28.

Hank wippte im Takt der Musik. Er hatte kein besonders ausgeprägtes Rhythmusgefühl, aber der Song war eingängig und die Bluegrass-Combo machte Dampf. Er hätte sogar mitgeklatscht, wenn er nicht in der einen Hand ein Bierglas und in der anderen Jips Leine gehabt hätte. Die anderen Zuschauer zeigten ihre Begeisterung mindestens ebenso wie er. Einige tanzten auf der Freifläche vor der Bühne. Der Banjospieler fuhr gerade ein mitreißendes Solo nach Hause. Unglaublich, wie schnell und präzise die Finger dieses Teufelskerls über das schmale Griffbrett huschten! Hank war beeindruckt. Wenn er da an seine eigenen, zittrigen Hände dachte …

Er hätte ja auch gerne ein Instrument gelernt. Nein, verbesserte er sich, er hätte auch gerne ein Instrument beherrscht . Vorzugsweise, ohne sich dafür erst jahrelang im stillen Kämmerlein den Arsch ab zu üben. Einen Moment lang stellte Hank sich vor, er selbst stünde da oben mit dem Banjo in den Armen, Hank Borrows, der Saitenhexer, der sein Publikum ganz cool um den Finger wickelte. Denn mächtig cool waren die Typen da oben. Alle vier ältere Semester, der Gitarrist und der Drummer mit Cowboyhüten, der Banjospieler und der Mann am Kontrabass mit Zylindern. Sie trugen schwarze, altmodische Anzüge. Der Banjospieler, lang und dürr, mit Hakennase, erinnerte Hank an die Totengräber aus alten Westernfilmen.

»Yee-haaa!«, rief er und hob sein Glas so stürmisch, dass etwas Bier im Überschwang auf seine Nachbarn schwappte. Sicherheitshalber wechselte Hank auf die andere Seite der Zuschauertraube. Es war Weihnachten, er wollte keinen Ärger. Jip trottete hinterdrein.

Lange war es her, dass Hank so ausgelassen und selbstvergessen gefeiert hatte. Sicher, er war betrunken, doch daran allein lag es nicht. Alkohol hatte er weiß Gott oft genug im Blut, ohne dass er davon so gute Laune bekam. Im Gegenteil: Oft verfiel er dann in trübes Brüten. Über seine Parkinson-Erkrankung. Über seine Arbeitslosigkeit und die damit einhergehenden Gefühle des Nutz- und Bedeutungslos-Seins. Über seine perspektivlose Zukunft. Und über seine vielen Ängste.

Hank hatte Angst davor, zu sterben. Angst, zu leiden. Angst, in eine Anstalt eingewiesen zu werden, sei es in eine Klinik, wegen Parkinson, oder zurück in die Nervenheilanstalt, die er im Herbst temporär hatte besuchen müssen, nachdem die Begegnung mit einem außerirdischen Roboter ihn um seine ohnehin bereits fragile psychische Gesundheit gebracht hatte. Hank hatte Angst davor, das Skylar Johnson, sein Vermieter, ihn rausschmeißen würde, weil Hank mit der Miete seit Monaten im Rückstand war. Er ängstigte sich davor, dass Jip, sein Hund, vor ihm den Löffel abgeben könnte und er dann ganz allein zuhause wäre. Manchmal hatte er sogar Angst davor, den Müll raus zu bringen, weil er fürchtete, bei den Tonnen könnte ihm jemand auflauern. Das Ordnungsamt, weil er seine Wohnung verwahrlosen ließ. Tierschützer, weil er Jip zu selten Gassi führte. Joe, der Barkeeper vom Yard’s, weil er seinen Deckel nicht bezahlt hatte. Oder die Aliens, die ihn im Herbst um ein Haar entführt hätten.

Neuerdings war noch der Killercyborg von Soontown zu Hanks Ängsten dazu gekommen. Die kleinen Miniroboter, die ihn auf seiner Runde mit Jip attackiert hatten … Natürlich hatte er niemandem davon erzählt, außer vielleicht seinen Stammtischkumpels im Yard’s, das wusste Hank nicht mehr so genau. Mit den Erinnerungen an ihre geselligen Abende war das immer so eine Sache. Die bei Joe übliche Dosis an Bier und Tequila förderte nicht gerade das Kurzzeitgedächtnis.

