29.

Es war erschreckend, wie schnell selbst ein fünfundzwanzig Meter hoher Nadelbaum Feuer fing. Gerade noch waren die Flammen erst an der breiteren Basis gewesen, jetzt brannten schon zwei Drittel des Baumes lichterloh. Die Hitzeentwicklung war so stark und kam so plötzlich, dass die Besucher des Weihnachtsdorfes fluchtartig davor zurückwichen. Es war sinnlos, sich als Einzelner gegen die Masse stemmen zu wollen. Im Übrigen wollte auch Ellen nichts anderes, als weg von dem Brandherd.

Ricco hielt ihren Arm fest im Griff. So fest, dass es weh tat. Trotzdem war Ellen froh über seinen Griff. Andernfalls wären sie in dem Geschiebe sofort getrennt worden. Jetzt rempelte jemand Ricco fast über den Haufen, sodass er hart gegen sie prallte.

»Pass doch auf!«, schrie Ricco dem Kerl hinterher, aber es war müßig, in dieser zunehmend kippenden Stimmung Wortgefechte vom Zaun zu brechen. Panik lag in der Luft.

»Wir müssen raus aus dem Gewühl!«, brüllte Ricco über die Schuler. »Da lang!« Er zeigte in Richtung des kürzesten Wegs zu dem aufsteigenden Treppenhalbrund, das den Vorplatz der Markthallen einfasste.

Ellen nickte.

Im nächsten Augenblick hatte sie das Gefühl, in eine Schraubzwinge geraten zu sein. Die Menschen vor ihnen wichen plötzlich zu ihnen zurück – oder wurden von den Massen davor ihrerseits zurückgeschoben. Gleichzeitig drängten die Leute hinter ihnen weiter, weg von dem brennenden Riesenbaum. Ellen ging die Luft aus. Das war kein Spaß mehr, war weit mehr als nur unangenehm. Das war gefährlich.

Sie ruckte an Riccos Griff. Als er zu ihr zurück blickte, bedeutete sie ihm, ihr zwischen zwei Buden zu folgen. Das war leichter gesagt als getan. Erst, als sie durch eine Laune der Massen vorübergehend etwas Raum bekamen, gelang es ihnen, sich aus ihrer eingekeilten Lage zu befreien und in den Spalt zwischen den nahegelegenen Buden zu schlüpfen.

Der Spalt verengte sich nach innen. Ellen musste sich dünn machen, um auf der Rückseite der Buden wieder herauszukommen. Sie standen vor dem Springbrunnen, um den lauter Budenrückwände einen Kreis bildeten. Im nächsten Augenblick wurde die Bude rechts von ihnen mit solcher Gewalt von dem Mob bedrängt, dass die ganze Hütte bis an die untere Brunnenschale herangedrückt wurde. Holz knirschte.

Ellen zögerte nicht. »Da rauf!«, kommandierte sie über den Lärm der verängstigten Menschenmasse hinweg und deutete auf den Springbrunnen. Er bestand aus drei Bassins übereinander. »Ganz nach oben!«

»Aber hier stecken wir fest!«

Ellen sah die Panik in Riccos Augen und brachte ihr Gesicht dicht vor das seine. »Ja, aber hier sind wir erst mal sicher!«, rief sie. »Da draußen werden wir noch totgequetscht!«

Ricco diskutierte nicht länger.

Sie erklommen den Brunnen und stiegen in das unterste Bassin, das erstaunlich tief war. Das Wasser darin reichte ihnen fast bis zum Schritt. Sie wateten zum Rand des nächsthöheren, kleineren Bassins, kletterten daran hoch und zogen sich schließlich auch noch bis in die dritte, oberste Schale empor. Dass sie dabei nass wurden, war nicht zu ändern. Nasse Klamotten waren gerade ihr geringstes Problem.

