Mehr Lesestoff

Clark C. Clever ist Florian Clever.

Florian Clever ist Clark C. Clever.

SCHWERT & MEISTER

Fantasy-Saga in sechs Teilen, von Florian Clever

Zum Inhalt:

Ein finsterer Gott kehrt aus der Verbannung zurück. Noch ahnt der junge Glen nichts davon. Er besitzt die seltene Gabe, Niyn aufzuspüren, ein magisches Erz. Waffen aus Niyn haben mächtige Zauberkräfte. Als ein grausamer Fürst das Niyn begehrt, gerät Glen in Bedrängnis. Ein gefährliches Abenteuer beginnt, nur das Zaubererz steht Glen zur Seite. Bis das Schicksal ihn mit sechs Gefährten zusammenbringt. Gemeinsam wagen sie das Unmögliche: die Herrschaft des dunklen Gottes für immer zu brechen.

›... in jeder Seite spürt man die Spannung, das Sirren der phantastischen Welt kurz bevor sie auseinanderbirst.‹
– Buchgespenst (auf Lovelybooks)

MESRÉE-SAGA
Fantasy-Saga in zwei Teilen, von Florian Clever

Die Stadt der stillen Wasser (1)

Die Stadt der stillen Feuer (2)

Zum Inhalt:

Die Stadt Mesrée leidet unter einer langen Dürre. Schlimmer noch, ein kriegerisches Wüstenvolk zieht gegen die stolzen Mauern. Während die Eliten Mesrées zittern, kommt der Ratsschreiber Sajit mit einer mythischen Macht in Berührung. Einer Macht, die Mesrée nun dringend braucht, denn auch hinter dem Angriff der Wüstensöhne steckt mehr, als das Auge zunächst sieht. Sajit aber fühlt sich als Sandkorn in dem Sturm, der über seine Heimat hereinbricht. Er will keine Macht, er will nur Misha retten, seine Geliebte.

'Fantasy auf ganz hohem Niveau.' -Libramorum

Leseprobe:

Im Jahr 826 der Propheten, 7. Tag der Trockenzeit. Mittagsstunde.

Ein Paradies. Eine üppige Pflanzenwelt. Reine, sprudelnde Gewässer. Tiere aller Arten, zwischen den Bäumen, in Flüssen und Seen, Vögel in der Luft. Und in der Mitte: Menschen in einem Leben voller Überfluss.

Mabrouk tauchte den Pinsel in die Schale mit der ockerfarbenen Paste und malte das Bein einer Antilope. Trat zurück und prüfte das Ergebnis. Der Körper war anmutig, die Kopfhaltung stolz. Er hatte ein Weibchen im Sinn gehabt und fand, dass die Darstellung das auch ausstrahlte. Immer besser. Ich werde immer besser.

Er machte das ja auch schon seit Jahren, die halbe Höhle war bereits mit Jagdszenen und anderen Momentaufnahmen geschmückt. Natürlich war das alles nicht nur sein Werk. Schon sein Vorgänger hatte hier gewirkt, und der Vorgänger seines Vorgängers. Gleichwohl würden die Stammeshäupter staunen. Und genau das sollten sie auch. Vor sieben Tagen war der letzte Schauer niedergegangen. Die Dürre hatte begonnen und es war Zeit für das El-Eldin, das heilige Gottesritual. Die Sciti mussten sich der Gunst des Höchsten versichern, um die Trockenzeit gut zu überstehen, die hoffentlich kurz ausfallen würde in diesem Jahr – wenn die Wüstennomaden dem Allvater ihre Ergebenheit gebührend zeigten.

Mabrouk hatte gehört, dass die Stammesersten schon eingetroffen waren, vorhin, als er ein weiteres Mal neue Farbe aus der vorderen Höhle geholt hatte. Das Schnauben und Wiehern von Pferden, das Brüllen von Kamelen, verhaltene Stimmen, ehrfürchtig gesenkt angesichts des heiligen Berges. Nun, zurück in der Haupthöhle mit der großen Wandmalerei, war es wieder still geworden. Die Höhle lag über hundert Schritt tief im Gestein und wurde nur von Öllampen erhellt, die auf Felsvorsprüngen und auf dem Boden standen. Das Flackern der rußenden Flämmchen schien den Bildern Leben einzuhauchen: Menschen und Tiere bewegten sich, Büsche und Bäume wogten im Wind, der feine Wellen auf den Seen aufwarf. Es war nur eine Augentäuschung, die ihre Wirkung bei den Stammeshäuptern aber nicht verfehlen würde. Mabrouk hatte die Lampen so platziert, dass das Schattenspiel maximal effektvoll war. Die lange Zeit, die er hier unten regelmäßig mit Malen verbrachte, hatte seinen Rücken gekrümmt, Ruß und Zwielicht hatten seine Augen gereizt. Es half nichts. Er war der oberste Schamane der Sciti, ihr geistiger Führer. Die Wüstenstämme brauchten ihn, und er brauchte dieses Gemälde. Es stärkte ihren Glauben, der Glaube gab ihnen Zuversicht. Bald würden sie eine Menge davon brauchen. Die Trockenzeit würde es in sich haben in diesem Jahr, er spürte es in den Knochen.

Ein letzter Tupfer noch ... Ja. Perfekt.

Jetzt Farbe und Pinsel wegräumen, waschen, Festkleidung anlegen und zu guter Letzt die Maske aufziehen. Er packte seine Malutensilien in einen Tragekorb und schlurfte zufrieden summend den Gang zurück. Die Vorhöhle war verschlungen. Er stellte den Korb ab und bog um die Ecke, hinter der es ein kleines Wasserbecken im felsigen Grund gab, gespeist von einem Rinnsal, das aus der Decke darüber die Wand hinabtröpfelte. Dabei krempelte er sich schon einmal die Ärmel hoch.

»Friede, Mabrouk.«

Gott, fuhr er zusammen! Jemand war von draußen in die Höhle gekommen. Zu früh. Und vor allem unaufgefordert. Was bei allen Propheten fiel dem denn ein? Und das Beste: Der Kerl trug seine, Mabrouks, rituelle Maske! Frevel!

Der Schamane richtete sich auf. Dem würde er was erzählen!

Eine Hand krallte sich in seinen Unterarm. Die Finger waren wie glühende Zangen. Mabrouk keuchte vor Schmerz.

»Komm mit.« Der Maskenmann zog ihn hinter sich her, zum Höhlenausgang. Unterwegs sah der Schamane zwei seiner Diener. Erschlagen. Mehrere Schatten gesellten sich zu ihnen, dunkle Rauchgestalten, die die Form von Menschen nachahmten. Jeder dieser Schemen verströmte eine Hitze wie die Esse eines Schmieds. Mabrouk musste husten und schrie auf, als der Maskenmann ihn gnadenlos zum Ausgang zerrte. Nach dem Vormittag in der Höhle waren seine Augen draußen von der Sonne überfordert. Grelles, weißes Licht schnitt ihm in den Kopf, er kniff die Lider zu.

