31.
Rowan, Morton und Woodstein hatten es bis in die Markthallen geschafft. Sie waren mit die Ersten gewesen, die sich dort in Sicherheit gebracht hatten. Pures Glück: Ihr Standort am äußeren Rand der Zuschauerschar vor der Bühne war günstig gewesen. Kaum hatte der Killercyborg die Bühne betreten, waren die drei durch den breiten, mittleren Zugang zu den Hallen verduftet. Das hatten sie vor allem Woodsteins schneller Reaktion zu verdanken. Der Automechaniker hatte den Cyborg sofort wiedererkannt, Rowan und Morton hatten sich an ihn dran gehängt.
Jetzt standen sie neben Woodsteins Pickup, auf der obersten, dachlosen Ebene in dem Parkhaus auf der anderen Seite der Markthallen, rangen nach Luft und lauschten betreten dem Lärm der Massenpanik, der vom Weihnachtsdorf herüberscholl.
»Schwein gehabt«, sagte Morton und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Burgerpatties kneten konnte er den ganzen Tag, aber solche Sprints waren einfach nicht sein Ding.
»Allerdings«, schloss sich Rowan schwer atmend an.
»Dieses Schwein scheint die Party gründlich aufzumischen«, knurrte Woodstein. »Hol’s der Geier! Ich hab noch nicht vergessen, was er mit meiner Werkstatt angestellt hat!«
Rowan und Morton nickten düster. Sie hatten nicht Woodsteins unmittelbare Erfahrung mit dem Cyborg, aber sie hatten die Bilder auf TNT TV gesehen.
Die Kiefer des Indianers mahlten. »Schmeckt mir ganz und gar nicht, dass der Drecksack Weihnachten so versaut.«
»Ja«, stimmte Morton zu. »Aber was hätten wir schon tun können? Ich meine, außer weglaufen? Das war doch nur vernünftig. Die Cops werden sich um ihn kümmern.«
Woodstein schnaubte. »Die haben ihn schon die ganze Woche nicht erledigt. Und jetzt stehen wir hier, in die Flucht geschlagen wie die Hasen vom Kojoten!«
»Sei froh, dass wir’s bis hier her geschafft haben«, gab Rowan zu bedenken. »Wenn ich das Geschrei so höre, geht’s da draußen jetzt richtig heiß her.«
Sie schwiegen kurz. Die Geräusche klangen wie die Tonspur aus einem Kriegsfilm. Das nackte Grauen.
»Wir könnten ins Yard’s fahren«, regte Rowan an. »Ein Bier trinken auf den Schrecken. Sicher bringen sie’s live in den Feeds.«
Mortons Miene hellte sich auf. »Da wär ich dabei.«
Woodstein sah von einem zum anderen. Schließlich schüttelte er langsam den Kopf. »Ich bin schon einmal vor diesem Irren abgehauen. Ich werde nicht wieder weglaufen. Und mir dann beim Bier die Verwüstung ansehen und mit den Schultern zucken.« Seine Augen waren schmal geworden, sein Mund war ein entschlossener Strich. »Es gab mal eine Ära, da haben Amerikaner Recht und Ordnung in ihrem Land noch selbst in die Hand genommen. Wenn ihr mich fragt: Es ist höchste Zeit, daran anzuknüpfen.«
Morton kratzte sich am Kopf. »Ähm … Was genau denkst du denn, können wir tun?«
»Klingt, als gäb’s Verletzte da draußen«, sagte Woodstein. »Wir können zurück zum Eingang gehen und erste Hilfe leisten. Das wäre das Mindeste. Ich hab einen Verbandskasten im Wagen.«
»Uh … Zurückgehen?«, murmelte Rowan.
»Wer weiß, wo der Cyborg sich überall rumtreibt …«, gab Morton zu bedenken.
»Zum Teufel!«, fuhr Woodstein auf. »Was seid ihr doch für Memmen! Am Tresen große Sprüche klopfen, das könnt ihr! Aber wenn Zivilcourage gefragt ist, wenn es gilt, selbst anzupacken, dann fangt ihr an zu zittern!«
»Also hör mal …«, wehrte sich Morton.
»Was können wir denn schon ausrichten?«, begehrte Rowan auf. »Ich mein, der Typ kann schließlich fliegen!«
»Exakt«, bestätigte Woodstein. »Er kann fliegen – die Cops nicht. Das ist Teil des Problems.«
Der Automechaniker nahm Rowans Blick gefangen. Der Moment zog sich. Rowan wurde unter diesem Blick unbehaglich. Langsam dämmerte ihm, worauf Woodstein hinaus wollte. Seine Eingeweide zogen sich zusammen. »Du … Du willst nicht ernsthaft auf den Scootern da raus! Das wäre Wahnsinn! Glatter Selbstmord!«
Woodstein lächelte kalt. »Interessant, dass gerade du das so siehst. Wenn ich daran denke, wie du heute Mittag auf so einem Teil geflogen bist! Scheiße noch mal! Ein Kamikaze-Pilot ist nichts gegen dich! Völlig entfesselt warst du, ganz in deinem Element. Und jetzt bist du zu feige, um das zu tun, was dir im Blut liegt und deine vermutlich einzige echte Stärke in den Dienst der Leute da draußen zu stellen! Was für ein Armutszeugnis!«
Rowan presste die Lippen aufeinander. Er fühlte sich in die Enge getrieben.
Plötzlich drang ein mächtiges Krachen vom Vorplatz zu ihnen herüber. Rowan meinte, dabei das Parkdeck unter seinen Füßen zittern zu spüren.