Das oberste Bassin war höher als die Dächer der umgebenden Verkaufsstände. Von hier oben hatten sie eine gute Aussicht. Mittlerweile hatten noch weitere Besucher die gleiche Idee gehabt und sich in dem Kreis aus Bretterbuden an dem Brunnen vorläufig in Sicherheit gebracht.

Es war schwer, die Augen von dem brennenden Riesenweihnachtsbaum abzuwenden. Dicker Rauch stieg von seinen Zweigen auf. Jede Woche hatte der Bürgermeister sich aufs Neue vor dem rekordträchtigen Baum ablichten lassen, immer in einer anderen Pose. Jetzt hatte jeder hier nur noch eines im Sinn: So schnell es irgend ging vor dem Inferno Reißaus zu nehmen – ohne Rücksicht auf Verluste.

»Ihr sollt hier bleiben!« , übertönte eine schrille, verstärkte Stimme von der großen Bühne die allgemeinen Paniklaute.

Ellen riss sich von dem flammenden Baum los und lenkte ihre Aufmerksamkeit in die Gegenrichtung, der Bühne zu. Wegen des ungünstigen Blickwinkels konnte sie nicht sehen, was dort vor sich ging; die Bühne war schräg zu ihrem jetzigen Standort errichtet worden.

Ricco erblasste. »Er ist hier!«, presste er hervor. »Der Professor! Der Cyborg! Das war seine Stimme gerade!«

»Traumhaft!«, kommentierte Ellen.

Sie zweifelte keine Sekunde daran, dass Ricco recht hatte. Nun, wo sie darüber nachdachte, war auch ihr die Stimme gleich bekannt vorgekommen. Verzerrt durch die Soundanlage auf der Bühne, hatte sie sie nur nicht gleich zuordnen können. Auch Ellen hatte den Professor ja schon früher erlebt, im Zwiegespräch mit ihrem Dad, fachsimpelnd über verzwickte Detailfragen beim Goofy-Tuning.

Während sie noch schaute sah sie deutlich, dass zwischen den Buden nun zwei gegenläufige Menschenströme aufeinanderprallten: Die Leute, die vor dem gigantischen brennenden Weihnachtsbaum flohen und jene, die sich vor dem Killercyborg auf der Bühne in Sicherheit bringen wollten. Die Schreie aus dem Gedränge wurden höher, gellender. Angstschreie. Schmerzensschreie. Die Leute, die zwischen diese beiden Strömungen gerieten, wurden von der Wucht der Menge gequetscht.

Sie suchte Riccos Hand.

Dann doch besser hier im Wasser sitzen! Hier kamen sie zwar nicht weg, doch ihnen blieb Luft zum Atmen, und ihre Rippen blieben heil – vorerst.

Immer mehr verängstigte Leute retteten sich jetzt in den Budenkreis rings um den Springbrunnen. Die unteren beiden Bassins waren bereits voll besetzt. Jemand Drittes quetschte sich zu ihnen auf die Spitze. Am Ende würden sie ihren Platz hier oben noch gegen andere verteidigen müssen!

Die Verkaufsstände wackelten zunehmend unter dem Druck der Masse. Jemand geriet zwischen den unteren Brunnenrand und die Rückseite einer von den panischen Menschen verschobenen Bude. Der Unglückliche schrie wie am Spieß. Die Waren auf den Tischen wurden umgerissen. Zwar wichen allmählich auch immer mehr Menschen über die Treppen und auch in die gegenüberliegenden Markthallen zurück, doch die Panik machte viele kopflos und desorientiert. Es war alles andere als ein geordneter Rückzug.

»Bin ich froh, dass du uns hier her gelotst hast!«, rief Ricco Ellen ins Ohr.

Ellen zog Ricco an sich. Schloss die Augen und wünschte sich meilenweit fort.

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie die Quelle des zweiten Fluchtstroms: den Cyborg.

Er stand auf der Versammlungsfläche vor der Bühne, hatte eine Seitenwand aus einer Essensbude gerissen und schleuderte die Wand nun in einen benachbarten Verkaufsstand. Sein Mund schien offen zu klaffen, aber da er kein Mikrofon mehr hatte, war nicht zu verstehen, was er schrie.

