27.
»Krass! Dass es so große Tannenbäume gibt!«
Ellen und Ricco hockten auf den Stufen vor den Markthallen und teilten sich einen Eierpunsch. Ein Becher für sie beide zusammen. Ricco war der Eggnog zu süß, Ellen war er zu stark. Aber das Zeug gehörte nun einmal zu Weihnachten dazu.
»Hier«, sie reichte ihm den Becher zurück, »du kannst den Rest haben. Ich mag nicht mehr.«
»Puh!« Ricco nahm die Tasse, nippte daran und verzog das Gesicht. »Wie haben die diesen Riesenbaum wohl hier her gekarrt? Das möchte ich mal wissen. So große Trailer gibt’s doch gar nicht.«
Ellen zog Ricco an sich und küsste ihn. »Musst du denn ständig über irgendwelche technischen Fragen nachgrübeln, Ricardo Russo? Sogar an Weihnachten?«
Ricco erwiderte ihren Kuss. »Wenn dich das so stört, kannst du mich ja davon abhalten.«
Sie schmiegte sich an ihn. »Schon dabei.«
Eine Weile knutschten sie ungeniert herum. Von den Buden am Fuß der Treppen drang Weihnachtsgedudel herauf, durchsetzt mit dem Sound der Liveband, die gerade die Bühne von Santa Claus bespielte. Eine Bluegrass-Combo mit treibenden Beats. Als sie sich voneinander lösten, war der Punsch kalt geworden. Jetzt mochte Ricco ihn auch nicht mehr trinken. Er kippte den Rest in den Abfluss auf einem der mittleren Treppenabsätze.
Dann stiegen sie hinunter, um sich den Pfand für den Becher zurück zu holen.
»Die Band ist gut«, fand Ellen. »Tanzbar.« Sie lächelte Ricco aufmunternd zu.
Ricco hob abwehrend die Hände. »Vergiss es. Nicht hier, auf dem Weihnachtsrummel. Vor all den Leuten.«
»Das hat dich auf der Fall Festival Parade auch nicht gestört.«
»Jetzt stört es mich aber.«
Sie machte einen übertriebenen Schmollmund. »Und wenn ich es mir zu Weihnachten wünsche?«
»Dann ist mir das wurscht«, blieb Ricco hart. »Du Tanzmaus hast von mir schon was zu Weihnachten bekommen.«
Sie nahm seine Hand. »Und das war wunderschön. Nun ja, wir können ja einfach mal zur Bühne schlendern. Bloß um zuzuhören … für den Anfang.«
»Ich tanze nicht heute. Da kannst du dich auf den Kopf stellen.«
»Verstanden. Ich frag dich später noch mal.«
Sie hatten das Ende der Treppe fast erreicht, als Ellen hinter sich ein schabendes Geräusch hörte, das schnell näher kam. Als sie sich umdrehte, grindete auch schon ein Skater an ihr vorbei, den langen Handlauf herunter. Ellen, die relativ nah am Geländer ging, zuckte zusammen. Am Ende des Handlaufs jumpte der Skater gekonnt von der Stange auf den Boden. Ein paar Budengäste sprangen zurück, aber es hatte keine Gefahr bestanden. Der Typ hatte sein Board voll unter Kontrolle. Er trug eine Sporthose im Military-Design und einen schwarzen Hoodie. Chester.
Er kickte das Board in die Luft und klemmte es sich lässig unter den Arm. »Hi Ellen. Hi Ricco.«
»Hey, Chester«, grüßte Ellen zurück. »Frohe Weihnachten!«
»Angeber!«, murmelte Ricco so leise, dass nur Ellen es hörte. Unten angekommen, stichelte er: »Bisschen voll hier für solche Kunststücke. Jemand könnte verletzt werden.«
Chester grinste. »Recht hast du. Jetzt ist Schluss damit. Seit der Lightshow mit Santa ist die halbe Stadt hier. Und wir hängen ja auch schon den ganzen Nachmittag hier ab. Wenn ich so weiter grinde, brauch ich bald wieder ein neues Deck.« Er zeigte ihnen die Gebrauchsspuren auf der Unterseite seines Boards. »Wär doof, wenn’s mitten auf der Rail plötzlich ›knack‹ macht.«
Ellen musste lachen. »Ja. Wär doof.«
»Hey, Spagettifresser!« Das war Tim Stratford. Zusammen mit zwei weiteren Jungen aus Chesters Clique kam er die Treppe herunter. Sein Board sah brandneu aus.
