30.

Special Agent Smith hasste das Gefühl, zu spät zu kommen. Wenigstens, wenn es um eine so ernste Situation ging wie jetzt. Sie hörten die aktuelle Entwicklung in Soontowns Weihnachtsdorf über den Polizeifunk mit. Zusätzlich bekamen sie laufend Informationen aus dem regionalen FBI Headquarter, wo die Kollegen nonstop die Livebilder der Satelliten auswerteten. Nötig war das alles nicht, um über die Dringlichkeit ihres Einsatzes Bescheid zu wissen: Schon von Weitem brannte sich der Anblick des entflammten Weihnachtsbaums in Smiths Netzhaut ein. Der Pilot hätte ihr Ziel auch nach Augenschein ansteuern können, ganz ohne Instrumente. Während des Anflugs auf den Helikopterlandeplatz auf dem Dach der Markthallen schwor sich Smith, zu retten, was noch zu retten war.

»He, Smiley, können Sie ihren Störsender vielleicht schon von hier aus einsetzen?«, wandte sie sich an den IT-Spezialisten mit der Baseball Cap und dem Hipster-Bärtchen. Die Technikabteilung hatte in den letzten Tagen ein tragbares Gerät gebastelt, mit dem sie die Funkverbindung des Killercyborgs zu seinem Drohnenschwarm zu kappen hoffte. Smith hatte fest damit gerechnet, dass Smiley sich während des Flugs übergeben würde, doch bislang hielt er sich ganz gut.

»Negativ«, antwortete der IT-Spezialist. »Wir müssen erst den Mindestabstand unterschreiten. Hier sind wir noch zu weit weg.«

»Und wie nah ist nah genug?«, hakte Smith nach.

»So auf hundert Meter müssen wir schon an ihn herankommen«, erklärte der ITler. »Besser auf fünfzig. Ganz genau kann ich Ihnen das nicht sagen. Wir konnten den Störsender ja nicht wirklich testen. Dafür hätten wir ja quasi einen zweiten Cyborg erschaffen müssen und …«

»Danke, schon gut«, winkte Smith ab. »Ein Cyborg reicht vollkommen.«

Vertrauter Zitronenduft stieg ihr in die Nase. Neben ihr hatte McMowan ein Erfrischungstuch aufgerissen. Nachdem er sich damit das Gesicht abgetupft hatte, stopfte er das Tuch in seine Jackettasche und prüfte seine Halbautomatik.

Smith beobachtete ihn dabei. Wenn ihr Partner mit seiner Waffe hantierte, beruhigte sie das immer ein Stück weit. Ohne es zu wollen, stellte sie sich McMowan dann immer mit Cowboyhut vor. Der Sheriff war bei ihr, und er war bewaffnet.

Sie wandte sich ab. Verfolgte, wie das Dach der Markthallen näher kam. Ihre Sheriff-Fantasien waren albern, das wusste sie. Sie hatte die gleiche Ausbildung an der Waffe durchlaufen wie ihr Partner, konnte ebenso gut schießen, wenn es darauf ankam. Trotzdem: Sobald McMowan den Revolver in der Hand hielt, strahlte er für Smith etwas aus, das Sicherheit verhieß.

Eine trügerische Sicherheit.

Dort unten waren viel zu viele Menschen für eine freie Schusslinie. Das Weihnachtsdorf war zu einem Hexenkessel geworden. Wann immer einer von Oakfields Officers den letzten Stand der Dinge durchgab, konnte man über den Polizeifunk die panischen Schreie der Menge im Hintergrund hören. Es war nicht leicht, bei diesen Schreien die Ruhe zu bewahren.

Die Kufen des Helikopters setzten auf. Noch ehe die Maschine ganz stand, hatte McMowan schon die Tür aufgerissen und war auf den Landeplatz gesprungen. Er half erst Smith, dann dem IT-Bubi aus der Kanzel. Hinter ihnen stiegen sechs Jungs fürs Grobe aus, Maschinenpistolen in den Fäusten, Sonderausrüstung an den Gürteln. Schlagstöcke. Nebelbomben. Tränengas. Das ganze Programm.

Die Kavallerie ist da.

Am Rand der Plattform wartete bereits ein Police Officer auf sie. »Hier entlang!«

Sie eilten hinter dem Mann her, ein Treppenhaus hinunter. Durchquerten die Markthallen. Die Stände dort waren verlassen, obwohl das Licht noch brannte. Die Hallen waren weitgehend geräumt worden.

