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»Yeah, my momma she told me ›don’t worry about your size‹. She says, ›Boys they like a little more booty to hold at night …‹«
Großer Gott, kann es wirklich schon so spät sein?
Mit fast übermenschlicher Anstrengung taste ich nach meinem Handy, um Meghan Trainor zum Schweigen zu bringen. Ich liebe diesen Song, ich liebe ihn wirklich, aber morgens um sechs Uhr kann ich ihn nicht ausstehen.
Wenn man es genau nimmt, kann ich morgens um sechs überhaupt nichts ausstehen. Aufstehen am allerwenigsten.
Eine mahnende Stimme in meinem Kopf, die verdächtig nach meiner Mutter klingt, sagt mit strengem Unterton, dass es überhaupt nichts bringt, jetzt weiter liegen zu bleiben und mit seinem Schicksal und der Welt zu hadern. Und natürlich hat diese Stimme recht. Logisch. Jede Sekunde, die ich hier liegenbleibe, fehlt mir später auf dem Weg zur Arbeit. Weiß ich doch. Laut stöhne ich auf und kämpfe ein letztes Mal gegen die Verlockung an, einfach liegenzubleiben und mich krankzumelden. Doch irgendwo in mir müssen Reste an Selbstbeherrschung und Pflichtbewusstsein vorhanden sein, denn ich schaffe es wieder einmal, meinen inneren Schweinehund zu bezwingen.
Langsam schlurfe ich ins Bad, das Licht blendet in den Augen und zum wiederholten Male verfluche ich den Wecker.
Als ich den Schlafanzug abstreife und in die Dusche steigen will, fällt mein Blick auf die nagelneue Körperfettwaage, die mir meine Eltern zu Weihnachten geschenkt haben. Nicht, dass ich mir so ein Ding gewünscht hätte, aber wahrscheinlich habe ich doch ein bisschen zu oft erzählt, dass mir meine alten Sachen nicht mehr passen. Nun steht also dieses Hightechteil in meinem Badezimmer, und wenn Waagen Augen hätten, würde diese mich provokativ anstarren, denn ich bin in den zehn Monaten seit Weihnachten genau einmal daraufgestiegen. Dabei hat das Teil einiges zu bieten, es hat sogar Bluetooth und könnte obendrein die Muskelmasse (
ha, ha, ha – selten so gelacht
) und ähnlichen Schnickschnack berechnen. Aber wozu brauchen Waagen überhaupt Bluetooth?
Du könntest ja mal die Anleitung lesen, dann wüsstest du es mittlerweile!
Schon wieder dröhnt Mamas Stimme durch meinen Kopf, ich schüttele sie schnell ab und stelle mich tapfer unter die Dusche. Wie immer ist das Wasser erst einmal lausig kalt, doch immerhin bin ich jetzt definitiv wach.
Meine langen dunkelblonden Haare stecke ich mithilfe einer Klammer zusammen, föhnen ist mir heute zu lästig. Ich werde eine Mütze anziehen, dann können die Haare darunter trocknen.
Ich öffne den Kleiderschrank und schlüpfe in Unterwäsche, dann ziehe ich eine Jeans und eine Tunika heraus. Die Auswahl an Klamotten ist riesig, blöderweise passt schon lange nicht mehr alles. Sehnsüchtig schiele ich nach den schönen Sachen in Größe 36. Die Zeiten, in denen sie perfekt saßen, sind allerdings bereits etwas länger vorbei. Trotzdem kann ich mich nicht von ihnen trennen. Ich hoffe natürlich insgeheim, dass sie irgendwann wieder passen werden. Wie fast jeden Morgen nehme ich mir vor, mal im Sportstudio vorbeizuschauen, angemeldet bin
ich da schon seit geraumer Zeit, aber meine Begeisterung war nach zwei Wochen schlagartig verflogen.
Du könntest ja mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren!
, schlage ich mir in einem Anfall morgendlichen Elans vor. Ja, mal sehen.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Okay, wenn ich mich beeile, kann ich noch einen Kaffee trinken und aufs iPad schauen. Es ist mein morgendliches Ritual, mich erst einmal in den diversen sozialen Medien umzuschauen, und wie eigentlich jeden Morgen vergesse ich die Zeit darüber. Entsetzt stelle ich fest, dass ich jetzt schleunigst losmuss. Hastig kippe ich den Kaffee hinunter und suche meine Sachen zusammen. Da ich keine große Schminkkünstlerin bin, reichen ein wenig getönte Tagescreme und etwas Wimperntusche. Für aufwendige Malarbeiten bleibt keine Zeit mehr.
Ich ziehe mir eine lange Strickjacke über und die geliebte Wollmütze, schlüpfe in Sneakers und wickele einen Schal um meinen Hals, dann haste ich die Treppenstufen hinunter.
Wolltest du nicht mit dem Fahrrad fahren?
Zögernd trete ich nach draußen und betrachte kritisch den Himmel. Der Wetterbericht hat einen schönen Herbsttag prognostiziert, der Sprecher säuselte gestern sogar etwas von goldenem Oktober und so was. In der Morgendämmerung kann ich ein paar Wolken ausmachen. Nicht, dass es doch regnen wird. Es wird wohl besser sein, die öffentlichen Verkehrsmittel zu nehmen.
Auf dem Weg zur Straßenbahn komme ich bei Kemal vorbei, er betreibt eine türkische Bäckerei und ich bin mit Sicherheit seine beste Kundin.
»Günaydın Josy«, ruft er mir zu, als ich den Laden betrete.
»Günaydın Kemal.« Es duftet so verführerisch, dass mein Magen sofort anfängt, laut zu knurren.
»Wie immer?« Grinsend zieht er mit einer Zange einen Sesamring hervor.
»Du weißt, was Frauen mögen.« Ich nicke begeistert und suche das passende Kleingeld.
»Und einen Kaffee?« Er hat schon einen Becher in der Hand, doch ich schüttele bedauernd den Kopf.
»Nein, ich bin spät dran. Muss mich beeilen, sonst verpasse ich die Straßenbahn.«
»Josy, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du deinen Wecker zehn Minuten früher stellen musst?« Kemal lacht, seine dunklen Augen funkeln dabei vergnügt.
»An die fünfhundertmal wird’s schon gewesen sein.« Ich falle in sein Lachen mit ein und lege ihm das Geld hin. »Aber ich brauche einfach meinen Schönheitsschlaf.«
»Den brauchst du nicht. Mein Sohn würde dich sofort heiraten, Josy. Auch mit müden Augen.«
»Ich weiß, Kemal. Aber ich bin viel zu chaotisch für euch. Und das weißt du auch. Mohammed würde an mir verzweifeln.« Beim Rausgehen winke ich ihm noch einmal zu.
»Das stimmt auch wieder. Bis morgen«, ruft er mir fröhlich nach.
Verdammt, jetzt wird es aber wirklich Zeit.
Fluchend mache ich mich auf den Weg zur Haltestelle. Ich darf auf keinen Fall die Straßenbahn verpassen, sonst verspäte ich mich eine Viertelstunde. Aber ich habe Glück. Als ich endlich ankomme, trudelt die Bahn gerade ein. Die wartenden Leute murmeln unwirsch etwas von »Typisch KVB« und »Unverschämtheit, diese Verspätungen«, aber ich schlüpfe erleichtert in den letzten Waggon und betrachte verzückt, wie die Dämmerung die erwachende Stadt in ein warmes Licht taucht.
Der Wetterbericht hat also doch recht gehabt, es wird ein schöner Tag. Und morgen werde ich dann mit dem Fahrrad fahren. Ganz bestimmt.