bei den Russos verbringen würde, hatte Ricco seiner Mama doch erst vor drei Stunden über den HoloCom geschrieben, nachdem Ellen mit ihrem Vater telefoniert hatte. Und doch stapelten sich da jetzt Geschenke, als wäre Romina für sie ebenso sorgfältig auf Gabentischjagd gewesen wie für ihren leiblichen Sohn. Unglaublich! Misses Russo musste heute Nachmittag noch einmal spontan losgezogen sein. Alles, was Ellen ihrerseits für Romina hatte, waren ein paar Blumen von der Tankstelle. Misses Russo hatte sich so erfrischend über den Strauß gefreut, dass Ellen selbst jetzt, mit Blick auf den für sie gedachten Geschenkehaufen, kein schlechtes Gewissen bekam.

Rominas Vorbereitungen für das Festessen schienen unter ihrem kurzfristigen Einkaufstrip nicht gelitten zu haben: In der Küche wartete ein abwechslungsreiches Buffet frisch zubereiteter italienischer Spezialitäten auf sie, an dem spielend zehn Leute satt geworden wären.

»Misses Russo, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …«, begann Ellen, beide Hände an den Wangen.

»Du brauchst gar nichts sagen, Liebes. Du kannst sie einfach nur auspacken.«

Ricco war schon dabei. »Hey – eine neue Schirmmütze!«

»Die trägst du doch immer beim Drohnefliegen, mein Schatz.«

»Cool! Danke, Mum! Und was ist das?«

»Na, schau doch mal rein.«

»Meine Lieblingscookies! Die XXL-Dose! Lecker! Dankeschön!«

Ricco stellte das eimergroße Gebinde zur Seite und befühlte das nächste Päckchen. »Uh … Was Weiches.« Er riss das Papier auf, deutlich weniger enthusiastisch als die Male davor. »Ein neuer Trainingsanzug. Willst du mir damit was sagen, Mum?«

Misses Russo lachte. »Von Nike. Die magst du doch, oder?«

»Hmja. Mag ich.«

Jetzt musste auch Ellen lachen. Sie packte ihr erstes Geschenk aus. Darin lag ein Netz mit einem kompletten Protektoren-Set fürs Skaten oder Bladen: Hand-, Ellbogen- und Knieschoner. »Wow, Misses Russo, das ist aber wirklich ganz lieb von ihnen!«

Trotz der Kurzfristigkeit hatte Romina nicht einfach irgendetwas gekauft. Sie hatte sich richtig Gedanken gemacht.

»Ui. Neue Sportsocken«, meldete Ricco mit langem Gesicht.

Auf der anderen Seite des Weihnachtsbaums saß Ellen mit großen Augen. »Meine Lieblings-Pflegecreme! Woher wussten Sie …?«

»Ach, das war leicht, Liebes. Ich hab sie heute Morgen im Bad in deinem Kulturbeutel gesehen.«

»Schweißbänder. Mum! Ich spiel doch kein Tennis oder so!«

»Die kann man auch beim Joggen gut brauchen«, sagte Misses Russo milde.

»Neue Haargummis! Mit passenden Spangen! Die sind aber wirklich schön! Die werd ich sicher viel tragen.«

Misses Russo strahlte Ellen an. »Benutz doch gleich mal eins. Ich dachte mir, die Farbe passt gut zu deinen Augen.«

Ellen löste ihr Haar, fasste es zu einem neuen Pferdeschwanz zusammen, fixierte es mit einem der geschenkten Gummis und klippste noch zwei Spangen dazu. »Ricco, was meinst du?«

»Sieht streng aus. So ordentlich.«

Die Frauen lachten wieder.

»Charmant geht anders, mein Sohn!«

Etwas später türmte sich zerrissenes Geschenkpapier rings um den Baum. Die Lichter zwischen den Zweigen spiegelten sich in den Christbaumkugeln, dazu dudelte kitschige italienische Weihnachtsmusik. Für einen Moment hatte Ellen sogar den Einbruch zuhause vergessen und ihre Traurigkeit darüber, den Tag heute ohne ihre Eltern zu verbringen.