»Sieh.« Wieder ruckte der Zangengriff an ihm. »Sieh hin.«

Gebückt vor Schmerzen tat Mabrouk, was der Maskenmann befahl. Es dauerte einen Moment, bis er mehr als nur verschwommene Umrisse wahrnehmen konnte, bis die Dinge schärfer wurden und andere Farben das Weiß verdrängten.

Vor ihm stand eine Frau, ebenfalls gewaltsam gehalten, von einem dieser Rauchwesen. Er kannte sie: Lisabat al Wada, eine Stammeserste. Sie hatte einen blutigen Striemen im Gesicht, musste sich gewehrt haben. Keine Frau konnte ihr im Kampf das Wasser reichen, und auch nur wenige Männer. Lisabat, die Furchtlose, wurde sie genannt. Doch gegen diese Rauchgeister war offenbar selbst sie chancenlos. »Lass ihn frei!«, schrie sie den Maskenmann an. »Lass ihn gehen!«

»Ich lasse ihn leben.« Es war eine tiefe Stimme, die durch die Maske noch zusätzlich gedämpft wurde. »Falls dich das beruhigt. Und das sollte es besser. Wenn du weiter zappelst, muss ich auch dich noch töten. Es geht auch ohne dich, zur Not. Also sei jetzt still.«

Der rauchige Schatten hinter Lisabat verstärkte seinen Griff, die Stammeserste stöhnte auf.

Langsam konnte Mabrouk besser sehen. Vor dem Höhleneingang lagen lauter Leichen im rotgesprenkelten Sand. Die Stammeshäupter. Mehr von den Rauchgestalten standen zwischen ihnen, je eine neben einem der reglosen Körper.

Mabrouk gab einen gestammelten Entsetzenslaut von sich. »Bei allen Propheten! Was ist hier geschehen?«

Der Maskenmann wendete den Kopf nach rechts und links, zwei demonstrative Blicke. Dann brachte er den holzgeschnitzten Mund an Mabrouks Ohr. »Du wirst zugeben, dass das ziemlich eindeutig ist. Aber falls du wissen willst, warum es geschah, so höre: Die Sonne steht hoch, die Dürre ist da. Eine Dürre, wie sie es in den nächsten tausend Jahren nicht mehr geben wird. Sie wird alles verbrennen und Bäche und Flüsse austrocknen. Was dann noch lebt, wird schwach sein. Sehr schwach. In dieser schweren Prüfung bin ich der Engel Gottes, der dein Volk aus der Wüste und zur letzten Quelle führt. Doch ihr rettendes Wasser hat einen Preis, die Sciti werden darum kämpfen müssen. Dieses Weib da und du, ihr werdet sie zusammen in die Schlacht führen.«

Der Schamane hatte Tränen in den Augen, die nicht nur dem Schmerz geschuldet waren. Alle tot! Himmel und Propheten! Alle!

»Lisabat«, presste er hervor. »Flieh! Du musst die Stämme warnen. Du ...«

Der Maskenmann schüttelte ihn. »Lass den Unsinn. Es gibt keine Flucht. Der Dürre kann niemand entkommen. Und ich, ich bin der Engel der Dürre.«

Mabrouk starrte seinen Peiniger an, gekrümmt, verkrampft, ausgeliefert. »Du ... du bist kein Engel! Du bist der Teufel!«

Tiefes Lachen hinter der Maske. »Meinetwegen auch der Teufel. Gekommen, um in dein Volk zu fahren.« Er hob den Kopf. Am fernen Horizont blitzte ein gelber Schimmer. Die goldene Kuppel von Mesrée. »Ich werde alle Stämme der Sciti vereinen. Wir werden hinab ins Delta ziehen. Dort kriegt ihr Wasser. Dort werdet ihr kämpfen. Und ich werde dort jemanden treffen. Jemanden, den ich schon sehr lange treffen will. Jetzt ist die Stunde da! Eine Trockenzeit, schlimmer, als die Wüste. Schlimmer, als die Knochendürre, von der ihr euren Kindern erzählt. Es ist soweit – und wenn ich die ganze Stadt dafür niederbrennen muss! Endlich kommt es zu der Zusammenkunft!«

Lisabat stemmte sich gegen die rauchigen Arme, die sie umfingen. »Die Sciti werden niemals für dich kämpfen! Du hast ihre Anführer erschlagen! Jeder Stamm folgt allein seinem Oberhaupt. Du hast deinen feinen Plan selbst zunichtegemacht, Teufel!«

Der Maskenmann ging zu ihr hinüber und schleifte Mabrouk mit. Seine freie Hand nahm sie an der Schulter und zwang sie, sich umzudrehen, sodass sie die Toten im Blick hatte. »Sieh hin.«

Die Rauchgestalten knieten nieder und hüllten je einen Leichnam eines Stammesersten in ihren schwarzen Qualm. Hitze schlug Mabrouk ins Gesicht, erneut kniff er die Lider zu. Als der Hitzeschwall abklang, öffnete er sie wieder.

Die Rauchgestalten waren verschwunden. Über den Toten standen die Toten. Nur, dass diese Zwillinge wieder lebten. Ihre Silhouetten flimmerten wie bei einer Fata Morgana, verdichteten sich weiter, bis sie von den Stammesersten nicht mehr zu unterscheiden waren. Die Abbilder rotteten sich um Lisabat, Mabrouk und den Maskenmann zusammen. Lisabat war blass geworden.

»Mein Gott!« Mabrouk schüttelte den Kopf, die Augen aufgerissen. »Allvater, hilf uns!«

»Euer Gott kann euch nicht helfen. Er braucht euch nicht zu helfen.« Der Fremde ließ den Schamanen los und legte beide Hände an das kantige, geschnitzte Kinn der Maske. »Ihr habt ja jetzt mich.« Damit nahm er die Maske ab.

Mabrouk erstarrte. Lisabat, die Furchtlose, schrie. Der Schrei hallte von den Hängen des heiligen Berges wider.

Hoch über den Al-Aslam stand die Sonne und schaute zu.

Im Jahr 826 der Propheten, 83. Tag der Trockenzeit. Mittagsstunde.

Nifek balancierte zwischen Himmel und Erde.

Die Mauer war lang, die Aussicht über die Wüste grandios. Aber er sah nicht hoch. Seine Aufmerksamkeit galt allein der Rinne rechts von ihm. Er blieb stehen, stieß mit der Eisenstange nach einer Kalkablagerung in dem künstlichen Wasserlauf, einmal, zweimal. Hielt den Kescher darunter und fing die gelöste Kruste mit dem Netz auf. Noch ein Stoß. Ja, das hatte sich gelohnt. Kescher ausleeren, links über dem Mauerrand. Shaim, sein Partner, würde unten aufkehren, sobald Nifek die Hälfte der Strecke hinter sich hatte. Sie machten das schon länger zusammen.