Noch ehe Smith ins Freie trat, hörte sie das Chaos auf dem Vorplatz. Live – keine Übertragung diesmal. Es klang, als tobe eine Schlacht. Mehrere Trupps Polizeibeamter versuchten, der Menge Herr zu werden, die durch die frontalen Eingänge der Markhallen quoll. Die Leute waren außer sich vor Angst. Der Officer führte das FBI zu einem Nebenausgang. Mehrere Feuerwehrsirenen schnitten von dort durch den Lärm. Auf dieser Seite verlief die Zufahrt zu dem Vorplatz, auf dem die Buden standen. Auf der Zufahrt stauten sich mehrere Löschfahrzeuge und Ambulanzen. Ehe die Feuerwehrleute den Baum erreichen konnten, mussten erst noch mehr Besucher aus dem Weihnachtsdorf verschwinden.

Sie hetzten an den Fahrzeugen vorbei und erreichten die ersten Verkaufsstände unter freiem Himmel. Dabei kamen ihnen zwei Sanitäter mit einer Trage entgegen. Smith sah einen älteren, bewusstlosen Herrn darauf liegen. Ein Officer lief mit einem Hund an der Leine hinterdrein. Überall versuchten versprengte Zivilisten, sich von dem Platz zu entfernen. Es waren zu viele und sie waren zu panisch, um die Bewegungen der Masse unter Kontrolle zu kriegen. Ein Blick verriet Smith, dass es auf den Treppen ringsum kaum besser aussah.

Etwas kleines, Schwarzes surrte am Rand ihres Blickwinkels durch die Luft. Sie wirbelte herum, verfolgte das Ding instinktiv über die Kimme ihres Revolvers, obwohl es viel zu klein für einen Treffer war.

Microbots! Hier sind wir richtig!

Doch ein paar dieser Miniroboter reichten nicht, um den Störsender einzusetzen. Sie mussten den Cyborg selbst stellen. Nur dann würde das Gerät den ganzen Schwarm auf einmal erwischen – hoffentlich. Alles andere würde Flickwerk bleiben und von kurzer Dauer sein. Schon der nächste Impuls der umgebauten Steuereinheit des Outdoor Pro würde die Käfer laut den Technikern wieder aktivieren. Nein, sie mussten das Übel an der Wurzel packen. Ganz abgesehen davon, dass sie neben dem Schwarm auch den Cyborg selbst zur Strecke bringen wollten.

Wo steckst du, du Bastard?!

Smith horchte, ob sie aus einer bestimmten Richtung das Wüten des wahnsinnigen Killers mit seiner Cyberausrüstung orten konnte, doch der Lärmpegel auf dem Vorplatz war zu hoch, auch, wenn ein Teil der Menschen sich mittlerweile über die Treppen oder die Markthallen in Sicherheit gebracht hatten.

»Wir teilen uns auf«, entschied sie. »McMowan, du kämpfst dich mit drei Leuten links durch die Passage am Fuß der Treppen. Ich gehe mit den anderen durch die Mittelgasse.«

Ihr Partner nickte knapp und winkte dann der Hälfte ihrer schwer bewaffneten Begleiter, ihm zu folgen.

»Und ich?«, wollte der IT-Hipster mit dem Störsender wissen.

»Du kommst mit mir, Q.«

Den Griff ihres Colt Mustang Pocket Lite 7.0 mit beiden Händen umschließend, führte Smith ihre kleine Truppe in die Schlacht. Ihr Auftreten musste einen gewissen Eindruck auf die Leute machen, denn die meisten wichen ihr und ihren Männern aus, auch, wenn sie vor Angst teils völlig unzurechnungsfähig waren. Je weiter sie aber zwischen die Buden vordrangen, desto dichter und ungestümer wurde das Gewimmel.

Dann kam die Bühne für die Livemusik und für die Auftritte von Santa Claus in Sicht. Smith meinte, auf der Versammlungsfläche vor der Bühne eine einzelne Gestalt auszumachen, jemanden mit ungewöhnlich langen Armen. Sie fuchtelte mit ihrem Revolver. »Da lang! Zur Bühne! Ich glaube, ich seh ihn!«

Im nächsten Augenblick sah sie nichts mehr, weil der Strom im ganzen Weihnachtsdorf ausgefallen war. Nur der riesige brennende Baum erhellte noch den Kessel. Nun, in der Dunkelheit, sah er aus wie ein lodernder Spalt ins Höllenreich.

Gleich darauf schrie einer von Smiths Begleitern auf. Sie fuhr herum. Zwei der Männer mit den Maschinenpistolen waren zur Seite getaumelt, der dritte war weg. Der ITler mit der Baseball Cap war vor Schreck gestolpert, kniete auf dem Boden, hatte seinen Sturz mit den Händen abgefangen. Smith sah noch, wie ein seltsamer Schatten mit dem Nachthimmel verschmolz, während der Schrei sich entfernte.

Vom Himmel hoch da kam er her …

Smith packte Smiley und zog ihn auf die Beine. »Das war er! Der Störsender, verdammt! Aktiveren Sie ihn!«

Die beiden anderen Männer zielten mit ihren MPs in die Richtung, in der ihr Kamerad verschwunden war, doch im Nachthimmel war schon nichts mehr zu sehen.

