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»Gibt es Neuigkeiten bei dir und Marie?«, frage ich Jonas, als er mich nach Hause fährt.
»Ja, aber keine guten.« Jonas seufzt auf, ich schaue ihn betroffen an.
»Wieso? Was ist denn los?«
»Ihr Ex, also der Vater von Alina, kümmert sich jetzt plötzlich doch um die Kleine. Und Marie möchte ihm noch eine Chance geben.« Mein Bruder krampft die Hände um das Lenkrad, er tut mir wahnsinnig leid.
»Scheiße«, sage ich nur. Was Besseres oder Intelligenteres fällt mir dazu einfach nicht ein.
»Ja. Absolut. Ich meine, ich kann sie ja verstehen. Immerhin haben die beiden ein Kind zusammen. Aber er hat sie so arschlochmäßig behandelt, seit sie schwanger geworden ist. Und auch nach der Geburt wollte er nichts von ihr oder der Kleinen wissen. Und auf einmal kommt der Sack angekrochen und alles ist wieder in Ordnung? Ehrlich, manchmal verstehe ich die Weiber nicht.« Er schaut mich wütend an, aber ich kann es ihm nachfühlen.
»Ach Jonas, ich wünschte, ich könnte dir jetzt was ganz Kluges sagen. Aber ehrlich gesagt fällt mir nichts ein«, gestehe ich zerknirscht.
»Schon okay.« Jonas drückt kurz meine Hand. »Vielleicht wäre das Ganze eh zu kompliziert geworden. Wer weiß, wozu es gut ist.«
»Genau. Think positive.«
Den Rest der Fahrt verbringen wir schweigend. Aber als er mich zu Hause absetzt, wird Jonas doch noch einmal zum fürsorglichen kleinen Bruder. »Mama hat nicht so ganz unrecht mit ihren Bedenken. Pass am Elften gut auf dich auf, ja?«
»Na klar. Ich werde alle Angreifer mit meinem Glitzerhorn abstechen.«
»Versprich es.« Wenigstens kann Jonas wieder grinsen.
»Großes Einhornehrenwort.«
»Hi Josy, komm rein.«
Sarah, das rosa Einhorn, lässt mich in ihre Wohnung eintreten. »Ist es kalt draußen?«
»Nein, es geht. Und später soll die Sonne rauskommen. Sind die anderen schon da?«, erkundige ich mich.
»Na klar!«, grinsend kommt Lena auf mich zu und reicht mir eine Tasse Kaffee. »Bist du schon munter?«
»Es geht so«, antworte ich ehrlich. Wir treffen uns bereits früh am Morgen, damit wir auch gleich einen guten Platz bekommen, wenn die Karnevalssession eröffnet wird.
Als ich ins Wohnzimmer zu den anderen gehe, stutze ich. Mia sitzt mit verzweifeltem Gesicht auf dem Sofa, Caitleen versucht sie zu trösten.
»Was ist denn los?«, frage ich in die Runde.
Prompt springt Mia auf. »Schau doch mal genau hin!« Sie dreht sich einmal um ihre Achse. »So ein Mist!«
Verdutzt betrachte ich ihr Outfit. Eigentlich sollte sie das fliederfarbene Einhorn sein, aber statt einem zarten Pastellton
präsentiert sie sich in einem Gemisch aus Violett und schwarzen Streifen.
»Ach du Scheiße!«, platzt es aus mir heraus. »Was hast du denn gemacht? Hast du dich in Druckerschwärze gewälzt?«
»Das kommt von ihrem Waschzwang«, erklärt Sarah trocken. »Sie musste natürlich ihrem Sauberkeitsfimmel nachgeben und das Oberteil noch einmal waschen.«
»Ja, und mein Idiotenfreund hat einfach noch sein schwarzes Shirt und seine schwarzen Socken dazugeschmissen. Ich hasse ihn!«, empört sich Mia. »Und ich hasse diese Waschmaschine!«
Ich nicke ihr verständnisvoll zu. Dabei war sie so stolz auf ihr neues Haushaltsgerät und hat uns immer davon vorgeschwärmt, wie toll es doch sei, dass man noch Wäsche hinzufügen kann, auch wenn das Programm bereits läuft, und ohne ewig darauf zu warten, dass die Tür sich entriegelt. Dass ihr dieses nette Extra einmal zum Verhängnis werden könnte, hätte sie wohl niemals geahnt. Jetzt sieht sie aus wie ein lilafarbenes Zebra.