Als sie Misses Russo von der Anfrage ihrer Eltern erzählt hatte, war Romina gleich einverstanden gewesen. »Natürlich kannst du mit uns feiern, mein Kind! Und wenn er möchte, kann dein Vater gerne später noch dazukommen, sobald er genug aufgeräumt hat. Immerhin ist ja Weihnachten. Aber ich verstehe natürlich, dass er erst mal Ordnung bei euch schaffen will. Wie furchtbar! Und was für ein Glück, dass keiner von euch daheim war, als dieser Cyborg kam! Madre mia!«

Nach der Bescherung wechselten sie ans Buffet. Kurz darauf kam noch eine Freundin von Misses Russo und etwas später auch noch Riccos Onkel. Beide waren sehr nett. Es gab Prosecco und zum Nachtisch Panna cotta mit einem Espresso, der Ellen die Schuhe auszog. Das mit italienischem Akzent gefärbte Englisch der Erwachsenen klang warm und melodisch in den Ohren. Riccos Onkel konnte wunderbar Witze erzählen, über die selbst Ricco schallend lachen musste, obwohl er Ellen in einer stillen Minute anvertraute, dass er die alle schon in- und auswendig kannte.

Nachdem sie alleine in der Küche beim Buffet einen verstohlenen Kuss getauscht hatten, fragte Ricco: »Wollen wir noch mal los? Einen Eierpunsch bei den Markthallen trinken?«

Es war erst kurz nach zwanzig Uhr.

»Von mir aus gerne«, sagte Ellen. »Aber was ist mit deiner Mutter?«

»Ach, die ist in guter Gesellschaft. Die drei feiern hier noch, wenn wir wieder zurück sind, das glaub mal. Das kenn ich schon aus den letzten Jahren.«

»Na, dann …«

Zurück im Wohnzimmer informierte Ricco die Runde: »Wir gehen noch mal raus. Auf einen Absacker, zu den Markthallen.«

»Ist recht, mein Schatz.« Misses Russo hob ihr Glas und prostete ihnen zu. »Wir passen hier so lange auf den Wein auf.«

»Begleiten wir die beiden doch«, schlug Riccos Onkel im Scherz vor, »und stören sie ein wenig beim Knutschen.« Er hatte in kurzer Zeit viel Prosecco und Primitivo getrunken.

Ellen wurde rot.

»Dich können wir heute nicht mehr guten Gewissens unter Leute lassen«, wies Rominas Freundin ihn zurecht.

Romina selbst schenkte ihnen zum Abschied ein strahlendes Lächeln. »Viel Spaß, ihr Lieben! Vor Mitternacht seid ihr aber wieder hier, ja? Sonst krieg ich noch Ärger mit Ellens Eltern. Immerhin läuft da draußen ja auch noch dieser Cyborg frei herum.«

»Ja, Mum. Wir passen schon auf.«

»Versprochen, Misses Russo. Ganz lieben Dank! Es war wunderbar bei Ihnen!«

»Du bist ein Engel, Kind.«

Die Nacht war mild, leichte Jacken reichten. Ellen und Ricco klemmten sich die Skateboards unter den Arm und nahmen die öffentliche Linie in Richtung Downtown.

Als sie den autonomen Bus betraten, musste Ellen wieder an die Attacke des Killercyborgs denken. An die Bilder des zerstörten Wagens, die die ganze Woche über durch die Feeds geflimmert waren. Jetzt sah es bei ihr zuhause vermutlich ganz ähnlich aus. Wenn ihre Eltern sogar Weihnachten ausfallen ließen und Mum eine spontane Extraschicht im Tower schob, um dabei zu helfen, diesen Kerl dingfest zu machen … Trotz Dads Beteuerungen, dass es ihm lieber wäre, wenn sie heute bei Russos blieb, machte Ellen sich insgeheim Vorwürfe, ihren Vater mit dem Schaden alleine zu lassen.

Ricco legte einen Arm um sie und streichelte ihre Schulter.