Es war eine gute und wichtige Arbeit, den Aquädukt instand zu halten. Ganz Mesrée hing von seinem Wasser ab. Zwanzigtausend Menschen, die sonst auf dem Trockenen saßen, abgesehen von den Zisternen und ein paar Brunnen, die jedes Jahr tiefer ausgeschachtet werden mussten. Die Dürre schenkte ihnen keinen Tropfen, Nifek war sich dessen sehr bewusst. Ein halber Tag in der prallen Sonne auf dem Aquädukt, und er fühlte sich wie ein Stück Dörrfleisch. Wenigstens war ein Schluck hier oben stets nah, und der Lohn stimmte auch.

Er kniete nieder, legte Eisenstange und Kescher zur Seite, löste eine Kelle von seinem Gürtel, schöpfte aus der Rinne und trank.

»Kannst loslegen!«, rief er zwischen zwei Schlucken. Nicht, dass Shaim diesen Hinweis brauchte. Die Spur aus zerplatzten Kalkkrusten auf der breiteren, unteren Ebene des Aquädukts zeigte an, wie weit Nifek oben schon gekommen war. Das überflüssige Kommando war eines ihrer Rituale. Die Tätigkeit an der Rinne war schwieriger und gefährlicher als das Kehren, und überdies spendeten unten die weiten Bögen des Bauwerks Schatten. Sie wechselten sich stets ab. Heute hatte Nifek die schwere Arbeit, und wer die schwerere Arbeit hatte, führte das Kommando. Oder tat wenigstens so. Kontrollieren wollte er nicht, ob Shaim seiner Aufforderung folgte, dafür war ihm der Aquädukt zu hoch. Nifek hätte sich dafür weit über den Mauerrand lehnen müssen. Er war schwindelfrei, aber nicht lebensmüde. Von der Rinne bis zur unteren Ebene waren es zwanzig Meter freier Fall.

Da sie sich während der Arbeit nicht sehen konnten, antworteten sie einander immer auf ihre Rufe, um sich gegenseitig ihrer Anwesenheit zu versichern. Selbst, wenn es nur ein Scherzruf war, oder, wie jetzt, eine überflüssige Aufforderung. Diesmal jedoch kam nichts zurück.

»He, Faulpelz! Schluck das Baklava runter und beweg deinen Hintern! Du kannst kehren!«

Stille.

Nicht zu fassen! Hat sich vollgestopft und ist weggepennt, der Kerl!

Nifek schöpfte eine zweite Kelle. Die Sonne brannte auf seinen Rücken, die gebückte Haltung hatte ihm das Hemd aus der Hose gezogen.

Bullenhitze. Trockenzeit schön und gut, aber dieses Jahr ist’s besonders schlimm.

Als er die Kelle an die Lippen hob, erblickte er sein Spiegelbild auf der Oberfläche der offenen Wasserleitung.

Und den zweiten menschlichen Umriss neben sich.

»Bei Gott!« Er fiel fast in die Rinne vor Schreck. »Shaim, du Hurensohn! Das ist nicht lustig!«

Aber es war nicht Shaim, der da neben ihm stand.

Es war eine Gestalt wie aus Rauch, eine wabernde Silhouette mit einer Hand aus Feuer – Hitze, gegen die keine Kleidung schützte. Nifek wollte schreien, doch plötzlich gab es keine Luft mehr zum Atmen, als stünde er inmitten eines lodernden Scheiterhaufens. Die Gestalt packte ihn am Kragen, ein Griff wie von glühenden Kohlen. Er wurde hochgehoben, zappelte. Das Letzte, was er sah, war die Armee, die aus der Wüste kam.

Dann verbrannte er.

Es ging schnell.

Der Kohlengriff löste sich. Nifek stürzte in die Rinne, trieb stromabwärts, bald rechts, bald links die Wände streifend.

Er war eine Botschaft.

Eine Botschaft für Mesrée.

Im Jahr 826 der Propheten, 84. Tag der Trockenzeit. Nachmittag.

Überall war Staub. Auf der Straße. Auf der Kleidung. In der Luft. Im Mund. Sajit übergab das Pferd einem Torwächter, der es in die nahen Stallungen führte. Er hatte Glück gehabt dieses Mal, der Gaul war in Ordnung gewesen. Nicht selbstverständlich für ein Leihpferd des Stadtrats. Wenigstens nicht dann, wenn ein einfacher Schreiber ein Reittier brauchte. Auch, wenn Sajit regelmäßig mehr tat, als bloß die Feder zu schwingen und langweilige Ratssitzungen zu protokollieren. Längst war er zu einem besseren Laufburschen für die Lenker Mesrées geworden. Zum Beispiel inspizierte er regelmäßig den Zustand der Felder im Bahir-Delta, so wie heute. Oder sie schickten ihn, um den Wasserstand in den Speichern und Zisternen zu notieren. Wo immer zuverlässig Informationen für die Regierungsgeschäfte gesammelt werden mussten, war Sajit mit Schreibbrett und Griffel zur Stelle.

Er klopfte sich den Schmutz von den Hosen und betrat die Wachstube. Schöpfte eine Kelle aus dem Wassereimer und spülte den Staub die Kehle herunter. Gerne hätte er eine zweite Kelle genommen, doch Vorschrift war Vorschrift, und als Ratsdiener hatte er mit gutem Beispiel voranzugehen, wenigstens noch eine kleine Weile. Die Trockenzeit konnte jetzt jeden Tag vorbei sein, und nach dem ersten richtigen Wolkenbruch würde der Rat die Rationierung aufheben. Mehr als neunzig Tage am Stück währte die unangefochtene Herrschaft der Sonne fast nie.