»Hey, Tim«, grüßte Ricco zurück. »Hat Daddy dir ein neues Board unter den Baum gelegt? Mit Erdbeermuster. Mächtig cool.«
Tim lief rot an. »Was gab’s bei dir, Russo? Selbstgestrickte Socken?«
»Lass gut sein, Stratford«, schaltete sich Chester ein. »Ist Weihnachtsabend. Fest der Liebe und so. Rumätzen kannst du übermorgen wieder.«
Tim funkelte Chester an, der locker einen Kopf größer war. »Ich lass mir von dir nicht den Mund verbieten!«
Damit stapfte Tim zwischen die Menschenmassen und verschwand in Richtung einer Getränkebude. Die beiden anderen scharten sich um Chester, der Tim gelassen hinterher sah. »War ein Fehler, ihn bei uns aufzunehmen«, meinte er und zuckte die Schultern. »Ich dachte halt: ›Gib ihm ’ne Chance.‹ Er sah immer so unglücklich aus, alleine im Skate Park.«
»Tim ist ein Arschloch«, sagte Ricco sachlich.
Ellen stieß ihm einen Ellbogen in die Seite. »Und du lässt dich von ihm bei jeder Gelegenheit provozieren.«
Jetzt war es an Ricco, rot zu werden. »Ich bring den Becher weg«, schnaubte er und verschwand ebenfalls.
Ellen sah den Handlauf hoch. » Das grindest du alles? Komplett?«
»Manchmal«, sagte Chester bescheiden. »Und ja – komplett wäre wohl besser. Aussteigen, wenn links und rechts nur Stufen sind, ist nicht so toll. Alles schon erlebt.«
»Wahnsinn! Du musst ein irres Gleichgewichtsgefühl haben!«
Chester hob die Schultern. »Wenn du einmal mit der Hinterachse eingelockt bist, ist es eigentlich relativ egal, wie lang die Rail ist.«
»Da hätt ich zu viel Schiss!«, platzte Ellen heraus.
»Verständlich«, sagte Chester, legte sich sein Board in den Nacken und hakte links und rechts die Hände hinter die Rollen. »Die ersten Male sollte man’s definitiv nur mit Schutzkleidung probieren. Ist gesünder.«
Ellen grinste. »Gesund ist das schon mal gar nicht. Ganz gleich, was du an hast.«
Chester fiel in das Lachen mit ein. »Stimmt schon. Aber geil. Grinden macht Laune … wenn man’s halbwegs kann.« Er strich seine langen schwarzen Haare zurück.
Ellen hatte eine Schwäche für schwarze Haare. Ricco hatte ja auch schwarzes Haar, mit leichter Krause. Chesters dagegen war ganz glatt. Er schien es immer offen zu tragen, in einem typischen, etwas nachlässigen Skater-Look, der ihm gut stand. Es war nicht fettig oder ungepflegt, sah ganz seidig aus.
Sie merkte, dass sie ihn schon länger anschaute. Er sah nicht weg.
»Die … Die Lightshow war klasse, oder?«, fragte sie, um irgendetwas zu sagen.
»Jau«, stimmte Chester zu. »Oben von der Treppe sieht man sie besser als von hier unten. Ich schau sie mir jedes Jahr von dort an.« Er schmunzelte. »Vor zwei Jahren ist einer der Projektoren ausgefallen. Da war Santa dann plötzlich weg. Nur seine Hände waren noch zu sehen, mit den Zügeln. Das sah ziemlich komisch aus.«
Ellen grinste. »Kann ich mir vorstellen.« Sie merkte, dass Chester ihr mit dieser kleinen Geschichte ihre Verlegenheit hatte nehmen wollen. Und dass es ihm geglückt war.
Ricco kehrte zurück, mit säuerlicher Miene. »Komm, wir gehen«, sagte er nur. »Die Band wird nicht ewig spielen.«
Verwundert ergriff Ellen die Hand, die er ihr fordernd hinstreckte.
»Ciao«, rief sie Chester und seinen Jungs zu. »Wir sehen uns.«
»Ciao«, antwortete der Cliquenchef und tippte sich mit zwei Fingern an den Scheitel. »Viel Spaß noch!«
»›Wir sehen uns‹«, äffte Ricco Ellen nach, als die Menschenmenge sie geschluckt hatte. »Der Typ hat’s dir ja schwer angetan.«
»Boa, Ricco! Fang nicht wieder damit an!«
»Ja, ja. Bin ja schon still.«
Da sah sie den großen Fleck auf seiner Jacke. Gelblich. Eierpunsch, eindeutig.