Morgen würde sie mit ihren Eltern weiterfeiern, ganz egal, wie es bei ihnen daheim aussah. Sie konnten einen ausgedehnten Festtagsspaziergang machen und später zum Essen einfach in ein Restaurant gehen. Das Wichtigste war doch, dass gestern Nacht niemand von ihnen zu Schaden gekommen war, da war sie ganz Misses Russos Meinung.

Riccos Linke strich ihr über das Haar.

Sie schloss die Augen.

Sie würde sich diese Weihnachten nicht komplett von einem mörderischen Irren verderben lassen.

* * *

Hui-Chen Tinkerman sah auf die Uhr. Erst Viertel nach Sieben. Noch eine geschlagene Dreiviertelstunde, bis der Babysitter kommen würde.

»Kevin, lass deine Schwester in Ruhe!« Sue Tinkerman wechselte zu der Sofaecke hinüber, wo Huis Sohn gerade mit seinen neuen Actionfiguren seine drei Jahre jüngere Schwester angriff. Links schwang Huis Filius einen Space-Trooper mit überdimensionalem Lasergewehr, rechts einen Killerroboter mit roten Augen und Scherenhänden, die zukneifen konnten, wenn man am Sockel der Figur einen Knopf drückte.

Nach den Vorfällen mit dem Cyborg in Soontown hatte Sue den Roboter als Geschenk ausrangieren wollen. Hui hatte das unterbunden. Tinkerman Junior beschwerte sich auch so schon immer zu Weihnachten und an seinem Geburtstag darüber, zu wenige Geschenke zu bekommen. Und die falschen. Martialische Actionfiguren aber, mit denen er seine Schwester piesacken konnte – die gingen immer. Dämliche Idee, ihm die kurz vor dem Fest wieder wegnehmen zu wollen! Erwartungsgemäß waren die zwei Figuren Kevins Lieblingsausbeute unter dem Baum gewesen. Und Gezänk hätte es zwischen den beiden Geschwistern ohnehin gegeben. Sue konnte sich ja darum kümmern, und später dann der Babysitter.

Hui nippte an dem teuren Roten. Er würde drei Kreuze schlagen, wenn er mit seiner Frau erst im Wagen saß und sie sich als Paar eine wohlverdiente Auszeit von dem Rummel zuhause gönnen konnten. Ihr Babysitter, eine pickelige Fünfzehnjährige, nahm heute das Doppelte pro Stunde. Eine Unverschämtheit, aber jemand anderen hatten sie für den ersten Weihnachtstag nicht gefunden. Er und Sue brauchten über die Feiertage dringend etwas Zeit füreinander, ohne die Kids an ihren Rockschößen baumeln zu haben.

Es lief nicht gut in ihrer Ehe. Huis Rausschmiss bei Biohead belastete sie beide. Hui, weil er sich um die Früchte seines jahrelangen überdurchschnittlichen Einsatzes dort betrogen sah und Sue, weil Hui ihr Tageslimit für die Partner-Kreditkarte heruntergesetzt hatte. Den Geldentzug hatte sie prompt mit Sexentzug beantwortet – eine Abwärtsspirale, die gar nicht so leicht zu durchbrechen war, sobald sie einmal ihren Lauf genommen hatte. Jetzt verging kaum noch ein Tag ohne Sticheleien und wechselseitige Verletzungen.

Für heute hatte Hui sich fest vorgenommen, Sue mit dem Ölzweig zu winken. Ein bisschen Draußenluft schnuppern. Zweisamkeit, auf neutralem Boden, in weihnachtlicher Atmosphäre. Seit er arbeitslos war, hockten sie zuhause einfach zu viel aufeinander. Sue hatte ja keinen Job, außer der Kinderbetreuung. Der Familienernährer war er allein. Nur, dass der Ernährer seit dem Herbst kein Geld mehr verdiente und Hui bislang kaum Dampf hinter die Stellensuche gebracht hatte.