»Na komm, bedien dich ruhig. Wer in der Mittagshitze reitet, hat’s nötig.« Ein Wachmann schlug Sajit auf die Schulter. Sie waren die Einzigen in der Stube. »Außer mir sieht’s keiner, und von mir erfährt’s niemand.«

Sajit erinnerte sich an den Namen des Soldaten: Jafar, Hauptmann des Westviertels. Er hängte die Kelle zurück an ihren Haken. »Die Propheten würden es sehen. Aber danke.«

Jafar schnaufte geringschätzig. »Fast ein Heiliger, wie?« Der Hauptmann griff an ihm vorbei und genehmigte sich selbst eine Kelle. Schlürfte einen Schluck. »Und? Wächst noch was da draußen, oder ...?«

Sajit zuckte mit den Schultern. »Sie retten, was zu retten ist.« Gleich darauf besann er sich. Der Rat hatte seine Diener angewiesen, möglichst wenig über die Dürre zu reden, und wenn, dann auf beschönigende Weise. Jafar war Soldat, kein Waschweib. Trotzdem: Auch Soldaten konnten tratschen. »Es wird reichen«, besserte er nach. »Ehe ein Feld vertrocknet ist, ernten sie’s ab. Und noch führt der Aquädukt genug Wasser.«

»Ja.« Erneutes Schlürfen. »Noch.«

»Friede, Jafar.« Wenn ihm der Name schon eingefallen war, wollte Sajit ihn auch einmal gebrauchen. »Wenn Hath es will, wird’s bald regnen.«

»Friede, Bruder. Wenn du’s sagst.«

Natürlich hatte Jafar Sajits Namen umgekehrt nicht parat. Wer merkte sich schon, wie ein Schreiber hieß? Sajit jedenfalls war es gewohnt, die Leute an seinen Namen erinnern zu müssen. Er verließ die Wachstube, in der der Hauptmann jeden Schluck auskostete. Er weiß eh, wie’s auf den Feldern aussieht. Jeder weiß es. Jeder hat die Tage der Dürre gezählt. Da kann der Rat totschweigen und schönreden, wie er will.

Auf der Weststraße erwachte das Leben. Die Sonne hatte den Zenit überschritten, die Mittagspause war vorüber. Händler deckten ihre Ware wieder auf, Frauen gingen mit Körben in Richtung Basar oder mit Krügen zum nächsten Wasserbecken. Alles schien so normal. Doch Sajit konnte die Anspannung der Menschen spüren. Sie färbte die Stimme des Töpfers, der ihn überreden wollte, etwas zu kaufen. Sie beeinflusste die Schritte und Haltung der Wasserträgerinnen, die vorsichtiger gingen und die Krüge auf ihren Köpfen mit zwei Händen stabilisierten, statt, wie gewöhnlich, nur mit einer. Sie lag in den Augen des einbeinigen Bettlers, der Sajit eine geborstene Schale für ein Almosen hinhielt. Vierundachtzig Tage ohne Regen waren eine lange Zeit, auch hier, im Delta, wo die Menschen seit jeher mit der Dürre umzugehen wussten. Auch für das reiche Mesrée, dem der Aquädukt Wasser aus den Bergen zuführte, wie eine Hauptschlagader einen Körper mit frischem Blut versorgt. Niemand konnte vorhersagen, wie lange noch. Der Zufluss hatte schon deutlich abgenommen, die Pegel in den Becken sanken. Hath, der Schutzpatron der Stadt, stellte die Geduld der Menschen auf die Probe.

»Friede, Herr. Einen Tshor für einen versehrten Veteranen. Nur eine einzige Münze für einen braven Soldaten, der sein Bein gab, um Mesrées Felder vor den Wüstenstämmen zu schützen.« Der Bettler humpelte auf einer Krücke heran und hielt Sajit die Schale unter die Nase. Er roch stechend nach altem Schweiß und Urin.

Sajit blieb nicht stehen, während er das Geldstück aus seiner Gürteltasche nestelte. Trotz seiner Beeinträchtigung hatte der Bettler keine Mühe, mitzuhalten. Besonders alt wirkte er nicht, nur verwahrlost. Lügner! So geschickt humpelt keiner, der sein Bein als Erwachsener verloren hat. Er wurde schon missgebildet geboren.

Den Tshor gab er ihm dennoch. Die Propheten lehrten Barmherzigkeit als Pfad ins Paradies. Wer gab, dem wurde gegeben, wenn nicht im Leben, dann nach dem Tod. Damit meinte er, den Bettler los zu sein.

Der aber blieb an seiner Seite. Die Schale mit der Münze steckte er in eine Tasche seines zerlumpten Mantels. »Ich kenn dich doch. Du arbeitest für den Rat, hab ich recht?«

Sajit beschleunigte seine Schritte. Was sollte das jetzt? Der Kerl hatte doch, was er wollte. Fingen die Bettler nun schon an, Fragen zu stellen? Versuchte er, mehr über seinen Gönner herauszufinden, um ihn künftig gezielt abzupassen? Das Letzte, was Sajit wollte, war eine Kanalratte, die vor seiner Haustür herumlungerte. Er war eine Amtsperson und wohnte in einem guten Viertel. »Das ist richtig. Und nun Friede, Bruder. Ich hab einen anstrengenden Ritt hinter mir.«

Der Bettler schwang seine Krücke wie ein Athlet, kam nicht einmal aus der Puste. »Wusst ich’s doch. Seh dich öfter aus dem Palast kommen – oder hineingehen. Sag, Freund, der Hafen: Ist er sicher? Gab lange keine Säuberung mehr. Zu heiß, um den Abschaum zu scheuchen, he? Oder steht die nächste Hetzjagd vielleicht kurz bevor?«

Das war es also! Der Hafen lag am Bett des Bahir. Längst schon war der Fluss ausgetrocknet, wie immer so spät während der Dürre. Ein mächtiger Wolkenbruch konnte das aber schnell wieder ändern, manchmal so drastisch, dass ein Teil des Hafenviertels dabei überschwemmt wurde. Deshalb wollte niemand dort leben – nur die Ärmsten der Armen, die sich nicht aussuchen konnten, wo sie wohnten. Die arbeitslosen Matrosen und Dockarbeiter. Die Träger und Treidler, die nichts mehr zu tragen und keine Boote mehr zu ziehen hatten, schon seit rund einem Monat nicht mehr, seit der Fluss zu wenig Wasser führte, um noch schiffbar zu sein. Und das zwielichtige Gesindel, das in den besseren Teilen der Stadt nicht geduldet wurde. Dann und wann ließ der Rat Razzien im Hafen durchführen – wenn die Diebesbanden zu vorwitzig, die Bettler zu frech oder die Soldaten Mesrées zu gelangweilt wurden. Der Krüppel wollte ihn aushorchen!

Sajit wünschte, er hätte die Münze nicht gezückt. »Ich weiß von nichts. Und wenn ich’s wüsste, würd ich’s dir nicht sagen. Und jetzt, bei Gott! Entschuldige mich!« Er rannte nun fast, ziemlich würdelos für einen Ratsschreiber.

