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»Die sind wirklich toll geworden.« Jannis nickt anerkennend, als er sich die Bilder ansieht. »Das kann ich mir sehr gut mit Ihnen vorstellen.« Jetzt schaut er wieder zu mir. »Hätten Sie Interesse daran, dass wir Sie in unsere Kartei aufnehmen? Wir bauen gerade eine Plus-Size-Reihe auf.«
Wäre ich sonst hier, Jannis, du scharfes Teil? , stichelt es in mir, doch ich bin natürlich viel zu gut erzogen, um so etwas zu sagen.
»Na klar. Einen Versuch wäre es wert.« Ich schenke ihm ein strahlendes Lächeln, doch dann merke ich den Blick von Marlene. Ich sollte vielleicht nicht versuchen, in ihrem Jagdgebiet zu wildern.
»Prima.« Jannis streckt mir erneut die Hand entgegen. »Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit. Marlene wird mit Ihnen die Details durchgehen und Ihnen einen Vertrag mitgeben. Den lesen Sie bitte in Ruhe durch. Ach ja, und wir brauchen natürlich eine Sedcard. Die werden wir hier im Atelier erstellen.« Dann wendet er sich an Marlene. »Du klärst Josephine bitte auf?«
»Natürlich, das mache ich doch immer.« Sie lächelt ihn hinreißend an, ich frage mich, ob zwischen den beiden was läuft oder ob sich Marlene umsonst Hoffnungen macht. Denn dass sie an Sexy-Jannis interessiert ist, sieht ein Blinder.
»Alles klar. Wir sehen uns dann zum Sedcard-Shooting. Sie werden sehen, Josephine, bald werden Sie schon Ihren ersten Auftrag haben.«
Jannis winkt mir noch kurz zu, dann verschwindet er so schnell, wie er gekommen ist.
»Das ist prima gelaufen.« Marlene sieht zufrieden aus, dann schiebt sie mir eine Mappe zu. »Hier ist der Vertrag. Den bringen Sie bitte zum Sedcard-Shooting wieder mit.«
Ich schlage die Mappe auf und mir springt als Erstes ein Fragebogen entgegen. Maße, Konfektionsgröße …
»Wir halten es hier so, dass wir selbst nachmessen.« Marlene schaut mich prüfend an. »Dann gibt es keine Missverständnisse.«
»Von mir aus«, murmele ich. Dann vereinbaren wir einen Termin für das Shooting. Ich muss zugeben, jetzt doch ein bisschen Blut geleckt zu haben. Wenn die Fotos so schön werden wie die Probeaufnahmen, dann habe ich das perfekte Weihnachtsgeschenk für meine Eltern. Sofern die hier Fotos rausrücken, aber die werde ich ihnen schon abschwatzen.
»Gut, das war’s dann für heute«, entgegnet Marlene.
Ich verabschiede mich von ihr und bin gespannt, was noch so auf mich zukommen wird.
Vielleicht wird sich auch keiner für mich interessieren , versuche ich, meine Euphorie zu bremsen. Und wenn doch, wäre das bestimmt eine interessante Erfahrung.
Als ich an den Aufzügen warte, bemerke ich, dass jemand neben mich tritt. Erfreut stelle ich fest, dass es Jannis ist.
»Hey, hat Marlene Sie versorgt?« Er deutet mit dem Kopf auf die Mappe in meiner Hand.
»Ja, alles geklärt.« Ich bleibe kurz an seinen dunklen Augen haften. Doch ja, er sieht super aus. Und auch er unterbricht den Blickkontakt nicht.
»Kölsche Mädche sin jefährlich …«, plärrt mein Handy plötzlich los und durchbricht diesen schönen Moment. Gestern habe ich den Klingelton in die Karnevalsvariante geändert, weil die Planungen für unser Mädelskostüm zum Karnevalsauftakt gestartet sind.
»Oh, das ist meins …«, stammele ich überflüssigerweise und krame danach.
»Ja, offensichtlich. Mein Klingelton ist das jedenfalls nicht.« Jannis grinst mich breit an, dann kommt der Aufzug. Ganz gentlemanlike überlässt er mir den Vortritt.
»Hi, Sarah. Es ist gerade etwas schlecht«, zische ich hastig.
»Hallo Josy, ich weiß, ich weiß. Du bist noch bei Heidi Klum. Aber es ist ganz wichtig, wirklich! Ich bin gerade mit den Mädels im Stoffladen. Wir machen doch die sexy Einhörner am Elften Elften, oder?«
Ich werfe kurz einen Blick zu Jannis. Sarah hat eine wahnsinnig laute Stimme, ich bin sicher, dass er alles genau mitbekommt.
»Ja, genau. Sexy Einhörner, aber ich kann jetzt wirklich nicht …«
Jannis zieht fragend die Augenbrauen hoch, scheinbar ist sein Interesse an meinem Gespräch geweckt.