Sie deutete auf die Stelle. »Wie ist das denn passiert?«
»Tja …«, gab Ricco finster zurück. »Während du mit deinem Skaterfreund geturtelt hast, hat Tim mich mit heißem Eggnog bekleckert.«
»Echt jetzt?«
»Siehste doch. Mit voller Absicht. Der kam im Gedränge extra an mir vorbei und tat dann so, als wäre er angerempelt worden.«
»O Mann! So ein Depp!«
»Tja …«
In dem Moment wandten sich die Köpfe der Besucher alle in ein und dieselbe Richtung. ›Oohs‹ und ›Aahs‹ wurden laut. Ellen und Ricco folgten den Blicken. Auslöser des allgemeinen Staunens war der große Weihnachtsbaum. Eine Reihe von Lichtern schwebte von seiner Spitze herab, spiralförmig, in weiten Windungen um die mit Schmuck beladenen Zweige herum. Die Lichter nahmen gar kein Ende. Während die Menge noch schaute, änderten sie ihre Formation, bildeten drei Ringe übereinander und umkreisten den Baum in einem anmutigen Reigen.
»Stark!«, sagte Ricco. »Das sind echte Kerzen! Wie zum Geier machen die das?«
Abermals änderten die Lichter ihr Bewegungsmuster. Jetzt gruppierten sie sich in mehreren losen Lichtsäulen um den Baum herum. Dabei bewegten sich die Lichter von Säule zu Säule abwechselnd aufwärts und abwärts, wie die Kabinen mehrerer Paternoster nebeneinander, mit unterschiedlicher Fahrtrichtung. Richtig schön sah das aus! Ellen schaute genau hin. Ricco hatte recht: Es schienen echte Kerzen zu sein.
Die Besucher ringsum lächelten versonnen, während sie das stimmungsvolle Lichterspiel verfolgten. Ellen und Ricco nahmen sich in den Arm und guckten ebenfalls zu. Riccos kleinliche Eifersüchtelei war vergessen.
»Das gab’s vorher noch nie«, sagte er. »Da haben sie sich mal was ganz Neues einfallen lassen. Sieht aus, als ob sie das mit lauter Drohnen machen. Krass viele Drohnen! Hammer, echt!«
Ellen schmunzelte. Ricco war einfach unverbesserlich. War ja klar, das er diesen Lichtertrick sofort hinterfragen würde.
Die Kerzen versammelten sich jetzt allesamt auf halber Höhe vor dem Baum und formten ein riesiges Herz aus kleinen Flammen. Die ›Oohs‹ und ›Aahs‹ wurden lauter, die Show kam gut an. Das Herz löste sich auf und wurde zu einem riesigen Dreieck mit runder Spitze. Santas Zipfelmütze, dargestellt mit Kerzenlichtern. Die Leute lachten und klatschten.
Auf einmal flammte im linken unteren Drittel des Rekordbaums ein rötliches Flackern auf. Der Schein wuchs, breitete sich über die Zweige aus.
Feuer.
Die Menge brauchte ein paar Herzschläge, um zu realisieren, was geschehen war. Dann wich sie instinktiv zurück, gleichgeschaltet, von kollektiver Skepsis geflutet.
Ist das noch Teil der Show? Oder ist da was schief gelaufen? Irgendwie doch komisch, dass sie mit offenen Flammen an dem Baum hantieren …
Gleich darauf kannte Ellen die Antwort auf ihre Frage. Im Handumdrehen stand die halbe Basis des gigantischen Christbaums in Flammen. Das Feuer breitete sich rasant weiter aus, fraß sich nach oben. Ellen und Ricco waren Luftlinie vielleicht fünfzig Meter von dem Baum entfernt. Trotzdem stieg Ellen nun der harzige Qualmgeruch brennender Nadelzweige in die Nase.
Dann geriet die Menschenmenge in Bewegung, stolperte rückwärts – eine erste, erschrockene Welle, als seien die versammelten Leute ein Teich, in dessen Mitte jemand einen Stein geworfen hatte.
Das war definitiv keine Show mehr. Das war ernst. Und die Lage wurde von Sekunde zu Sekunde heikler. Es brannte der Baum – im wahrsten Sinne des Wortes. Der größte Weihnachtsbaum im Central Valley war dabei, sich in eine gigantische Fackel zu verwandeln.