Morton war blass geworden. »W-w-was war das denn schon wieder?«
»Keine Ahnung«, sagte Woodstein grimmig. »Irgendeine neue Teufelei des Killercyborgs. Dieser Santa aus der Hölle, der unsere Stadt zerlegt, während wir die Hände in die Hosentaschen stecken und zusehen.« Noch immer hielt er Rowans Blick fest.
Am Ende senkte Rowan den Kopf. »Also gut.« Er schluckte. »Ich bin dabei.«
»Das ist der Spirit, Soldat!« Woodstein kletterte auf die Ladefläche des Pickups und schnallte die Air Scooter los. »Hopp! Packt mal mit an!«
Zu dritt wuchteten sie die Scooter vom Wagen. Im Anschluss wühlte Woodstein noch im Handschuhfach herum und warf Morton einen Verbandskasten zu. »Geh und mach dich nützlich. Wir werden dem Drecksack so lange mal ein bisschen einheizen!«
Rowans Hände krampften sich um die Lenkstange seines Scooters. Aus dieser Nummer kam er jetzt nicht mehr heraus. Seine Gedanken rasten und drehten sich auf der Suche nach einem Ausweg im Kreis.
Woodstein trat vor ihn und hielt ihm die Key Card auf Augenhöhe hin. »›Die drei schlimmsten Übel sind Dummheit, Faulheit und Feigheit.‹«, zitierte er. »Zitat von Tecumseh, Häuptling der Shawnee-Indianer. Vielleicht schon mal von ihm gehört.«
»Jau«, murmelte Rowan. Und fügte, als Woodstein sich abgewandt hatte, leiser hinzu: »Und ich weiß auch, was es mit dem für ein Ende genommen hat.«
Woodstein schob seine Key Card in den Slot und betätigte den Anlasser. »Wir bleiben zusammen«, instruierte er Rowan. »In Formation. Wenn wir ihn in die Zange nehmen, ist die Chance größer, dass einer von uns an seinem Roboterschwarm vorbei und bis zu ihm durch kommt. Klar?«
Ja. Logisch. ›In Formation.‹ Zu zweit. Da lachen ja die Hühner!
»Vroom vroom!« Der Automechaniker riss das Gas auf und startete von dem Parkdeck in den Nachthimmel.
Rowan warf einen letzten, hilfesuchenden Blick auf Morton, aber der hob nur die Schultern, den Erste-Hilfe-Kasten an seine Brust gedrückt.
Dann steckte auch Rowan seine Key Card in den Slot und betätigte die Zündung. Eine große Leere breitete sich in ihm aus.
»Pass auf dich auf«, gab Morton ihm noch mit auf den Weg. »Falls du’s nicht überlebst: Tim wird bei mir immer einen Gratisburger kriegen. Das versprech ich.«
»Oh. Toll.« Rowan grimassierte, drehte den Hahn auf und hob ab.
In der Luft fiel sein Blick auf die Tankanzeige. Die Nadel war im roten Bereich. Wenn er doch nur ein paar Kunststückchen weniger geflogen wäre heute Mittag! Aber wer konnte schon ahnen, dass sich dieser erste Weihnachtstag so entwickeln würde? Wer, bitte, hätte diesen ganzen Mist vorhersehen können?
Fuck.
Vor ihm drehte Woodstein eine Schleife und scherte dann neben Rowans Scooter ein. Gemeinsam schossen sie über die Dächer der Markthallen. Im Anflug sahen sie mindestens zwei Helikopter, die über dem Weihnachtsdorf schwebten. Suchscheinwerfer durchschnitten die Nacht. Dabei fiel Rowan auf, dass der große Christbaum nicht mehr stand. Das also war der Rums gewesen vorhin! Gott! Wenn der Cyborg selbst diesen Riesenbaum fällen konnte, was zum Henker sollte er, Rowan, dann mit einem popeligen Scooter gegen diesen Hightech-Killer ausrichten? Neben ihm machte Woodstein ein Gesicht wie Superman beim Angriff auf den Erzschurken Metallo.
Rowan dachte: Wenn ich jetzt abdrehe, schaff ich’s vielleicht noch bis zum Yard’s.
Aber er drehte nicht ab. Er wusste selbst nicht, warum. Es war kein Mut, gewiss nicht. Es war auch keine Vasallentreue zu Woodstein. Rowan hatte sich noch nie wirklich jemandem gegenüber verpflichtet gefühlt – keinem Arbeitgeber, keinem Freund, schon gar nicht seiner Ex-Frau. Und selbst Tim, seinem Sohn, stand er nur bedingt zur Seite. Rowan hielt viel davon, wenn Kinder früh selbständig wurden und sich ihr Frühstück alleine machten. Er wollte auch ganz sicher nicht den Helden spielen, wie Woodstein, dieser verstrahlte Autoschrauber mit dem Indianerblut in den Adern. Trotzdem flog Rowan weiter, den Oberkörper über die Lenkstange geneigt, die Zähne gebleckt.
Vielleicht war es ja schlicht Todessehnsucht? Lieber ein Ende mit Schrecken, als zurück in Mortons Snack Corner, Burgerpatties wenden …
Dann lag das Weihnachtsdorf unter ihnen.
Feuer.
Rauch.
Menschen, die in alle Richtungen stoben.
Helikopter und Suchscheinwerfer.
Es war wie im Film – wie in einem dieser lausigen Hollywood-Action-Kracher. Nur, dass Rowan diese Rolle gar nicht haben wollte.
Vroom, vroom.