»Und erst zum Neumarkt und dann ab ins Brauhaus an der Ecke, oder? Nur damit sich das alle schon eintragen können und die großen Diskussionen nicht wieder anfangen.«
»Ja, Neumarkt und Brauhaus an der Ecke. Tschüssi.« Schnell packe ich mein Handy wieder in die Manteltasche. »Karneval und so«, murmele ich und spüre, dass ich rot werde. Normalerweise stehe ich zu meiner Karnevalsleidenschaft, aber just in diesem Moment war das doch etwas unpassend. Immerhin ist Jannis ja jetzt so was wie mein Chef, oder? Und er muss ja nicht unbedingt wissen, was ich so in meiner Freizeit treibe.
»Ja, das hab ich mir irgendwie gedacht. Sie mögen Karneval?«
»Ich bin Kölnerin.« Fest schaue ich ihm in die Augen. Das dürfte die Frage ja wohl umfassend beantworten.
Er grinst mich breit an. »Verstehe.« Dann deutet er auf die Fahrstuhltür, die bereits weit aufsteht. »Erdgeschoss. Ich kann Sie aber auch gern irgendwo absetzen, mein Wagen steht in der Tiefgarage.«
»Ach, nein, nicht nötig.« Ich winke ab. Auch wenn Jannis ein reizvoller Mann ist, aber ein paar Schritte an der frischen Luft können wirklich nicht schaden. »Ich gehe zu Fuß, das ist okay.«
»Wie Sie wollen, Josephine. Bis bald.«
»Tschüss.« Ich winke ihm zu und drehe mich auch noch einmal um, bevor sich die Aufzugtüren schließen.
Fast wie bei »Shades of Grey« , kichert es albern in mir. Nur andersrum. Und ich würde zurückschlagen.
Als ich nach draußen trete, schlägt mir der Novemberwind entgegen. Es hat angefangen zu regnen, doch das kann meine Laune nicht trüben.
Ist doch gut gelaufen , bestätige ich mir zufrieden.
fleuron
»Ach Kind, was sind denn das für Ideen?« Meine Mutter sieht mich fast schon strafend an, als ich am Sonntag beim Kaffeetrinken von der Fotoagentur erzähle. »Du bist doch gar nicht schlank genug dafür.«
»Wieso? Ist doch cool!«, freut sich Jonas. Dass er auf meiner Seite ist, darauf kann ich mich verlassen. Seit Kindheitstagen sind mein Bruder und ich ein Herz und eine Seele. »Außerdem wurde Josy doch von denen angesprochen, das heißt doch, dass man Potenzial in ihr sieht.«
»Genau Irina. Und es ist schön, dann kann Josephine sich etwas dazuverdienen.« Oma Tinchen zwinkert mir verschwörerisch zu. »Wer will denn auch schon immer diese Hungerhaken sehen? Ist doch gut, wenn was Fleisch an den Mädchen ist.«
»Ihr tut ja so, als wäre Josy total fett!«, lacht Jonas. »Ich finde, dass sie jetzt viel besser aussieht als vorher.«
»Genau, man muss jetzt nicht mehr befürchten, dass sie bei der nächsten Dürreperiode als Erste verhungert.« Mein Vater wirft meiner Mutter einen spöttischen Blick zu, die sofort beleidigt die Arme verschränkt. Sie ist sehr schlank und achtet peinlich genau auf ihre Ernährung, was sie mir auch stets unter die Nase reibt.
»Ist ja toll, dass ihr über mich redet, als wäre ich nicht hier«, motze ich dazwischen, als ich das letzte Stück Zupfkuchen verputzt habe. »Nur, weil sie mich in diese Kartei aufgenommen haben, heißt das ja nicht, dass auch was draus wird.«
»Aber man sieht immer mehr Models, die was auf den Hüften haben. Und ich find das super.« Jonas schielt nach der Kuchenplatte. Offenbar kämpft er mit sich, ob er sich noch ein Stück gönnen sollte. Dabei kann er das wirklich gut vertragen, er ist sehr sportlich und rennt mehrmals die Woche ins Fitnessstudio.
»Iss ruhig, mein Junge.« Oma Tinchen hat seine sehnsüchtigen Blicke auch bemerkt und packt ihm noch ein Stück auf den Teller.
»Danke. Du bist die Beste, Oma.« Jonas wirft ihr eine Kusshand zu und Tinchen lacht verzückt auf. Jonas und ich lieben unsere Oma. Vor fünf Jahren hat mein Vater ihr eine Wohnung in dem Haus besorgt, in dem auch sie zur Miete wohnen. Seit Opas Tod wurde sie immer unglücklicher, jetzt blüht sie langsam wieder auf. Und wir lieben es natürlich, uns von ihr ab und zu bekochen oder mit Kuchen verwöhnen zu lassen.
»Möchtest du auch noch ein Stück Kuchen, Irina?«, fragt sie an meine Mutter gewandt. Ich sehe es in Tinchens Augen aufblitzen, natürlich kennt sie die Antwort.