»Du weißt Vieles nicht, Jungchen!«, rief der Krüppel ihm nach. »Ihr feinen Leute meint, die Stadt ist euer, aber ihr irrt euch. Die wahre Macht liegt beim Pöbel. Hörst du mich? Und der Tag kommt, wo der Pöbel sich nimmt, was sein ist, so wahr ich Halbfuß heiße! Dann werden wir euch hetzen, mein Wort drauf!«

Sajit rannte, bis der Bettler außer Sicht war und er den Ratspalast am Ende der Straße aufragen sah. Erst dann verlangsamte er seine Schritte. Je näher er dem Stadtzentrum kam, desto mehr Menschen waren unterwegs. Alle strömten in Richtung des Basars auf dem Vorplatz des Palasts. Standbesitzer zogen Handkarren mit neuen Waren hinter sich her, um ihre vom Vormittag geschröpfte Auslage für den Nachmittag und Abend aufzustocken. Dazwischen liefen Kinder und Hunde, spielten Fangen und wurden von den Erwachsenen zur Seite geschubst, wenn sie es zu bunt trieben.

So normal ...

Doch auch das Marktvolk hob zwischendurch sorgenvolle Blicke gen Himmel, auf der Suche nach einem Wolkenstreifen am Horizont, nach einer grauen Decke über den Al-Aslam, dem Gebirge im Nordwesten. Nach einer wasserschweren Front, die an den schroffen Gipfeln hängen blieb und abregnete, um den Aquädukt zu speisen, wenn sie es schon nicht bis hierher in die Ebene schaffte. Längst spiegelte der Mangel an bestimmten Waren die extreme Trockenheit wider: Krüge, Eimer und Bottiche, alle Gefäße, mit denen sich Wasser speichern ließ, waren ausverkauft, die wenigen verbliebenen überteuert. Saftreiche Früchte – Trauben, Orangen, Granatäpfel – kosteten das Doppelte, obwohl sie mittlerweile klein und schrumpelig waren. Viele Leute hatten sich Arme und Gesichter mit gekalktem Fett eingerieben, um sich vor der Sonne zu schützen und die Feuchtigkeit im Körper zu halten. Sajit glaubte nicht, dass das viel nutzte. Doch je länger die Dürre anhielt, desto verzweifelter wurde das Bedürfnis der Leute, etwas gegen die Auswirkungen der Hitze zu tun.

Er schaute auf die große Sonnenuhr an der Palastfassade. Ihm blieb noch etwas Zeit, ehe die nächste Ratssitzung begann. Die Herren Mesrées hatten bereits am Morgen zusammengesessen, wie sie es an sechs Tagen in der Woche taten. Am frühen Abend berieten sie sich ein zweites Mal. Sajit war einer der beiden Schreiber, die die Ergebnisse und Beschlüsse dieser Sitzungen notierten. Wenn man ihn fragte, würde ein Schreiberling dafür in aller Regel vollkommen reichen. Das Wenigste von dem, was er notierte, erschien ihm wirklich bedeutsam. Die Ratsherren redeten oft lange, ohne viel dabei zu sagen. Sie hörten ihre eigenen Stimmen gern, so schien es. Wer lange redete, machte einen bedeutsamen Eindruck. So, wie es einen bedeutsamen Eindruck machte, wenn zwei Leute Protokoll führten. Nach einem halben Jahr in dieser Position hatte Sajit vorgeschlagen, es bei einem Schreiber zu belassen. Es gab genug andere Arbeit für den zweiten: Handelslisten mussten kopiert, Anweisungen und Briefe abgefasst und allerlei Staatsdinge mit Feder und Tinte festgehalten werden, damit man sie später besiegeln konnte. Oft genug schlugen sich Sajit und sein Mitstreiter die Nächte um die Ohren, um den Papierkram im Griff zu behalten. Die vielen Stunden während der Ratssitzungen konnte einer von ihnen besser damit verbringen, diesen Teil des Tagewerks abzutragen, solange die Sonne noch am Himmel stand. Aber der Ratsherr Pyron hatte nur schalkhaft gelächelt und gesagt, der Rat könne während der Sitzungen nicht auf die zweite Feder verzichten. Pyron wusste so gut wie Sajit, dass die Räte viel heiße Luft abließen. Dass zwei Protokollanten vor allem dazu dienten, die Form zu wahren – zu unterstreichen, dass die Zeit im Hohem Saal von Belang war, selbst, wenn das nur auf einen Bruchteil dieser Zeit zutraf. Sajit war klug genug gewesen, Pyron seinen Vorschlag unter vier Augen zu unterbreiten, nach dem zweiten Becher Wein. Der Ratsherr und er waren befreundet, Pyron hatte ihm die Stelle als Schreiber verschafft. Durchgekommen war er mit seinem Vorschlag trotzdem nicht. Also ergab er sich zweimal täglich in sein Schicksal.

Er ignorierte das lautstarke Werben der Händler auf dem Basar und bahnte sich seinen Weg durch das Markttreiben. Auch heute gab es nur einen Stand, der ihn interessierte. Nicht, weil die Waren dort von hervorstechender Güte oder besonders günstig gewesen wären. Ebenso wenig konnte er dort Dinge kaufen, die es woanders nicht gab, im Gegenteil: Misha bot das verbreitete Allerlei aus Essbarem und Haushaltswaren feil, mit dem rund ein Drittel aller Standbetreiber ihren Unterhalt bestritten. Nein, der Grund, warum er Mishas Stand aufsuchte, war Misha selbst.

Schon, als er sie beim Näherkommen sah, musste er lächeln. Sie feilschte mit einem Kunden und spielte dabei all ihre Karten aus. Hantierte mit der Ware, gestikulierte, strich sich eine widerspenstige schwarze Strähne aus der Stirn. Klimperte mit den Wimpern, um sich im nächsten Moment hart und schmallippig zu geben, als die Preisverhandlungen in die finale Runde gingen. Sajit wartete mit ein paar Schritten Abstand, um nicht zu stören. Sie entdeckte ihn, lächelte ihm zu. Und richtete das Lächeln gleich darauf auf ihren Käufer, der nun den Gürtelbeutel öffnete und die Münzen herausrückte. Sajit überraschte das nicht. Er hätte alles für Mishas Lächeln gegeben. Zum Abschied legte sie noch ein Stück Fladenbrot auf den Handel drauf. Der Mann ging beschwingten Schrittes fort, ein glücklicher Kunde, der am nächsten Tag wiederkommen würde. Misha hatte vielleicht keine Waren, die sich abhoben, doch das war auch gar nicht nötig. Sie war es, die sich abhob, und ihre Erscheinung und ihr Wesen kamen bei den Leuten an, vor allem bei den Männern. Vor allem bei Sajit.

»Friede, meine Wüstenblume. Wie laufen die Geschäfte?«

Sie strahlte ihn an. »Ausgezeichnet. Und glaub nicht, dass du Nachlass kriegst, wenn du Süßholz raspelst, mein hübscher Schreiber. Möchtest du einen Mokka? Er ist noch warm.«

»Das wäre herrlich.«

Sie nahm ein schwarzlasiertes Tonkännchen aus der Sonne, füllte Kaffee in einen Becher und gab zwei Löffel Zucker dazu. »Da hast du.«

Als er nach dem Becher greifen wollte, zog sie diesen zurück. »Erst musst du bezahlen.«

Er küsste sie, bekam seinen Mokka und trank einen Schluck. »Ah! Jetzt kann die Sitzung beginnen!« Seine Augen wanderten über ihren Tisch. Die Auslage erschien ihm spärlicher als üblich, lückenhaft. Vor allem, was frische Nahrung betraf.