»Na ja, sieh es mal als Alleinstellungsmerkmal«, versuche ich, sie zu trösten.
»Ich will aber auch Pastell sein!«, motzt sie weiter.
»Mädels, so lustig ich das hier auch finde, wir müssen los.« Sarah klatscht in die Hände. »Ich will ja nicht ganz hinten stehen.«
»Okay, traben wir los.« Caitleen zieht das unglückliche Zebra vom Sofa, ein letztes Gruppenfoto und dann stürzen wir uns ins Getümmel.
Ich liebe diesen Trubel in der Stadt. Zum Glück ist es nicht so kalt und auch die Sonne kommt zum Vorschein. Wir schunkeln und tanzen uns warm und genießen stolz die netten Komplimente für unsere Kostüme. Und ich bin auch ganz froh,
dass meine Mutter nicht sieht, wie kurz die Röcke tatsächlich sind.
Am frühen Nachmittag zieht es uns dann aber doch nach drinnen, wir steuern ein großes Brauhaus in der Nähe an. Es ist sehr voll, aber wir sind hartnäckig und drängeln uns durch die Menschenmassen, bis wir ein nettes Plätzchen für uns entdecken.
Jetzt steigt erst richtig die Party, wir tanzen ausgelassen und auch ein paar ansehnliche Herren haben sich zu uns gesellt.
Als mich ein Clown zuquatscht, der seit einer Stunde förmlich an mir klebt, schweift mein Blick in die feiernde Menge. Ich bleibe an einem Steampunk hängen, der Typ ist ziemlich groß und irgendwie kommt er mir bekannt vor. Das ist doch … oder etwa nicht?
Ich bin mir nicht sicher, denn er trägt eine Brille und einen großen Hut, aber ich könnte schwören, dass das ein mir sehr bekannter Modelagent ist. Er ist mit einem kleineren Legolas da, aber auch diesen Krieger habe ich schon einmal gesehen.
Kein Zweifel.
»Hör mal, ich hab zwei Bekannte entdeckt. Hab noch einen schönen Tag«, erkläre ich dem Clown, der etwas traurig aus der Wäsche guckt, dann aber seines Weges zieht.
»Wohin willst du?«, fragt mich Sarah.
»Zu den beiden da hinten.« Ich deute in die Richtung, wo ich Jannis und Paul entdeckt habe. »Steampunk und Legolas.«
»Die sind mir auch schon aufgefallen«, kichert das rosa Einhorn neben mir. »Ich komm mit.«
Also bahnen wir uns einen Weg durch die feierwütige Menge. Kurz bevor wir sie erreichen, entdeckt Jannis uns. Ein breites Lächeln legt sich auf sein Gesicht, als er mich sieht.
»Hey, also so sehen sexy Einhörner aus.«
»Hi Jannis.« Ich überlege kurz, ob ich ihm nicht lieber die Hand geben soll, aber an Karneval wäre das ja total unpassend. Also gebe ich ihm ein kleines Küsschen auf die Wange.
»Das sind Jannis und Paul«, stelle ich Sarah die beiden vor.
»Moment, Moment! Das sind die aus der Modelagentur, stimmts?« Sarah ist trotz einiger Kölsch immer noch ganz fix im Köpfchen. »Hi, ich bin Sarah.«
»Erwischt!« Jannis gibt ihr ebenfalls einen Kuss auf die Wange und auch Paul nutzt die Gunst der Stunde.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie Karneval mögen.« Ich schaue Jannis aufmerksam an, er sieht schon echt cool aus in seinem Outfit.
»Mag er auch eigentlich nicht«, petzt Paul dazwischen. »Keine Ahnung, warum er unbedingt heute losziehen wollte.« Das breite Grinsen in seinem Gesicht verrät, dass Paul das allerdings sehr genau weiß.
Jannis knufft ihn in die Seite. »Halt die Klappe!«, sagt er fröhlich, dann wendet er sich wieder an mich.
»Sind wir noch beim Sie? Das ist doch nicht üblich an Karneval, oder?« Jannis nimmt die Brille ab und setzt sie auf seinen Hut, jetzt kann ich sehen, dass es in seinen Augen verschmitzt aufblitzt.