»Nein, danke, Katharina. Der Kuchen ist mir zu mächtig.« Meine Mutter hält sich gespielt leidend den Bauch. »Mehr als ein Stück schaffe ich nicht.«
»Gut so. Dann ist mehr für uns da.« Lachend häuft sich mein Vater das nächste Stück auf den Teller. Ich bin mir gar nicht sicher, ob er tatsächlich noch Hunger hat oder ob er nur Nachschlag verlangt, um meine Mutter zu ärgern.
»Du hattest doch schon zwei, Joseph!«
»Ja eben. Dann geht doch noch was rein.« Er grinst sie frech an. Jonas und ich werfen uns einen amüsierten Blick zu.
»Soll ich dich mitnehmen?«, fragt mich mein Bruder, als wir gegen Abend die Wohnung unserer Eltern verlassen.
»Oh ja, das ist eine wundervolle Idee.« Ich hake mich bei Jonas unter und wir gehen zu seinem Auto. Galant öffnet er mir die Beifahrertür, etwas verwirrt schaue ich ihn an.
»Was soll das denn? Ich kann das schon ganz gut alleine, Bruderherz.«
»Das weiß ich doch. Ich will nur schon mal üben. Wenn du erst mal Topmodel bist, muss ich mit dir doch über die roten Teppiche laufen.« Feixend lässt er sich auf den Fahrersitz plumpsen.
»Spinner!« Ich tippe ihn an die Stirn. »Wie ist denn die Lage bei dir und Marie?«
»Oh – frag nicht.« Jonas seufzt leidend auf. »Ich komme nicht weiter.«
»Inwiefern?«, hake ich nach. Mein Bruder ist total verknallt in seine Arbeitskollegin, doch zu mehr als einem gemeinsamen Kaffeetrinken ist es noch nicht gekommen.
»Sie ist so zurückhaltend. Gut, ich kann sie verstehen, sie hat eine Tochter und will nichts überstürzen. Aber ein Abenddate wäre schon cool.«
»Sie hat ein Kind? Echt? Wie alt ist es denn?«
»Ja. Gestern in der Frühstückspause habe ich mitbekommen, dass der Kindergarten angerufen hat. Dann hat sie mir von ihr erzählt. Sie heißt Alina und ist wohl drei.«
»Hm, das macht es nicht einfacher. Soll ich mich mal als Babysitterin anbieten? Also falls das der Grund ist, warum sie abends nicht weggehen kann?«
»Echt? Das würdest du machen? Ich weiß natürlich nicht, ob sie sich darauf einlässt, aber vorschlagen kann ich es ja mal?« Jonas sieht freudestrahlend zu mir hinüber. »Einen Versuch wäre es wert.«
»Na klar. Sonst würde ich es dir bestimmt nicht vorschlagen«, necke ich ihn. Und es ist mir wirklich ernst. Ich liebe Kinder.
»Ich danke dir, Josy.« Schnell beugt er sich zu mir und haucht mir einen Kuss auf die Wange.
»Mache ich gern. Und danke für die Unterstützung eben bei Mama.«
»Keine Ursache. Wenn aus mir und Marie doch etwas werden sollte, brauche ich deine Hilfe auch. Ich glaube nicht, dass Ma begeistert sein wird, wenn sie hört, dass meine Freundin ein Kind hat.«
Ich muss ihm leider beipflichten, das sehe ich genauso. Meine Mutter ist eigentlich eine Seele von Mensch. Aber sie legt viel zu viel Wert auf das, was andere Leute von ihr denken. Deswegen achtet sie penibel auf ihr Äußeres, und ihre Familie sollte natürlich ebenso perfekt und tadellos sein. Und dieses Anspruchsdenken steht ihr leider manchmal im Weg. Sie ist es von klein auf gewohnt gewesen, diszipliniert zu sein. Genau diese Eigenschaft hat ihr auch eine Ausbildung bei einer berühmten Ballettakademie in St. Petersburg beschert. Nur leider musste sie wegen einer Knieverletzung dort aufhören und ihren Traum, mal im Mariinsky-Theater aufzutreten, begraben. Kurz darauf ist sie mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen und hat meinen Vater kennengelernt.
Gott sei Dank ist er genau das Gegenteil von ihr. Er ist der Typ, der jeden sofort mit offenen Armen empfängt und schnell Freundschaften schließt. Seine lockere Art hat uns als Kinder schon manche Strafen erspart. Ich möchte mir nicht ausmalen, wie es geworden wäre, wenn meine Mutter sich immer durchgesetzt hätte.
»Aber so weit ist es ja noch nicht. Ich drücke dir die Daumen, dass du Marie doch noch von deinen Qualitäten überzeugst.«
»Danke, das kann ich echt gebrauchen.«
Wir sind bei meiner Wohnung angekommen. »Lass mal hören, wie es bei dir weitergeht, ja?«
»Natürlich.« Zum Abschied drücken wir uns noch einmal. Ich liebe meinen Bruder abgöttisch. Er ist jemand, dem ich blind vertrauen kann. Und ich wünsche ihm einfach alles Glück der Welt.