Sie erriet seine Gedanken, senkte die Stimme. »Um ehrlich zu sein, waren die Zeiten schon mal besser. Warst du nicht auf den Feldern heute? Wie sieht’s da aus?«

Misha konnte er nichts verschweigen. »Wie’s nach fast drei Monaten Dürre eben so aussieht. Der Aquädukt führt nur noch Wasser für das Allernötigste. Die Felder in seiner Nähe kriegen, na ja, auch nicht genug, aber wenigstens kriegen sie noch was. Die Äcker, die weiter weg liegen, vertrocknen. Die Strecken sind zu weit, das Wasser reicht nicht mehr, um alle Kanäle zu speisen. Es würde zu viel verdunsten, ehe es ankommt. Das können wir uns nicht mehr leisten. Tut mir leid.«

Sie nickte ernst. Dann lächelte sie wieder und schob ihm eine Dattel in den Mund. »Ein paar hab ich noch. Aber verkaufen tue ich die nicht mehr. Die Letzten heb ich mir für ganz besondere Kunden auf.«

»Keine Dattel ist so süß wie du«, sagte er kauend und zwinkerte ihr zu.

Ihr Lächeln währte nur kurz. »Was glaubst du, wie lange wir überhaupt noch etwas von den Feldern bekommen? Die Großhändler weichen meinen Fragen aus, aber die steigenden Preise sprechen für sich.«

Er legte den Dattelstein auf ein Tellerchen, das sie ihm hinhielt. Das Fruchtfleisch war zart und leicht körnig, voller Aroma. Ein Schluck Mokka dazu, und er konnte die Trockenheit, die öden Ratssitzungen und alle anderen Kümmernisse fast darüber vergessen. Aber eben nur fast. »Der Rat wird mich gleich dasselbe fragen. Und ich werde ihm dasselbe antworten wie dir: noch rund zwei Wochen. Drei, wenn wir Wasser weiter rationieren. Vielleicht vier, wenn wir dursten, damit die Felder trinken können. Aber das wird der Rat nicht tun, noch nicht. Die Leute machen sich schon genug Sorgen. Strenger zu rationieren, das würde Unruhe geben. Vielleicht, wenn’s zu Beginn der nächsten Woche noch immer nicht regnet. Wenn wir auf hundert Tage Dürre zusteuern ... Aber nicht heute oder morgen.«

Misha schüttelte den Kopf. »Hundert Tage Trockenzeit – das hat es schon seit über einem Lebensalter nicht mehr gegeben. Mein Großvater hat mir manchmal von der ›Knochendürre‹ erzählt, während der die Menschen auf den Straßen einfach umfielen. Entkräftet, ausgezehrt. Und dann wollte er, dass ich meinen Teller leeresse und brav austrinke.« Sie lachte, doch dieses Mal klang es brüchig.

Sajit beeilte sich, in das Lachen miteinzustimmen. »Es wird bald regnen, da bin ich sicher.« Sein Blick fiel auf die Sonnenuhr. »Ich muss langsam mal los. Sonst verpass ich am Ende noch was.« Er rollte vielsagend mit den Augen und leerte seinen Mokka.

Sie grinste, nahm ihm die Tasse aus der Hand und legte stattdessen zwei weitere Datteln hinein. »Hier. Du brauchst Zucker, damit du gleich nicht vom Stuhl rutschst vor Langeweile. Und du musst beide essen. Zusammengenommen muss es immer eine ungerade Zahl sein, dann sind sie gut für dich, gesund. Sonst nicht. Und eine hattest du ja schon.«

»In Ordnung.« Er küsste sie noch einmal. »Friede, meine Blume. Es wird bald regnen.«

Dann wandte er sich dem Palast zu. Die vergoldete Kuppel über dem Hohen Saal schimmerte im Sonnenlicht. Man konnte sie schon weit vor der Stadt sehen, von den Feldern, vom Rand der Wüste, angeblich sogar noch von den Ausläufern der Al-Aslam, an klaren Tagen, wenn die Hitze nicht zu stark über dem Sand flimmerte. Der Prachtbau stand für alles, wofür Mesrée bekannt war: Reichtum. Größe. Einfluss. Macht. Eine blühende Stadt. Nur, dass diese Blüte gerade aus Wassermangel zu verwelken drohte.

Vor den Stufen, die zum Palasttor führten, stand ein Brunnen. Der Boden seines runden Bassins war mit verrosteten Münzen übersät. Einen Tshor hineinzuwerfen brachte Glück und die Gnade Haths, der über allem wachte. Weder die Verzweifelten noch die Unverschämten wagten es, die Münzen wieder aus dem Brunnen zu fischen. Der Brunnen war heilig, das Volk nannte ihn ›Quell der ewigen Fülle‹. In seiner Mitte fielen Kaskaden über eine stufige, kreisförmige Pyramide ab. Oben spritzte das Wasser in einer Fontäne heraus und ergoss sich über die Pyramide in das Bassin. Das Plätschern klang immer wie Musik in Sajits Ohren, gerade in der Trockenzeit, auch, wenn ihm die Fontäne schon einmal stattlicher vorgekommen war. Die Rationierung des Wassers machte selbst vor den heiligen Stätten nicht halt. Sajit warf eine Münze hinein, murmelte ein Stoßgebet und erklomm die Stufen zum Palasttor, wo er ein ›Friede‹ mit den Wachen tauschte, was er nicht musste, aber er hielt es so. Höflichkeit war ihm wichtig, vor allem in ihrer ehrlichsten Form, gegenüber Menschen von niedrigerem Stand.

Er genoss die Kühle, die ihn in der Vorhalle des großen Saals empfing. Zielstrebig hielt er auf das rechte der drei Doppelportale zu. Das linke hätte er ebenfalls anpeilen können, das mittlere aber war den Ratsherren vorbehalten. Er hatte die Vorhalle halb durchquert, als sich ein Arm um seine Schulter legte. »Sajit, mein Freund! Pünktlich wie immer. So mancher Ratsherr sollte sich ein Beispiel an dir nehmen. Zu allererst ich selbst.« Es war Pyron. Er lachte schallend. »Und? Alle Felder noch da?«

»Wirst du ja gleich hören«, gab Sajit zurück, legte seinerseits einen Arm um den Freund und drückte ihn kurz an sich.

Pyron lächelte breit. Er hatte eine lange, spitze Nase und einen verkümmerten Schneidezahn. Sajit musste immer auf diesen Zahn gucken, wenn Pyron lächelte.

