26.

Vor den Markthallen war mächtig Betrieb. Auch in diesem Jahr erfreute sich der Treffpunkt am Südende der First Avenue am Abend des ersten Weihnachtstages wieder großer Beliebtheit. Das weite Halbrund vor dem Haupteingang der Hallen quoll über vor Menschen. Der Springbrunnen in der Mitte des Vorplatzes war mit Buden zugebaut worden und zwischen all den Verkaufsständen kaum noch zu sehen. Da sie nicht mehr alle auf den Vorplatz passten, breiteten sich die Besucher des Weihnachtsdorfes in losen Trauben über den breiten, ebenfalls halbkreisförmigen Treppen aus. Die Markthallen, lagen in einer Senke, die Treppen führten fast einhundert Stufen nach unten. Der riesige Weihnachtsbaum auf dem Platz reichte fast bis an das Niveau des oberen Treppenabsatzes heran. Seine Spitze war an einer quer über den Platz gespannten Stahltrosse befestigt, anders wäre Soontowns rekordverdächtiger Baum kaum aufrecht stehen geblieben.

Hui-Chen und Sue Tinkerman hatten sich bis zu einer der Eierpunschbuden vorgearbeitet. Auf dem Weg dorthin hatte Hui bei einem anderen Händler vier Fünfundzwanziger-Kartons mit Kerzen gekauft. Hohe, schlanke Kerzen in sündigem Rot, die gut in die beiden Jugendstil-Kerzenständer der Tinkermans passen würden. Hui konnte das mit ihrer Ehekrise nicht länger einfach so laufen lassen, er musste etwas tun. Kerzen schienen ihm da ein guter Anfang zu sein.

Nicht, dass Sue seinen guten Willen gewürdigt hätte, im Gegenteil: Er hatte gespürt, wie seine Frau ungeduldig geworden war, während er die Auslage des Kerzenverkäufers begutachtet hatte.

Jetzt klammerten sie sich an ihre Punschtassen und schwiegen sich an. Beide schienen dem regen Treiben ringsum mehr Bedeutung beizumessen als der Gesellschaft des anderen. Die Tüte mit den Kerzen stand zu Huis Füßen. Er hatte schon gar keine Lust mehr, sie zuhause anzuzünden.

Als wäre die Stimmung nicht so schon trübe genug gewesen, schlurfte irgendwann auch noch Hank Borrows mit seiner tauben Promenadenmischung an ihrem Stehtisch vorbei. Hui hoffte, dass Hank seine Frau und ihn nicht bemerken würde. Tat er auch nicht. Jip aber machte einen Abstecher und lief schwanzwedelnd auf Hui zu. Da wurde Hank dann ebenfalls auf seinen Stammtischkumpel aufmerksam.

»Hui! Na, grüß dich! Frohe Weihnachten!«

»Frohe Weihnachten, Hank. Sue, das ist Hank Borrows. Wir kennen uns aus dem Yard’s.«

Sue hielt sich nicht damit auf, Hanks ausgestreckte Hand zu schütteln. Ein Blick hatte ihr verraten, dass sie mit Hank nichts zu schaffen haben wollte, und als Hui das Yard’s erwähnte, waren ihre Augen endgültig kalt geworden. »Hallo«, sagte sie nur.

Doch jetzt, wo er einmal an ihrem Tisch stand, ging Hank so schnell nicht wieder fort. Er deutete auf ihre Tassen. »Lecker, nicht? Ach, ich hol mir auch einen. Kannst du Jip so lange halten?«

»Äh …«

Schon hatte Hui die Hundeleine in der Hand. Der Mischling sah mit traurigen Augen zu ihm auf. Hank verschwand in dem Gewühl vor dem Budenausschank.

»Tolle Freunde hast du«, sagte Ellen. »Der riecht, als hätte er drei Tage lang nicht die Klamotten gewechselt.«

»Hank hat ein bisschen Pech gehabt im Leben«, rechtfertigte sich Hui. »Ist aber ein netter Kerl.«

»Oh, sicher.«

Mehr Worte wechselten sie nicht, bis Hank mit einer Tasse dampfendem Eggnog wieder bei ihnen war und sich Jips Leine von Hui zurückangelte. Er hatte einen gelblichen Oberlippenbart, hatte auf dem Rückweg schon von dem Punsch probiert. »Ist noch zu heiß«, sagte er und stellte seine Tasse neben Sues ab. »Aber so muss er sein. Genau richtig.« Es war deutlich, dass Hank schon früher am Abend Alkohol getrunken hatte.