Er war gut in dem was er tat: synthetische Blutgefäße züchten. Sehr gut sogar. Doch die Ereignisse im Herbst und sein unehrenhaftes Ausscheiden bei Biohead hatten ihn demotiviert. Und als Bewerber hatte er Ansprüche, sowohl was das Gehalt als auch was die weichen Lohnfaktoren betraf. Was die Sache zusätzlich erschwerte war, dass Biohead das Scheitern von Projekt Adam 2.0 offiziell ihm in die Schuhe geschoben hatte. Das schreckte potenzielle neue Arbeitgeber natürlich ab. Jetzt war er schon ein Vierteljahr Doktor Arbeitslos, und mit jedem verstreichenden Monat wurden seine Einstellungschancen schlechter, das Stigma der Untätigkeit im Lebenslauf größer.

»Kevin! Es reicht! Ich nehm dir den Roboter weg!«

Kevin versteckte sich hinter dem Weihnachtsbaum, der bedenklich schwankte. Ein Schauer von Nadeln rieselte auf die ausgepackten Geschenke herab. Hui hatte die Tanne im Angebot gekauft, sie war bereits im Markt nicht mehr ganz frisch gewesen. Die Wärme des heimischen Wohnzimmers hatte ein Übriges getan. Sue fegte jeden Tag zweimal die Nadeln auf und bedachte ihren Mann dabei mit spitzen Bemerkungen bezüglich seiner Wahl. So war das, wenn man zu all dem Verdruss dann auch noch aufs Geld achten musste. Die kleinen Ärgernisse des Alltags nahmen zu. Und klein und klein addierten sich zu groß, auch und vor allem in einer Liebesbeziehung, das war Hui in den vergangenen Wochen nur allzu klar geworden.

Er sah auf die Uhr. Zwanzig nach sieben. Zäh tröpfelte die Zeit dahin. Da half nur noch ein Glas von dem guten Roten. Wenigstens hatte er beizeiten für einen wohlsortierten Weinschrank gesorgt. Mittlerweile würde er die Dollars für so einen Edeltropfen sicher nicht mehr in die Hand nehmen.

Angela, ihre sechsjährige Tochter, heulte jetzt und zeigte auf einen imaginären roten Fleck auf ihrem Unterarm, wo Kevins Killerroboter sie angeblich gekniffen hatte. Hui sah dort gar nichts, jedenfalls nicht aus der Entfernung. Ange kam jetzt schon ganz nach ihrer Mutter: reizbar, launisch und eher mäßig selbstständig. Hui fehlten die stillen Tage im Labor. Derzeit bekam er jeden kleinen Streit unter den Geschwistern oder zwischen den Kindern und Sue mit, selbst dann noch, wenn er in seinem Home Office die Musik aufdrehte.

Apropos …

»Eva, mach die Mucke lauter!«, sagte er über das Geschrei hinweg. Das smarte Soundsystem der Tinkermans war in seinen Schlüsselworten programmierbar und schluckte auch umgangssprachliche Wendungen.

»Ich krieg dich noch! Ich kriege dich!«, drohte Kevin seiner Schwester hinter dem Weihnachtsbaum und ließ den Killerroboter am vorgestreckten Arm mit den Scheren klicken. Ange jaulte hingebungsvoll.

»Kevin, komm sofort da raus!«, forderte Sue, deren Stimme sich der Tonlage ihrer Tochter näherte.

Der Baum wackelte und nadelte noch ein bisschen.

»O Tannenbaum, o Tannenbaum«, schmetterte es aus den Boxen. »Wie grün sind deine Blätter!«

Hui stand auf und ging hinaus in den Garten, das Weinglas in der Hand. Die Tür zur Veranda schloss er hinter sich. Sue schickte ihm einen vernichtenden Blick nach. Gedämpft von der Dreifachverglasung, hielten sich die Weihnachtsmusik und das Geschrei seiner Familie die Waage.

So! Besser!