»Zugeknöpft wie immer«, bemerkte der Ratsherr. »Ebenfalls eine gute Eigenschaft für ein Ratsmitglied. Ich bin gespannt. Und werd mich gedulden. Nach der Sitzung gehen wir einen heben, oder?«

»Gute Idee.«

Sie lösten sich voneinander. Pyron ging mit ihm durch das rechte Tor. »Reden wir von erfreulichen Dingen. Ich hab dich auf dem Basar bei dieser schnuckeligen Kleinen gesehen. Wie ist noch gleich ihr Name?«

»Misha.«

»Ja, richtig. Du kannst schreiben, schweigen, und einen guten Geschmack hast du außerdem. Du musst uns mal bekannt machen.« Er lachte wieder. »Nein, nein, keine Sorge. Ich pflücke keine Trauben im Garten eines Freundes, und wenn sie noch so saftig sind. Außerdem bin ich ja ein verheirateter Mann. Aber wenn ich deine Misha sehe, könnte ich das glatt einen Moment vergessen.« Er verpasste Sajit einen sanften Rippenstoß. »So, ich fürchte, wir müssen.«

Vor dem Ratsgestühl trennten sie sich. Pyron nahm in der zentralen Doppelreihe Platz, die den Ratsherren vorbehalten war. Dort setzte er sich in die hintere Reihe, denn noch zählte er nicht zu den zehn ersten Räten. Sajit und seine anderen Freunde redeten ihn gerne groß und sprachen davon, dass er gewiss schon mit einem Bein in der vorderen Reihe stand. Einige der ersten Räte hatten bereits ein stolzes Alter, und Pyron war beliebt und umtriebig. Dennoch winkte er immer ab, wenn seine Karriereaussichten zur Sprache kamen. »Ich hab auch so schon genug Arbeit am Hals«, scherzte er dann. »Die erste Reihe kann mir gestohlen bleiben.«

Aber sie wussten, dass er sehr wohl Ambitionen hatte und wurden nicht müde, ihn hin und wieder damit aufzuziehen.

Sajit selbst nahm am Schreibpult Platz. Dort lag schon alles bereit: Papier, Federkiel, Tintenfass, Sand zum Trocknen, Lineal, Siegelwachs und Kerze, lederne Briefrollen. Etwas später kam auch der zweite Schreiber. Sie nickten sich zu, entkorkten die Tintenfässer und zogen das Papier zu sich heran.

Allmählich fanden sich alle Ratsmitglieder unter der Kuppel ein. Auch Vani war darunter, der Wassermeister, ebenfalls einer von Pyrons Freunden. Zwar war er kein Ratsherr, doch ebenso wichtig, wenn nicht noch wichtiger, wenigstens während der Trockenzeit: Seine Aufgabe war es, die Wasserversorgung der Stadt sicherzustellen. Keiner wusste über den Aquädukt und das weitläufige Netz aus Kanälen und Rinnen, das auf den Feldern und in der Stadt von ihm abzweigte, so genau Bescheid wie er. Keiner kannte die vielen Zisternen, Speicher und Reservoirs so genau wie Vani. Es hieß, er könne jedes noch so unbedeutende öffentliche Wasserbecken der Stadt mit verbundenen Augen finden. Er war groß, bartlos, hatte kurzes krauses Haar, rotgefleckte Wangen und trug stets schwarze Kleidung. Sajit verstand sich gut mit ihm, obwohl Vani manche Dinge übermäßig genau nahm, ein ziemlicher Erbsenzähler sein konnte. Man musste ihm das nachsehen. Es war nun mal sein Lebensinhalt, keinen Tropfen Wasser zu vergeuden.

Sie grüßten einander, als Vani an dem Schreibpult vorbeikam. Sajit gab ihm seinen Bericht, den Vani noch im Gehen studierte. Dann ließ sich der Wassermeister an der Längsseite des Hohen Saals nieder, auf seinem Platz dicht bei den Räten. Es war nur eine kurze Begegnung gewesen, doch Sajit kannte Vani gut genug um zu merken, dass er erregt war. Seine Kaumuskeln arbeiteten unablässig unter den roten Wangen, seine Lippen waren schmal, während er Sajits Aufzeichnungen von der Lage auf den Feldern durchging.

Zuletzt traten die zehn ersten Räte ein. Diener schlossen die drei Portale. Tarek, der greise Vorsitzende, wurde gestützt, bis er vorne mittig auf seinem Stuhl saß. Er versank halb in seinen kostbaren Kleidern, die er umständlich zurechtzupfte. Erst dann gab er dem Saalmeister ein Zeichen, der wiederum dem Gongschläger zunickte. Der Gong erklang, die Schreiber tauchten die Federkiele in die Tinte, und die Abendsitzung des Rates von Mesrée begann.

Im Jahr 826 der Propheten, 84. Tag der Trockenzeit. Früher Abend.

»Das Wort hat der Wassermeister.«

Der Vorsitzende kam gleich zur Sache, wie schon am heutigen Morgen. Wie in den Tagen davor. Seit die Dürre den dritten Monat währte, redete im Hohen Saal vor allem einer: Vani. Hitze und Wasserknappheit dominierten die Lage, andere Probleme resultierten entweder daraus oder waren vergleichsweise belanglos.

Vani stand auf. »Ehrwürdiger Rat! Seit Wochen ist es meine Aufgabe, immer wieder schlechte Nachrichten zu bringen. Leider hat die Trockenheit das Delta weiter fest im Griff. Der Aquädukt führt kaum mehr halb so viel Wasser, wie er sollte. Jeden Tag müssen wir mehr Leitungen schließen – das Wasser würde darin verdunsten, ehe es sein Ziel erreicht. Die Felder abseits des Aquädukts tragen deshalb keine Früchte mehr, und der Streifen, den wir noch ausreichend bewässern können, wird immer schmaler. Es ist ein tägliches Abwägen: Lassen wir die Kanäle zu den entlegenen Äckern offen, kommt dort gerade mal noch ein Rinnsal an. Zu wenig, um da noch viel wachsen zu lassen. Wir müssten abschnittsweise vorgehen und anderswo sparen, um noch genug Wasser so weit nach draußen zu kriegen. Müssten stundenlang andere Gebiete ganz vom Netz nehmen, um die Außenbezirke überhaupt nennenswert feucht zu bekommen. Oder wir müssen den Zustrom zur Stadt herunterregeln, zugunsten der Felder, wenigstens phasenweise. Machen wir auch schon alles. Jedes Bota zählt. Jeden Tag errechnen wir neue Bewässerungspläne. Das ist sehr aufwändig, und je mehr wir regulieren müssen, desto schneller passieren auch Fehler. Fehler, die wir uns nicht leisten können. Die schlichte Wahrheit ist: Wir können rechnen und planen, abschotten, sparen und umleiten, wie wir wollen – es wird immer weniger. Alle Zahlenspiele und Tricksereien ändern daran nichts. Ich weiß, es schmeckt niemandem, wenn ich das so deutlich sage, doch es ist nun mal so.«