Sue rückte ihre Tasse von Hanks ab.

»Erstaunlich, dass der Hund das mitmacht in diesem Gedränge!«, sagte Hui, dem die Schweigepause zu lang wurde.

»Ach, Jip ist da hart im Nehmen«, meinte Hank gut gelaunt. »Und den Lärm hört er ja nicht mehr, die taube Nuss.« Er bückte sich und kraulte den Mischling hinterm Ohr. »Nicht wahr, Jippilein? Du willst schließlich auch Weihnachten feiern.«

Sue verdrehte die Augen und nahm einen großen Schluck von ihrem Punsch. Sie wollte rasch austrinken, damit sie weitergehen konnten. Plötzlich schämte Hui sich für sie. Und für Hank schämte er sich auch.

»Hey, du hast Kerzen gekauft«, stellte Hank fest, als er wieder hoch gekommen war. »Schönes Rot. Richtig weihnachtlich.«

»Danke. Willst du ein paar abhaben? Ich hab vier Kartons voll.« Irgendwie glaubte Hui plötzlich nicht mehr daran, dass Kerzen seine Ehe retten würden.

»Ganz lieb von dir«, antwortete Hank. »Aber danke. Ich hab noch Teelichter zuhause. Und ich glaube, ich hab gar keinen Kerzenständer für so welche.« Er machte einen Buckel und nippte an seiner Tasse. »Wart ihr schon bei Santa an der Bühne?«

Hui lächelte. »Nee. Das ist doch für die Kinder.«

»Nicht nur«, sagte Hank. »Nett ist das da. Santa auf einem goldenen Thron. Und wie die Kleinen sich freuen, wenn sie auf seinen Schoß dürfen und ein Geschenk und Süßigkeiten bekommen! Außerdem spielen die da zwischendurch immer Live-Musik. Da treten richtig gute Bands auf – für umsonst!«

»Na, dann nichts wie hin!«, sagte Sue übertrieben lebhaft, ließ ihren Punsch stehen und nahm Hui am Arm. »Kommst du?«

»Äh … Ja, klar.« Hui kippte seinen Eggnog herunter und hob die Tüte mit den Kerzen auf.

Hank sah seinen Kumpel erstaunt an. »Ihr wollt schon weiter?«

»Ich liebe Live-Musik!«, log Sue.

»Wir sehen uns bestimmt später noch«, sagte Hui und drückte Hank die Schulter. »Dürfen wir dir unser Tassenpfand schenken?«

»Aber … Das sind acht Dollar!«

»Passt schon, alter Junge. Feier noch schön.«

Die Tinkermans scherten in den Menschenstrom ein, der sich zwischen den Buden dahinwälzte.

»Musstest du wirklich so auf die Tube drücken?«, zischte Hui.

»Mit deinen Saufkumpanen kannst du auch ohne mich bechern«, gab Sue zurück.

Sie kamen nur im Schneckentempo voran – dicht aneinander gedrängt und doch jeder für sich.

An einem Schmuckstand blieb Sue stehen. Hui verharrte in zweiter Reihe der Kaufinteressenten. Der einzige Schmuck, den er trug, war sein Ehering. Und auch da stellte sich die Frage, wie lange noch.

Drei Monate war er jetzt bereits ohne Arbeit. Wie stark sich sein Leben doch seitdem bereits verändert hatte! Was es mit einem Mann machte, von seiner Firma unehrenhaft auf die Straße gesetzt zu werden! Wie Hui wusste, hatte Hank früher ganz ähnliche Erfahrungen gemacht, wenn auch auf einem viel niedrigeren Lohnniveau. Und sich nie davon erholt.

Wenn das bei mir noch lange so weitergeht, bin ich irgendwann wie er: gebrochen und aussortiert.

Er fühlte sich schäbig, weil er Hank so abrupt hatte sitzen lassen. Und das auch noch an Weihnachten.

»Schatz?«, rief Sue ihn im Kommandoton. »Scha-atz!«

Pflichtschuldig drängte Hui sich bis an den Verkaufstisch durch.

»Was meinst du? Steht mir die?« Sue hielt sich eine Kette mit einem schweren Klunker daran unters Kinn.

