25.
Anne Seymor starrte angestrengt auf die Bildschirme, während sie die Mine ihres Kulis in rascher Folge herausdrückte und wieder in dem Stift verschwinden ließ. Der Tower für die lokale Flugüberwachung des Luftraums über Soontown war voller Lotsen. Für den ersten Weihnachtstag war das ungewöhnlich. Normalerweise saß hier am fünfundzwanzigsten und sechsundzwanzigsten Dezember nur eine Notbesetzung. Aber was war schon normal an dem diesjährigen Weihnachtsfest? Ein durchgedrehter Freund ihres Mannes zog randalierend und mordend durch die Stadt. Er hatte eine Autowerkstatt kurz und klein geschlagen. Er hatte einen öffentlichen Bus überfallen und mehrere Fahrgäste umgebracht. Er hatte einen Trucker auf der South Bridge ausgeweidet. Und er war in ihr Haus eingebrochen und hatte dort schlimme Verwüstungen hinterlassen. Damit war es für Anne zu einer persönlichen Sache geworden. Die Polizei hatte die Bevölkerung um Hilfe gebeten und sich mit der Bitte um Unterstützung an die Flugüberwachung gewandt. Also saß sie hier mit brennenden Augen und behielt die Systeme im Blick, wenn auch bislang ergebnislos.
Die einzige Anomalie hatte es gleich zu Beginn ihrer Schicht gegeben, und sie hatte sich als falscher Alarm entpuppt. Zwei Typen hatten sich auf Air Scootern ein Wettrennen geliefert und dabei ein halbes Dutzend Vorschriften verletzt. Wegen des Großeinsatzes rund um den Killercyborg hatte die Polizei keine Kapazitäten, um so einer Lappalie nachzugehen. Glücklicherweise war die Tankkapazität solcher Scooter beschränkt. Bei dem Fahrstil, den diese beiden Irren an den Tag gelegt hatten, hatte es nicht lange gedauert, bis das Rennen von alleine vorbei gewesen war.
Seitdem herrschte im Tower aufmerksame Langeweile. Im Luftraum über Soontown war nichts los. An einem Feiertag wie diesem gab es nur eingeschränkten Regelflugverkehr. Zwischendurch verfolgten die Lotsen noch ein paar Air Taxis. Alles registrierte Flüge, alles in Ordnung, keine weiteren Auffälligkeiten.
Mit professioneller Routine checkte Anne zum wiederholten Mal alle Anzeigen. Zuletzt verharrte ihr Blick auf dem großen Schirm mit der Live-Luftaufnahme von Soontown, auf den alles zentral übertragen wurden. Auf so einer Totalen sah man natürlich nur die großen Objekte, Luftfrachter zum Beispiel, vielleicht noch ein Sammeltaxi. Für eine genauere Auflösung musste sie nach Stadtvierteln segmentieren und sich die Ausschnitte auf ihre eigenen Schirme holen. Technisch ließ sich das problemlos bis auf einen einzelnen Gebäudekomplex verfeinern. Dann konnte sie selbst noch die Tauben auf dem Dach zählen. Nur, dass sie nicht nach Tauben suchten, sondern nach einer unberechenbaren Mordmaschine in Menschengestalt. Und dass diese Mordmaschine überall sein konnte. Oder nirgends. Vielleicht hatte der Cyborg Soontown zwischenzeitlich auch verlassen, um sich anderswo auszutoben.
Während Anne verschiedene Quadranten überprüfte, hinein- und wieder herauszoomte, schweiften ihre Gedanken zu Marc, der nun daheim den Schutt wegräumte und Besen und Kehrblech schwang, anstatt den Festtagsbraten aufzuschneiden. Die Einkäufe, die Anne heute Vormittag noch im Glauben an ein gemütliches Familienfest getätigt hatte, lagen sicher verwahrt in den zwei Kühlschränken der Seymors. Vergammeln würden ihnen die guten Sachen nicht. Trotzdem war das das trostloseste Weihnachten, das Anne je ›gefeiert‹ hatte.
Wenigstens hatte Ellen eine schöne Zeit.
Der Gedanke versetzte Anne einen Stich. Nicht, weil sie ihrer Tochter das nicht gönnte, sondern weil Ellen erstmals bei einem Jungen übernachtet hatte und das mit ihr, Anne, nicht abgesprochen worden war. Marc hatte sich nicht mit ihr abgestimmt. Anne musste sich eingestehen, dass ihr das zu schaffen machte. Ellen war schließlich noch keine sechzehn. Ricco war ein netter Junge und im Grunde vertraute Anne den beiden auch. Ihr war auch klar, dass junge Menschen im Jahr 2068 ihre eigenen Vorstellungen von Freizügigkeit und ersten Liebeserfahrungen hatten. Annes Eindruck nach fühlten die Mädchen sich heutzutage ja schon als alte Jungfern, wenn sie mit vierzehn noch keinen Sex gehabt hatten. Schrecklich fand sie das.