Er schlürfte genüsslich noch etwas Wein. Schlürfen durfte er nur, wenn seine Frau nicht dabei war. Sue hasste es, wenn er schlürfte. Er sah durch das Glasdach zu den Sternen hoch. Sie waren etwas düster, da er den Gärtner aus Kostengründen im Herbst abbestellt hatte und das Dach mangels Reinigung langsam Moos ansetzte. Wohin er auch blickte, seine klamme Situation sprang ihm überall ins Auge. Trotzdem reiste er in Gedanken in den Nachthimmel hinauf – fort von den Niederungen seines häuslichen Alltags. Fort von allem …

Er zuckte zusammen, als Sue gegen die Scheibe bollerte. Sie winkte ihm wütend, er möge wieder hereinkommen. Der Weihnachtsbaum war umgefallen. Huis Ausflug zu den Sternen war schon wieder beendet. Bruchlandung zurück auf die Erde.

Drinnen packte er Kevin grob am Arm und verfrachtete ihn die Treppe hoch und in sein Zimmer. Als er nach unten kam, saß Sue mit Ange auf dem Schoß auf der Couch und summte das aktuelle Weihnachtslied mit. Die Lautstärke hatte sie heruntergeregelt. Ange weinte nur noch ein bisschen. Dafür drang jetzt Kevins Gebrüll durch die Decke. In seinem Zimmer polterte irgendetwas Schweres zu Boden. Tobsuchtsanfall. Kollateralschäden vorprogrammiert.

Hui stellte sein Glas ab und richtete den Baum wieder auf. »Kannst du mal halten?«, fuhr er Sue an und schüttelte unwirsch die Tanne. Zu spät erkannte er seinen Fehler. Dann wiederum: Ein paar Nadeln mehr oder weniger auf dem Parkett waren jetzt auch egal. »Das dämliche Ding ist unten aus der Fassung gerutscht!«

»Es geht doch nichts über einen Mann im Haus!«, spottete Sue, schob Ange aber auf die Seite und kam seiner Aufforderung nach.

Hui ließ sich auf die Knie nieder und fummelte an dem abgesägten Ende des Stammes herum, versuchte, den harzigen Holzstumpf wieder in die Halterung einzuspannen. »Kipp mal nach links!«, schnauzte er.

Sue ruckelte an dem Baum.

Hui spürte, wie die Nadeln ihm auf die Haare fielen. »Zu weit! Zurück nach rechts!«

Sue ruckelte wieder. Huis Zeigefinger geriet zwischen den Stamm und einen der Klemmhaken des Standfußes. »Aua! Verdammte Scheiße!« Er schlüpfte unter den Zweigen hervor, sank auf seinen Hintern und saugte an dem gequetschten Finger. »Feiffe!«

Sue lachte und hielt sich rasch eine Hand vor den Mund.

»Ach, das findest du lustig, ja?!«, schrie Hui, kam auf Beine und stürmte ins Gäste-WC, wo er seinen Finger im Licht des Spiegelschranks betrachtete. Unter dem Nagel wurde es blau.

Eine Weile ließ er kaltes Wasser über die gequetschte Stelle laufen. »Blöder Mist!« Oben war Kevin nach wie vor dabei, sein Zimmer zu verwüsten. Ange hatte wieder zu heulen angefangen.

Hui drehte den Hahn zu und tupfte vorsichtig den verletzten Finger ab. Dann sah er sich im Spiegel selbst in die Augen.

»Hui?!«, rief Sue durch den Flur. »Sag mal, was glaubst du eigentlich, wie lange ich den Baum hier noch festhalte?!«

Er schaute auf die Uhr. Fünf nach halb acht.

Warum nur?

Er sah wieder sein Spiegelbild an.

Warum haben wir den Babysitter erst so spät bestellt?

* * *

Santa Claus trieb mit dem Gesicht nach unten im Kanal. Der Professor hatte ihn an der charakteristischen Kleidung erkannt: rot-weiß, mit Zipfelmütze. Es war nur eine Dekopuppe – eines von den Dingern, die die Leute sich in der Weihnachtszeit außen an den Kamin oder an die Hauswand hängten. Jemand hatte sie weggeworfen oder eine Windbö hatte sie mitgerissen und dem Kanal übergeben. Auf den ersten Blick wirkte sie dennoch wie eine Wasserleiche.