Jetzt, an diesem schönen Weihnachtsabend, war Hank ausnahmsweise einmal mit sich im Reinen. Er war hier bei den Markthallen, wo alle anderen auch waren. Ganz normal. Er war dabei, gehörte dazu, ging auf in der Masse. Er hatte sogar schon Freunde getroffen: erst Hui und seine Frau und vorhin noch Rowan, Morton und Woodstein.

Morton hatte ihm aus einer Festtagslaune heraus dieses Bier ausgegeben. Überhaupt hatte Morton das Gespräch in der Dreiergruppe am Laufen gehalten, wie Hank im Nachhinein klar geworden war. Rowan und Woodstein waren seltsam einsilbig gewesen, mit Morton in ihrer Mitte. Geredet hatte immer nur Rowan mit Morton oder Woodstein mit Morton, nie Rowan und Woodstein direkt miteinander. Ach, das würde sich sicher wieder geben! Weihnachten war schließlich das Fest der Liebe. Woodstein war doch ganz okay, auch, wenn sie den Automechaniker noch nicht so lange kannten. Und Rowan war doch eigentlich ebenfalls ein feiner Kerl, wenn auch Alkoholiker und oft genug ein richtiger Blödmann. Aber wer war schon perfekt?

»Yee-haaa!«, ließ Hank seiner Lebensfreude noch einmal freien Lauf. Diesmal schwappte nichts aus dem Glas.

Der Banjospieler beendete sein Solo, die Truppe schmetterte noch viermal den Refrain und der Gig war vorbei. Die Menge applaudierte, rief »Zugabe!« und klatschte und pfiff.

»Die war’n gut, was?«, wandte Hank sich aufs Geratewohl an einen der nebenstehenden Zuschauer. Der Mann nickte lachend und prostete ihm zu.

Ja, das war Weihnachten, wie es sein sollte. Ohne Ängste, ohne einen Gedanken an das Morgen. Leben im Jetzt. Fast schon Zen-mäßig war das. Trotz des Trubels ringsum fühlte Hank eine tiefe Ruhe und inneren Frieden. Er bückte sich, gab Jip eine Leckerei und kraulte den Mischling hinter dem Ohr.

Auf der Bühne war der Impresario vor das Mikrofon getreten. »Das waren ›The Black Brothers of Botterhamshire‹ Einen herzlichen Applaus bitte!«

Die Zuschauer jubelten.

»Ah, richtig gut, diese Jungs!«, schwärmte der Impresario. »Da will man gleich selbst wieder die Klampfe von der Wand nehmen und einen Song schmettern. Jetzt aber kommt, zum letzten Mal am ersten Weihnachtstag, hier auf der Santa-Claus-Bühne … Na, jetzt hab ich’s ja eigentlich schon verraten. Liebe Kinder und liebe jung gebliebene Erwachsene, freut euch auf den Mann, um den sich an Weihnachten alles dreht!«

Der Impresario machte eine Geste auf den goldenen Thron im Hintergrund der Bühne, der jetzt, wo die Musiker mit ihrem Equipment verschwunden waren, von zwei Helfern nach vorne getragen wurde. Hank sah, wie am rechten Bühnenrand eine Schlange aus Kindern entstand, alle in Festtagskleidung, alle mit glänzenden Augen. Gleich würden die lieben Kleinen nacheinander zu Santa Claus an den Thron gerufen. Santa würde ihnen übers Haar streichen und sie fragen, was sie zur Bescherung alles Schönes bekommen hatten. Die Kinder würden ihre Antworten artig ins Mikrofon sagen und noch ein weiteres Geschenk mit nach Hause nehmen, überreicht vom Weihnachtsmann persönlich. Sie würden so glücklich sein, dass sie sich noch lange an diesen Moment erinnern würden. Hank wurde warm ums Herz, wenn er daran dachte.

»Liebe Soontowner, wollen wir ihn zu uns einladen? Den lustigen alten Kerl in rot, mit seiner Zipfelmütze und seinem Sack voller Geschenke? Die Legende des Weihnachtsfestes? Den großen Kaminkletterer und Wünscheerfüller? Dann ruft alle zusammen mit mir: ›Santa Claus! Santa Claus!‹«

»Santa Claus!«, stimmte die Menge donnernd mit ein. »Santa Claus!«

»Oh, ich glaube, das war noch nicht laut genug. Da habt ihr doch sicher noch Reserven. Ihr auch Kinder, alle gemeinsam: ›Santa Claus!!‹«

»Santa Claus!! Santa Claus!!«

Hank brüllte aus Leibeskräften mit.