Sie richtete ihre Konzentration wieder auf ihre Armaturen. Solche Grübeleien führten zu nichts. Marc hatte eine Entscheidung getroffen und diese Entscheidung hatte sich im Nachhinein als Segen herausgestellt. Anne mochte gar nicht daran denken, was der Killercyborg ihrer Tochter angetan hätte, wenn Ellen zum Zeitpunkt des Einbruchs daheim gewesen wäre.
Einmal mehr überprüfte sie den Norden der Stadt. Immerhin war der Cyborg dort zuletzt aufgetaucht. Das brauchte zwar nicht viel zu heißen, da der Killer ja fliegen konnte, aber irgendwo musste man schließlich mit der Suche anfangen. Außerdem machte Anne sich Sorgen um ihren Mann. Niemand konnte vorhersagen, was der Cyborg als Nächstes tun würde. Womöglich kehrte er noch einmal zu ihnen nach Hause zurück?
Sie wechselte das Viertel. Park District, eine Ecke mit vielen öffentlichen Grünstreifen. Jede Menge Verstecke für lichtscheues Gesindel.
Anne verfolgte die Schrauber-Leidenschaft ihres Mannes nun bereits seit vielen Jahren mit wachsender Skepsis. Vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse nahm sie sich vor, Marc vor eine Entscheidung zu stellen, sobald der Killer erst gefasst war und die Lage sich wieder beruhigt hatte: entweder sie oder seine Roboter. Dieses ausufernde Hobby barg einfach zu viele Gefahren, um es weiter zu tolerieren, das hatte die jüngste Vergangenheit ja nun eindrucksvoll gezeigt. Herrgott, Marc schraubte jede Woche Tag für Tag acht Stunden aufwärts in seiner Firma herum! Reichte das denn nicht? Musste er denn unbedingt auch noch zuhause weitermachen und ihren Keller in eine Hightech-Werkstatt verwandeln, die Superschurken anzog?
Sie wählte ein neues Viertel und zoomte näher heran. Downtown. Wenn sie schon nicht bei der traditionellen Weihnachtssause vor den Markthallen mit dabei sein konnte, wollte sie sich das Spektakel wenigstens einmal aus der Vogelperspektive ansehen.
Nein, es reichte ihr. Endgültig! Sie würde ein Machtwort sprechen, wenn das alles hier vorbei war. Sollte Marc Seymor sich doch eine Roboterbraut basteln, wenn ihm das nicht passte! Sollte er doch …
Etwas auf dem Monitor riss Anne aus ihren Gedanken. Das Radarsichtgerät zeigte ihr eine winzige Wolke. Eine Art Nebelhauch, kaum mehr als eine grüne Schliere. Sie vergrößerte. Hatte sie sich verguckt? Das Gebilde war so fein gewesen … Womöglich nur eine Pixelstörung auf dem Bildschirm.
Nein, da! Da war es wieder, deutlicher jetzt. Irgendetwas flog da knapp über den Dächern von Downtown dahin, viel zu niedrig für ein Air Taxi oder sonst ein registriertes Vehikel. Dieses Etwas war winzig, so klein wie die beiden Air Scooter von Annes Schichtbeginn.
Sie zoomte noch näher heran. Ihr Daumen verharrte über dem Druckknopf ihres Kulis. Rasch legte sie ein paar Filter über das Bild, justierte, verfeinerte.
Und dann hatte sie es.
Was sie sah, war eine Traube undefinierbarer Punkte, die selbst für die fortgeschrittene Technologie des Towers zu kleinteilig waren. Von dieser Traube hing ein Mensch mit viel zu langen Armen herab. Die Polizei hatte den Lotsen keine Bilder zur Verfügung gestellt, ganz einfach, weil es bislang keine Bilder von dem fliegenden Cyborg gab. Aber das musste er sein. Und selbst, wenn sie sich irrte, diese Traube mit Lulatscharmen und zwei Beinen war definitiv nichts, was über Soontown irgendetwas verloren hatte.
Der Kuli fiel ihr aus der Hand, so schnell haute sie auf die Tasten, um einen Screenshot zu machen.
»Kommt mal her«, rief sie. »Ich glaube … Ich glaub, ich hab hier was!«
Alle Köpfe im Raum wandten sich zu ihr. Ihr Chef eilte herbei, begleitet von dem Officer, den das Revier ihnen zur Seite gestellt hatte. Als die Männer das unbekannte Flugobjekt sahen, klafften ihre Münder auf.
»Das ist er!«, hauchte der Officer. Dann, lauter: »Das ist er! Wir haben ihn!«
»Wohin will er?«, wollte Annes Chef wissen.
Sie zoomte etwas heraus, aus der Traube wurde wieder eine Wolke. Eine Wolke, die auf dem Bildschirm abwärts driftete, in Richtung Süden. Anne durchfuhr es eiskalt. »Er … Er fliegt zu den Markthallen!«
»Wir müssen auf der Stelle …!«, begann ihr Chef, aber der Officer schrie bereits ins Telefon.