»Ja, sehr«, sagte er leidenschaftslos. »Der Stein passt gut zu deinen Augen.«

Sues Lider verengten sich. »Er ist rot. Meine Augen sind blau!«

Hui zuckte die Achseln. »Dann passt er eben gut zu den Kerzen.« Er zückte seinen HoloCom, um zu bezahlen, aber Sue warf die Kette zurück auf den Warentisch. »Die brennen ab«, fauchte sie. »Bei Schmuck sollte man vielleicht etwas langfristiger denken.«

Hui nahm den Klunker auf. »Gibt’s den auch in blau?«

Die Verkäuferin schüttelte den Kopf. »Leider nein. Aber ich hab hier ein Paar Ohrringe mit herrlichen Aquamarinen.«

Doch Sue hatte die Bude bereits verlassen. Hui hatte Mühe, sie in dem Geschiebe aufzuholen. Er nahm sie am Arm. »Können wir nicht wenigstens zu Weihnachten so tun, als ob wir noch ein bisschen verliebt wären?«

Sie entzog sich ihm. »Machen wir doch. Es klappt nur nicht besonders gut. Schau mal, da gibt’s gebrannte Mandeln.«

Er holte ihr eine Tüte. Dabei spürte er, dass Rotwein und Punsch seine Blase weiteten. Der Toilettenwagen war um die Ecke. Er drückte Sue die Mandeln in die Hand. »Ich muss mal.«

»Lass dir Zeit.«

Hui kramte sein Portemonnaie heraus, die Toilettenfrau akzeptierte nur Bargeld. Er gab ihr das Doppelte und bat sie, kurz auf die Tüte mit den Kerzen aufzupassen, damit er beim Pinkeln die Hände frei hatte. Sie nickte und stellte die Tüte auf eine Mülltonne in ihrem Rücken, am Rand des Wagens, halb von einer schmuddeligen Vertikalmarkise verdeckt.

Am Urinal dachte Hui darüber nach, wie es weitergehen sollte. Mit seiner Karriere. Mit ihm und Sue. Beides hing zusammen, gar keine Frage. Er hatte immer gewusst, dass sie Wert auf ihren Lebensstandard legte. Sue war ein ›Material Girl‹, ganz wie in diesem Oldie aus dem vorherigen Jahrtausend. Das hatte ihn nie gestört. Jedenfalls nicht, so lange sein Stern beruflich im Steigen begriffen war. Jetzt waren die Karten neu gemischt worden und er merkte, wie ihn Sues Haltung in dieser Situation verletzte. Er wollte nicht nur wegen seines Geldes geliebt werden, wegen seiner Stellung, wegen einem dicken Auto. Hatten sie sich vor dem Altar nicht ewige Liebe geschworen, in guten wie in schlechten Zeiten? Und so sah nun nach ein paar Wochen Arbeitslosigkeit also die Realität aus.

Hank hatte ihm vorhin den Spiegel vorgehalten, ihm und seiner Frau. Was Hui darin gesehen hatte, war im Grunde keine große Überraschung mehr für ihn gewesen. Aber schmerzen tat es doch. Forderungen statt Rückhalt. Ablehnung statt Verständnis. Noch hatte er einen gewissen finanziellen Atem. Die Tinkermans lebten zwar auf großem Fuß, aber Hui gehörte nicht zu denen, die ihr Vermögen leichtfertig verschleuderten. Er hatte noch etwas Zeit. Zeit, sein Leben wieder in den Griff zu kriegen.

Oder ein neues Leben zu beginnen.

Ja, auch in diese Richtung hatte er während der letzten Tage schon gedacht. Eine Scheidung wäre natürlich in mancherlei Hinsicht der Super-GAU. Für die Kinder und auch, was das Geld betraf. Sue würde ihm nichts schenken, das wusste er. Nicht einen Dime. Doch wenn die Alternative war, einander Tag für Tag runterzuziehen, Verletzungen auszutauschen, sich wechselseitig für ihre verkorkste Ehe zu bestrafen … Nein, dann doch lieber ein Ende mit Schrecken.

Als er wieder draußen stand, war die Toilettenfrau ganz aufgeregt. »Mister, es tut mir leid, aber … Ihre Kerzen. Sie sind weg! Ich weiß auch nicht. Jemand muss hinter den Wagen geschlichen sein und sie von der Mülltonne geklaut haben.«

Hui machte keinen Aufstand. Er forderte keinen Schadensersatz. Es passte ja irgendwie ins Bild, das so etwas nun auch noch passierte.

Das mit den Kerzen war sowieso eine Schnapsidee gewesen.