»Oh Gott«, stammelte sie. »Du hattest recht! Da vorne ist er!«

Ricco drehte sich um. »Scheiße!«

Polizeikräfte strömten jetzt über die Treppen hinab, wurden aber von den kopflos fliehenden Menschen behindert. Hinter den Markthallen erklangen Feuerwehrsirenen. Längs der Hallen gab es eine Zuwegung bis zu dem Vorplatz mit den Buden. Doch solange die verschreckten Besucher den Platz verstopften, würde der Löschzug nicht bis zum Brandherd durchdringen.

Das Geräusch von Rotorblättern schnitt durch die Schreie. Über dem Platz war nun mindestens ein Helikopter in der Luft.

Gebannt starrte Ellen wieder auf den Cyborg, der jetzt auch den Rest der Bude zertrümmerte. Dabei kippte der Grill mit den Fritteusen um. Ein Schwall heißes Frittierfett ergoss sich auf das Pflaster und über den Fuß des Cyborgs. Jetzt hörte Ellen ihn auch unverstärkt bis hierher brüllen.

Es war ganz eindeutig, dass der Professor vollkommen von Sinnen war. Er taumelte von der Bude fort und drehte sich mehrfach um sich selbst, während er auf einem Bein hüpfte. Am Ende wäre er gestürzt, wenn nicht plötzlich eine ausgefranste schwarze Wolke auf ihn nieder gekommen wäre und ihn an den Schultern gepackt hätte.

»Die Microbots!«, entfuhr es Ricco.

Dann schien der Cyborg sich zu besinnen. Er bückte sich nach etwas, das aussah wie eine große schwarze Schlange. Streckte eine seiner Cyberklauen aus und hob die Schlange an. Ein Teil des Roboterschwarms ließ sich auf dem angehobenen Stück nieder. Das musste eine temporäre Wasser- oder Stromleitung für die Buden sein, woran sich die Miniroboter da nun kollektiv zu schaffen machten.

»Ruhe bewahren!«, schmetterte ein Polizist durch ein Megafon. »Räumen Sie den Platz!«

Gleich darauf ging im Weihnachtsdorf das Licht aus. Die Schreie der Massen wurden noch lauter.

In der plötzlichen Dunkelheit versetzte jemand Ellen einen Schubs. Hätte Ricco sie nicht am Arm erwischt, wäre sie aus dem obersten Bassin gefallen. Ein vierter Besucher hatte die Spitze des Brunnens erklommen – nur, dass diese Schale vier Leuten auf einmal gar nicht genug Platz bot. Der nur schemenhaft erkennbare Neuankömmling dachte gar nicht daran, wieder zu gehen. Es gab Gerangel. Ellen biss die Zähne zusammen und mischte mit. Brunnenwasser spritzte. Hier ging es um nicht weniger als um das nackte Überleben!

»Der Baum!«, brüllte einer im nächstunteren Bassin.

In dem Ruf lag etwas so Alarmierendes, dass das wilde Geschubse für einen Augenblick zum Erliegen kam. Alle starrten zu dem brennenden Rekordbaum, der sich nun, wo der Strom ausgefallen war, noch dramatischer vor dem Nachthimmel abhob.

Dann brach die an der quergespannten Stahltrosse befestigte Baumkrone ab. Das Top des Stamms war durchgebrannt.

Einen Moment lang stand der lodernde Baum noch halbwegs aufrecht da, während er sich hierhin und dorthin neigte, als überlege er, in welche Richtung er am besten umfallen sollte. Ellen hielt den Atem an und spürte, dass Ricco neben ihr dasselbe tat.

Gleich darauf hatte sich der Baum entschieden. Er wählte das Zentrum des Platzes, in dem auch der Brunnen stand. Wie das Feuerschwert des Erzengels Michael sauste die Flammenpracht auf sie nieder.