Und dann kam er.

Im roten Samtmantel, mit Zipfelmütze und rotem Sack. Trotzdem enterte kein Kind die Bühne, im Gegenteil: Die ganze Schlange stolperte rückwärts. Die Rufe der Leute verstummten. Dem Impresario rutschte das Lächeln aus dem Gesicht.

»Ho, ho, ho!«, röhrte Santa ins Mikrofon und schlug gleich darauf unbeabsichtigt den Ständer mit einem seiner Metallarme um. Das Mikrofon küsste den Boden, die Soundanlage produzierte einen durchdringenden Fiepton. Santa trug den Mantel offen, die Ärmel waren aufgerissen. Sonst hätten die beiden Greifklauen auch nicht hindurch gepasst. Ein Ledergeschirr spannte sich über seiner Brust. Gesicht und Stirn waren mit Spuren getrockneten Blutes bedeckt, wie bei einer Darstellung von Jesus Christus mit der Dornenkrone. Die Zipfelmütze saß schief auf seinem Kopf, eine Verdickung zeichnete sich rings um den Schädel unter dem Samtstoff ab, als trüge er darunter noch drei Stirnbänder übereinander. Santas Augen waren glasig und weit aufgerissen.

Die Erscheinung ließ den Sack auf die Bühne plumpsen und bückte sich, um den Mikrofonständer aufzuheben. Dabei stieß sie mit dem Gesäß an den Thron und machte eine ungelenke Vierteldrehung, wobei die rechte Greifklaue ganz beiläufig die Rückenlehne des Throns zerfetzte. Auch das war keine geplante Bewegung gewesen. Santa war nicht gut dabei. Santa war in Wirklichkeit gar nicht Santa.

Es war der Killercyborg, der sich als Santa verkleidet hatte!

Sie erkannten ihn trotzdem alle.

Jetzt war die Lebhaftigkeit der versammelten Menge von gänzlich anderer Natur als noch während des Konzerts. Statt zur Bühne hin, drängten nun alle davon weg. Die Kinder rannten schreiend zu ihren Mommies und Daddies. Der Impresario stolperte rückwärts über den Bühnenrand und stürzte.

»Aber Kinderchen, kommt doch her zu mir!«, setzte sich die nun wieder verstärkte Stimme des Horror-Santas durch. »Ich hab Geschenke für euch!« Eine Metallklaue schnappte sich den Sack und schlitzte unbeholfen den Stoff auf. In Glitzerpapier gewickelte Gaben fielen heraus. »Ich bin’s doch – euer Santa!«

In der anderen Greifklaue knickte der Mikrofonständer jetzt um wie ein Strohhalm. Ärgerlich packte der Cyborg das Mikro nun mit seiner Menschenhand, die halb von dem Metallarm verdeckt wurde. »Habt keine Angst! Lauft doch nicht weg!«

Aber die Besucher waren nicht überzeugt, im Gegenteil: Jetzt rannten alle um ihr Leben.

Bis auf Hank und Jip. Hank, weil ihn der Schock in eine üble Parkinson-Starre versetzt hatte und Jip, weil Hanks eingefrorene Finger die Leine nicht losließen. Der Mischling zog, kläffte.

»Bleibt!«, brüllte der Cyber-Santa. »Bleibt hier, verdammt noch mal!«

Alle Therapieerfolge, die Hank in den Monaten nach der Roboterattacke im Herbst erzielt hatte, zerfielen endgültig zu Staub. Seine Pillen versagten. Er konnte die Augen nicht von der Weihnachtskatastrophe auf der Bühne abwenden. Er spürte, wie er sich einnässte.

»Feuer!«, schrie jemand in der Menge. »Der Baum brennt!«

Der Impresario hatte sich aufgerappelt und humpelte an Hank vorbei. »Kommen Sie!«, rief er, nahm Hank am Arm und ließ ihn gleich wieder los, als er merkte, wie steif der ältere Herr mit dem sperrangelweit offenen Mund war.

Der goldene Thron segelte über ihre Köpfe und krachte in eine Bude gegenüber. »Ihr sollt hier bleiben!!« , kreischte der Cyborg in das übersteuernde Mikrofon.

»Scheiße!«, schrie der Impresario. »Laufen Sie!« Dann ging er mit gutem Beispiel voran.

Jip bellte wie verrückt.

»Argh!«, krächzte Hank und kippte um.