Die Straßenbeleuchtung auf der anderen Seite des Kanals spiegelte sich auf der schwarzen Oberfläche. Mit etwas Fantasie konnte man den Widerschein der Laternen auf dem Wasser für eine festliche Lichterkette halten. Zuhause hatte Howard so eine Lichterkette im Schrank. Heute, am ersten Weihnachtstag, hätte er sie herausgekramt und um die Gardinenstange seines Wohnzimmerfenster gewunden. Er hätte Ambiente gemacht. Hätte die Heizung höher gedreht, ein paar Dosen kühles Bier getrunken, dazu Tiefkühlpizza und das Weihnachtsprogramm im Fernsehen … Perfekt.

In diesem Jahr würde daraus nichts werden. Er konnte nicht nach Hause zurück. Die Cops warteten nur darauf, dass er dort auftauchte. Sie waren hinter ihm her. Sie lauerten an jeder Ecke.

Sein Blick verlor sich in der Ferne. Hinter den Straßenlaternen ragten die Hochhäuser von Downtown über den umliegenden Vierteln in den Abendhimmel. An manchen der Wolkenkratzer war eigens eine Weihnachtsbeleuchtung angebracht worden – weiße, rote oder grüne Strahler. Schön sah das aus. Anheimelnd. Und unerreichbar. Die Domäne der Menschen war für Howard zur verbotenen Zone geworden.

Bin ich denn kein Mensch?

Seine Finger verirrten sich in die Pappschachtel, drückten eine Kautablette aus dem Plastikstreifen und schoben sie in den Mund. Dabei drehte er seinen Unterarm so, dass er sich mit dem Titanium-Implantat nicht gegen den Kopf schlug.

Er kaute. War es Ibuprofen? Paracetamol? Wahrscheinlich eher Acetylsalicylsäure. War im Grunde ja auch egal. Irgendetwas gegen die Schmerzen halt. Das Morphium war ihm ausgegangen und diese Pillen, die er sich in einer Apotheke besorgt hatte, waren kein gleichwertiger Ersatz. Die Apotheke war geschlossen gewesen, seine Cyberarme hatten ihm aber problemlos Zutritt verschafft. Als Einbrecher hatte ihm gleichwohl die Muße gefehlt, die deckenhohen Schrankwände mit den unzähligen Schubladen nach Morphium zu durchwühlen. Auch wäre er feinmotorisch gar nicht mehr in der Lage, sich selbst zu spritzen, dafür zitterten seine Finger mittlerweile zu stark. Also kaute er diese Tabletten, ohne sie zu zählen.

Die Gegend hier war abgelegen, ein Industriegebiet. Ab und zu folgte ein Auto der Straße jenseits des Kanals. Der Professor saß im Schatten einer Fertigungs- oder Lagerhalle und kümmerte sich nicht darum. Er war hier nahezu unsichtbar, verschmolzen mit der Dunkelheit, während ganz Soontown heute im Glanz der Lichter Weihnachten feiern würde.

Langsam legte er sich die Greifschere seines rechten Titaniumarms um den Hals und sagte: »Schnipp, schnapp, Rübe ab.«

Rings um ihn ruhte der Schwarm der Microbots im Schmutz des Kanalufers. Santa Claus war immer noch da. Die Strömung war träge.

»Fröhliche Weihnachten, Howard!«, murmelte er.

Solche Selbstgespräche waren für ihn zur Normalität geworden. So war es wohl, wenn man tagelang halb irre vor Schmerzen ohne Gesellschaft umherirrte und es sich bei jedem, dem man begegnete, um einen Spion oder Agenten handelte, der einem an den Kragen wollte.

Er war nicht länger Howard Doyle. Nicht einmal mehr der Professor. Er war nur noch der ›Killercyborg‹. So nannten sie ihn in den Newsfeeds. Netter Spitzname, wirklich! Sehr nett!

In den Wohnzimmern der Stadt saßen sie jetzt am Christbaum, packten Geschenke aus, knabberten Leckereien und verbrachten den Abend in gemütlicher Geselligkeit. Er dagegen saß im Schatten einer Werkshalle, starrte auf den treibenden Weihnachtsmann und hoffte, seine Schmerzen zu verdrängen, nur für einen Augenblick.