Während er sprach, waren Vanis Wangen noch röter geworden. Er war in seinem Element, war gut in dem, was er tat. Es war nicht nur eine Aufgabe, die er des Rangs oder der Bezahlung wegen erfüllte: Das Wirtschaften mit Wasser war seine Leidenschaft. Sajit wusste, dass Vani seit Wochen zu wenig schlief, dass er sich aufrieb, um der Trockenheit zu trotzen. Gleichzeitig fürchtete der Wassermeister ständig, Kritik auf sich zu ziehen, Ziel von Unmut zu werden. Zu Recht – je schwieriger die Versorgung wurde, desto öfter musste er sich in seinem Amt Anfeindungen gefallen lassen. Manchmal war der Grund dafür einer der Fehler, von denen er gerade gesprochen hatte. Meistens aber wollten die Kritiker dann einfach Dampf ablassen. Wasser war kurz davor, dramatisch knapp zu werden. Wem gab man die Schuld? Dem Wassermeister. Natürlich.

Vani sah in die Runde. Knetete seine Finger. »Wenn der Himmel uns nicht bald den Monsun schickt, müssen wir weitere unangenehme Entscheidungen treffen. Wenn wir zum Beispiel in der Stadt erneut rationieren würden, könnten wir ...«

»Ach nein, so weit ist es wohl noch nicht.« Das war Tarek. Der Vorsitzende hatte die Ellenbogen auf die Armlehnen seines Stuhls gestützt und die Hände vor der Brust gefaltet. Mit krummem Rücken und vorgerecktem Kopf hatte er Vanis Ausführungen aufgenommen, ein dünnes Lächeln im Gesicht. Tarek lächelte immer so während der Sitzungen, ganz gleich, ob etwas Gutes oder Schlechtes besprochen wurde. Er lächelte, wenn Abstimmungen zu seiner Zufriedenheit ausgingen, und er lächelte, wenn er überstimmt wurde. Er lächelte, wenn Handelspartner anderer Städte Verträge mit Mesrée abschlossen oder aufkündigten. Er lächelte, wenn er Begnadigungen unterschrieb, und er lächelte, wenn er ein Todesurteil fällte. Auch jetzt, in der Krise, lächelte er. »Wir nehmen deinen Bericht und deine Einschätzung sehr ernst. Wir wissen auch, dass du dein Bestes gibst, und bei Gott, ich möchte den sehen, der diese Arbeit besser macht, als du. Unser Wasser ist bei dir in den fähigsten Händen. Ich denke, bis zum Ende des Monats sollten wir es uns noch leisten können, den Verbrauch auf dem jetzigen Niveau zu belassen. Sollte die Dürre dann immer noch andauern, was Hath verhindern möge, werden wir eine weitere Rationierung prüfen. Lasst uns hierüber abstimmen. Wer ist dafür?« Er löste die verschränkten Finger und hob eine welke Hand.

Unter beifälligem Murmeln tat es ihm die große Mehrheit der Räte gleich und reckte die Arme in die Höhe.

»Wer ist dafür, schon jetzt strenger zu rationieren?«

Nur zwei von zwanzig Händen gingen hoch.

»Wer enthält sich?«

Ein weiteres Handzeichen. Pyron.

Der Saalmeister hatte die Stimmen gezählt und gab das Resultat bekannt.

»Dann ist es beschlossen.« Tarek faltete die Hände wieder und lehnte sich zurück.

Zwei Federn kratzten eifrig über das Papier. Sajit mochte den Vorsitzenden nicht besonders. Der trockene Klang seiner Worte, fast schon ein Krächzen. Das Dauerlächeln. Die schlaffe Kleidung über der schlaffen Haut. Vor allem aber war Sajit oft genug Zeuge von Tareks Geschick geworden, die Menschen um sich herum zu beeinflussen, mal subtil, mal ganz offensichtlich. Mal mit einer gewandten Zunge, mal mit Druck und Gewalt. Der Vorsitzende saß aus gutem Grund seit über zwei Jahrzehnten in der Mitte der vorderen Stuhlreihe. Wie viele Versuche er schon abgewehrt hatte, ihm diesen Platz zu nehmen, wagte Sajit nicht zu schätzen. Tarek hatte während seiner politischen Laufbahn Misstrauensvota überstanden, Volksaufstände ausgesessen oder niedergeschlagen und zwei Attentate überlebt. Zwei, von denen man wusste, es konnten durchaus noch mehr sein.

Es war Vani anzusehen, dass er mit dem Ergebnis der Abstimmung unglücklich war. Er ging sogar so weit, Tarek böse zu mustern. Ein beherrschtes Mienenspiel war nicht seine Stärke, er verstand sich besser auf den Umgang mit Zahlen.

Tarek für seinen Teil aber war mit dem Wassermeister fertig. »Kommen wir zum nächsten Punkt für heute Abend. Dabei geht es um ...«

Vani blieb demonstrativ stehen. »Es gibt noch etwas.«

Erneut lief Gemurmel durch die Reihen. Tareks schlohweiße Brauen kletterten in die Höhe. »So? Was denn noch?«

Der Wassermeister befeuchtete die Lippen mit der Zungenspitze. »Es ... Es hat einen Zwischenfall gegeben, Herr.«

»Einen Zwischenfall?« Der Vorsitzende beugte sich wieder vor. »Lass hören.«

Vani blickte zum Saalmeister hinüber. »Ihr sollt es sehen.«

Auf einen Wink des Saalmeisters hin wurde das linke Portal geöffnet. Vier Wachen kamen herein, eine Trage zwischen sich, auf der sich ein menschlicher Umriss unter einem Leinentuch abzeichnete. Daneben ging ein weiterer von Pyrons Freunden: Baal, der Wundarzt, Beisitzer im Rat, in einem weißen Kaftan, die langen Haare zu einem Zopf gebunden. Ein fünfter Wachmann folgte mit zwei Böcken, die er vor der Doppelreihe der Ratsherren platzierte. Die anderen vier legten die Trage darauf ab. Dann traten die Wachen zurück.

Jetzt war der Hohe Saal von Getuschel erfüllt. Alle reckten die Hälse. Sajit nutzte die Unterbrechung und schob sich eine von Mishas Datteln in den Mund. Gleich darauf hörte er auf zu kauen. Baal schlug das Tuch zurück.

Auf der Trage lag eine schwarzrote Mumie.

Ende der Leseprobe zu

‚Die Stadt der stillen Wasser (MESRÉE 1)

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