»Nein, eigentlich nicht. Aber ich dachte, weil Sie … also du … ja eigentlich so was wie mein Boss bist.«
»Eigentlich so was wie … Geht es noch konkreter?«
»Ja, geht es. Du bist mein Boss. Aber wenn du mir das Du anbietest, nehme ich das selbstverständlich sehr gern an.«
»Natürlich mache ich das, Josephine.«
»Josy! Wir nennen sie Josy!«, macht sich Sarah bemerkbar.
»Na gut. Dann eben Josy. Das passt auch besser zu einem blauen Einhorn.« Er tippt mir mit dem Finger auf die Stirn. »Aber sollten die Hörner nicht eigentlich da sitzen?«
»Ja, sollten sie. Ist aber zu gefährlich. Wir wollen ja keinen abstechen. Wobei das heute allerdings ganz hilfreich gewesen wäre«, lache ich.
Paul winkt einen Köbes heran und verteilt eine Runde Kölsch. »So Mädels, dann auf uns Hübschen.« Als er mit Sarah anstößt, schenkt er ihr ein verheißungsvolles Lächeln, und auch meine Freundin scheint einem Flirt nicht abgeneigt.
Da geht noch was!
, bin ich mir sicher. Und wie sagte Paul doch neulich im Auto? Er sei vielseitig interessiert.
»Musstest du schon so viele Verehrer abwimmeln, Josy?« Jannis sieht mir lange in die Augen und auch ich kann den Blick kaum von ihm abwenden.
»Ja, doch. Da kamen schon ein paar zusammen.« Ich proste ihm zu und bin dankbar, dass ich mich mit dem Kölsch ablenken kann. Jannis fasziniert mich einfach zu sehr, und mit Alkohol im Blut wird es nicht einfacher werden, mich gegen seine Anziehungskraft zu wehren.
»Das glaube ich zu gern.« Er lässt mich nicht aus den Augen und ich spüre, wie meine Beine immer wackliger werden.
Der DJ rettet mich aus der Lage. Sie spielen eines meiner Lieblingslieder, die Coverversion eines alten Zarah-Leander-Liedes, und ich ziehe Sarah zu mir, um mit ihr zu tanzen. Meine Freundin und ich umarmen uns theatralisch und singen den Refrain laut mit.
»Nur nicht aus Liebe weinen, es gibt auf Erden nicht nur den einen. Es gibt so viele auf dieser Welt, ich liebe jeden, der mir gefällt …«
Doch plötzlich steht Jannis bei uns, er nickt Sarah kurz zu und zieht mich dicht an sich. Ich bin viel zu verdutzt, um mich zu wehren. Und die Situation ist auch viel zu aufregend, um sie zu beenden.
»Ist das so?«, fragt er mich. Sein Blick wandert von meinen Augen zu meinen Lippen.
»Und darum will ich heut dir gehören. Ich will dir Treue und Liebe schwören. Wenn ich auch fühle, es muss ja Lüge sein – ich lüg auch und bin dein«, singe ich mutig den alten Song weiter.
Was dann folgt, hätte ich kommen sehen müssen, aber mein Widerstand schmilzt in seinen Armen dahin. Es kommt mir vor wie in Zeitlupe, als sich seine Lippen auf meine legen. Eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf will mich davon abhalten, ihn zu küssen, aber sie wird mit jeder Sekunde leiser, bis sie schließlich ganz verstummt.
Oh Mann, es fühlt sich genauso an, wie ich es mir vorgestellt habe. Einfach nur sensationell und sehr, sehr aufregend. Ein Kribbeln macht sich in meinen Körper breit und wie von selbst schlingen sich meine Arme um seinen Hals. Jannis zieht mich noch näher an sich, seine Hand legt sich in meinen Nacken und hält mich ganz fest. Selbst wenn ich wollte, könnte ich mich nicht so ohne Weiteres befreien. Aber ich will auch gar nicht. Ich will mehr, ganz viel mehr von diesem Mann und seinen Wahnsinnsküssen. Dass um uns herum die Karnevalisten ausgelassen tanzen, interessiert mich nicht. Auch dass wir manchmal angerempelt werden, ist mir völlig egal. Hier und jetzt will ich einfach nur Jannis küssen und hoffen, dass dieser Augenblick nicht so schnell vorübergeht.