Sein Kopf fühlte sich heiß an. Seine ganze Nacken-Schulter-Partie war steinhart, jede Bewegung tat ihm weh. Das Gewicht der beiden in seine Unterarme eingepflanzten Titaniumausleger überlastete auf die Dauer seinen Stütz- und Bewegungsapparat. Das Ledergeschirr, das die enormen Zugkräfte verteilen sollte, wenn er seine Cyberarme schwang, hatte sich gedehnt, saß mittlerweile zu locker. Auf die Dauer war dieses Gurtzeug keine alltagstaugliche Lösung. Beim nächsten Mal müsste er das anders machen. Er müsste …

Howard unterbrach seinen inneren Tüftler, der selbst jetzt noch ab und zu an die Oberfläche kam. Es würde kein nächstes Mal geben. Es hätte überhaupt kein einziges Mal geben dürfen.

Sein sehnlichster, sein einziger Weihnachtswunsch war es, die Implantate wieder los zu sein. Alle drei – Arm links, Arm rechts und Kopf. Er wünschte sich, wieder schmerzfrei zu werden. Das war doch nicht zu viel verlangt, oder?

Gleichzeitig hatte er während der Dämmerzustände, die bei ihm an Stelle eines gesunden Schlafs getreten waren, wüste Allmachtträume. Er malte sich aus, wie er ganz Soontown mit seinen Cyberkräften unterwarf, wie Bürgermeister und Stadträte sich unter seiner Fuchtel duckten. Wie er all den Respekt und all die Ehren erfuhr, die ihm in seinem Leben verwehrt geblieben waren. Gesellschaftliche Anerkennung für seine Pionierleistungen beim Basteln, Schrauben und Programmieren – nicht nur aus der Szene, nein: von offizieller Seite. Lob für seine Experimente. Eine Medal of Honor. Die Titel-Headline in der nächsten Wochenendausgabe der Soontown Daily. Einladungen zu Bingo-Partys. Eine Pop-Tarts-Flatrate vom örtlichen Supermarkt für Howard Doyle, Soontowns Man of the Year.

Ächzend stützte er sich auf die Hände und veränderte seine Sitzposition. Sein Rücken verkrampfte sich vor Schmerz. Er spürte irgendetwas Schmieriges an seiner Rechten. Es roch nach Rattenmist. Gleichgültig rieb er die Hand an seinem Hosenbein ab. Er hatte ganz andere Sorgen als mangelnde Hygiene. Zum Beispiel die beiden Elektroden in seinen Schläfen, die sich mittlerweile anfühlten, als habe man ihm einen Baumstamm quer durch den Schädel gerammt. Oder der Umstand, dass er zu einem Monster unter Seinesgleichen geworden war. Zu einem Ausgestoßenen.

Wenn schon! Ich hab ja euch, meine Kinderchen.

Er murmelte ein Kommando und ein Teil des Schwarms begann, auf ihm herumzukrabbeln. Wenigstens wurde er jetzt berührt – wenn auch nur von etwas, nicht von jemandem.

Mit zwei Fingern drehte er einen der Miniroboter auf den Rücken und kitzelte die winzige Maschine am Bauch. »Ho, ho, ho! Hab ich dich, du kleiner Fratz! Das gefällt dir, was?«

Die sechs Beinchen des Microbots strampelten in der Luft. Der Professor hielt den Finger still, der Hightech-Käfer klammerte sich an die Kuppe und Howard stellte das künstliche Insekt zurück auf die Füße.

Etwas lief ihm das Gesicht herunter. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass es Tränen waren. Er war ein Geächteter. Ein Mörder. Eine Bestie. Er war allein. Er hatte niemanden. Für ihn würde es heute keine Geschenke geben. Die Kautabletten linderten seine physischen Qualen kaum. Und für seine Seele kam jede Rettung zu spät.

Er begann, monoton vor sich hin zu summen, wurde allmählich stimmhafter, bis er sich selbst ein Weihnachtslied vorsang:

»Stille Nacht, heilige Nacht!

Alles schläft, einsam wacht …«

Die Worte zitterten nicht, obwohl der Tränenstrom beständig floss und sein Kinn schon ganz nass war.