Der ITler packte das Gerät, das ihm an einem Gurt um den Nacken hing, und drückte auf den Knöpfen herum.

»Und?«, fauchte Smith. »Funktioniert es?«

»Weiß ich nicht. Ich glaube, der Sender ist auf dem Pflaster aufgeschlagen, als ich hingefallen bin.«

Dann gab der brennende Gigant von einem Weihnachtsbaum Smith die Antwort, als eine groteske schwarze Wolke mit vier Beinen in etwa zehn Metern Höhe als finstere Silhouette vor der Feuersbrunst vorbeiflog. Ihre Männer rissen die MPs hoch, schossen aber nicht. Allzu leicht konnten sie dabei ihren entführten Kameraden in den Klauen des Cyborgs treffen oder die Menschen dahinter, auf den Treppen. Gleich darauf war ihr Ziel wieder in der Dunkelheit verschwunden.

Smiths Blick blieb auf den Baum geheftet, der plötzlich sichtbar schwankte. Die glühende Spitze hing jetzt alleine von der Stahltrosse, die den Baum bislang stabilisiert hatte. Der Stamm hatte unter dem Feuer nachgegeben.

»Oh nein«, murmelte Smith.

Neben ihr hatte Smiley entsetzt die Hände an seine Wangen gehoben. Sie konnte es ihm nicht verübeln. Er war nur ein Computerspezialist, der seine Tage am Schreibtisch verbrachte. Selbst ihr langes Training zum Special Agent hatte sie nicht auf den Anblick vorbereitet, als der größte Weihnachtsbaum des Central Valley jetzt Schlagseite bekam und dann in einem Funkensturm mitten in das Weihnachtsdorf krachte. Es knackte und knisterte, brennende Nadelzweige flogen in alle Richtungen. Obwohl sie mit ihren Leuten weit genug entfernt stand, schloss Smith reflexartig für eine Sekunde die Augen.

»Aktivieren Sie endlich Ihr dämliches Gerät!«, schnauzte sie den ITler an.

Mit zitternden Händen fingerte Smiley an dem Kasten vor seinem Bauch herum, während die zwei Agents versuchten, in alle Richtungen gleichzeitig zu schauen, den Luftraum eingeschlossen.

»Mist! Die Elektronik hat was abgekriegt!«, meldete Q. »Jetzt ist da ein Wackler drin oder sowas!«

»Ein Wackler, so!« Smith dachte, dass sie es hätte wissen müssen. Sie waren hier schließlich in Soontown – dem Dreckskaff, in dem traditionell alles schief ging. In dem jeder fucking Einsatz aus dem Ruder lief. Es war wie ein Fluch. »Dann machen wir es eben auf die grobe Tour! Los! Weiter!«

Die Waffe vorgestreckt, ging sie tiefer in die Mittelgasse hinein. Die Schreie der Verletzten und das Weinen der Verängstigten empfing sie.

Shit! Hoffentlich ist McMowan erfolgreicher als ich!

In ihrem Rücken fiel nun das Blaulicht des Löschzugs auf den Vorplatz. Wenigstens schien die Feuerwehr es endlich an den Ort des Geschehens geschafft zu haben. Keinen Moment zu früh: Der umgestürzte Riesenbaum würde die Buden in Brand setzen, die er unter sich begraben hatte. Smith hoffte, dass es keine Menschen erwischt hatte.

Die Mittelgasse mündete in eine kreisförmige, beiderseits von Verkaufsständen gesäumte Umgehung, in deren Zentrum sich ein Brunnen erhob, den der gekippte Baum nur knapp verfehlt hatte. Auf die Schalen des Brunnens hatten sich mehrere Besucher geflüchtet. Als der Baum gefallen war, mussten sie geglaubt haben, ihr letztes Stündlein habe geschlagen.

»Zeige dich!«, flüsterte Smith. Dann schrie sie es als Herausforderung zu den Sternen: »ZEIGE DICH!!«

Eine rote Santa-Claus-Mütze landete direkt vor ihren Füßen. Sie riss die Waffe hoch, bereit, zu feuern. Doch es war nur ein einzelner Microbot gewesen, der ihr die Mütze gebracht hatte und schon wieder fortflog, ein kleiner schwarzer Punkt vor einem dunklen Himmelszelt.

Smith starrte die Mütze mit dem weißen Bommel an. Sie verstand die Botschaft sehr genau. Der Killercyborg nahm ihre Herausforderung an. Er hatte ihr gewissermaßen den Fehdehandschuh hingeworfen.

Sie tippte an den Knopf in ihrem Ohr. »Suchscheinwerfer! Schickt den Heli wieder hoch! Ich will, dass der ganze, beschissene Kessel hell wird!«

Ab sofort war das hier kein Weihnachtsdorf mehr. Es war eine Arena. Lasst die Spiele beginnen! Special Agent Smith gegen den Killercyborg von Soontown.

Wetten werden noch angenommen.