In diesem Augenblick erstrahlte über der Skyline von Downtown ein riesiges Hologramm vor dem dunklen Firmament. Es war ein farbenfrohes, stilisiertes Rentier. Dann kam ein zweites dazu. Und ein drittes. Immer mehr cartoonhafte Rentiere aus buntem Licht erschienen über den Wolkenkratzern, bis Howard alle neun zählte, eingespannt in ein Geschirr. Rudolph mit der roten Nase. Dancer. Dasher. Die Namen der anderen fielen ihm nicht mehr ein.

Jetzt kam auch ein Schlitten dazu. Zuletzt noch Santa Claus selbst, auf dem Kutschbock, mit seinem dicken roten Geschenkesack hinter sich im Wagen. Santa schlackerte mit den Zügeln und die Rentiere liefen los. Wenigstens sah es so aus. Tatsächlich blieb das Hologramm an Ort und Stelle. Das alljährliche Festtags-Spektakel an den Markthallen steuerte auf seinen Höhepunkt zu. Halb Soontown würde sich jetzt dort zur weihnachtlichen Afterparty einfinden, Eierpunsch schlürfen, scherzen und lachen und sich für Silvester verabreden.

Ohne ihn.

Keinen süßen, heißen Eggnog für Howard.

Keine Peanut Butter Reindeer Cookies.

Keine Einladungen für den hochtalentierten Professor, von begeisterten Bastlerbekannten, denen er zigfach den Arsch gerettet hatte, wenn sie sich wieder einmal saudämlich in ihren jämmerlichen Projekten verrannt hatten. Kein gar nichts.

Er ballte die Fäuste. Die zwei Greifklauen aus Titanium wühlten die Erde auf.

Das war ungerecht! Das war gemein! Er wollte Anteil haben an dem festlichen Treiben, wollte wieder ein Mensch sein unter Menschen.

Die Lichter der Straßenlaternen verschwammen vor seinem tränenverhangenen Blick, fragmentiert und aufgebläht, wie die Welt durch ein Prisma betrachtet.

»Ich bin ein Mensch!«, flüsterte er. »Kein Untier. Das werd ich euch auch beweisen! Noch heute Abend! Jetzt!«

Er befahl der Steuereinheit an seinem rechten Arm, ihm alles zu injizieren, was noch da war. Antibiotika. Kortison. Was und wie viel genau, kümmerte ihn nicht. Rein mit den Resten! Alles rein! Für einen letzten Auftritt – den Auftritt, der ihn rehabilitieren würde. Oder wenigstens das Bild verändern würde, das die Leute von ihm in ihren Köpfen hatten, dass das Fernsehen von ihm zeichnete. Schließlich war er trotz allem noch einer von ihnen. Er hatte Gefühle. Und die wollte er auch zeigen, wenigstens noch ein letztes Mal. Sollten sie ihn danach doch festnehmen und wegsperren und mit ihm machen, was sie wollten!

Er kam auf die Füße. Hob die Arme, seitlich ausgestreckt, die Hände zu Krallen, die Greifscheren zu Klauen geöffnet. Der Schwarm flog auf. Über hundert mechanische Hummeln summten über seinem Kopf, während sie sich zu der Tragetraube formierten und er sich von kleinen Gliedmaßen an Schultern und im Nacken gepackt fühlte. Über dem Kanal sackte die Traube unter ihrer Last etwas ab, sodass seine Füße das Wasser berührten. Einmal. Zweimal. Der ertrunkene Santa schaukelte in der aufgerührten schwarzen Brühe.

Er gab etwas Fusionspower dazu und die Masse aus Microbots und Mensch stieg in den Nachthimmel auf, dem weihnachtlichen Hologramm über den Türmen von Downtown entgegen. Der gigantische Santa Claus in dem Lichtschlitten winkte dem gefallenen Engel mit den Scherenhänden aufmunternd zu.

Heute, Kinder, wird’s was geben!

Howard brach auf, um doch noch Weihnachten zu feiern – auf seine eigene Weise.