22
Wir fahren zurück in mein Viertel und beschließen, in einem kleinen Restaurant essen zu gehen. Ich sehe viele bekannte Gesichter, in diesem Umfeld fühle ich mich langsam wieder etwas wohler.
Trotzdem kann ich nicht widerstehen, ich rufe die Seite dieses Blogs auf. Dort ist auch ein Foto von Jannis und mir zu sehen, die Kommentare sind vernichtend.
»Warum tust du dir das an, hm?« Er greift nach meiner Hand und streichelt sie zärtlich. »Lies das doch gar nicht.«
»Du hast ja recht.« Ich lege mein Handy zur Seite, aber die Sache nagt an mir. »Warum tun die Leute so was? Also warum schreiben sie das?«
»Wahrscheinlich sind sie unzufrieden mit sich und ihrem eigenen Leben. Vielleicht haben sie auch einfach Langeweile. Oder sie nutzen die scheinbare Anonymität des Internets, um ihren Frust abzuladen. Was weiß ich?« Er zuckt mit den Schultern. »Eigentlich können die einem doch leidtun.«
»Hm …« Nein, Mitleid habe ich nicht.
»Okay, warte …« Jannis setzt sich neben mich und zückt sein Handy. »Und jetzt lächele mal dein umwerfendes Josy-Lächeln.«
Mir ist gerade nicht danach zumute, doch ich erfülle ihm diesen Wunsch.
Er macht ein Foto von uns, dann sehe ich, wie er es auf seiner Instagram-Seite postet. Schließlich zeigt er mir das Ergebnis.
»Dinner mit der wunderschönen Josephine. #Happiest man in the world«
, steht dort geschrieben.
»Hast du keine Angst vor einem Shitstorm?«, frage ich ihn mit einem dumpfen Gefühl in der Bauchgegend.
»Nein, habe ich nicht. Es ist mir egal. Sollen sie doch alle denken, was sie wollen, Josy.« Er haucht mir einen Kuss auf die Wange. »Ich bin verrückt nach dir.«
»Danke.« Immerhin, jetzt kommt mir das Lächeln schon viel leichter über die Lippen.
»Meinst du, das wird ihr gefallen?« Jannis schaut mich zweifelnd an, als ich ihm den Weihnachtsstern in die Hand drücke, den er mit zu meiner Oma nehmen soll. Auf dem Rückweg vom Lokal sind wir noch schnell in den kleinen Blumenladen an der Ecke gegangen. »Soll ich nicht lieber noch etwas anderes dazu schenken? Eine Flasche Wein oder so was? Ich habe einen tollen Rotwein bei mir zu Hause. Wir könnten morgen vorher noch kurz bei mir vorbei …«
»Jannis?«
»Ja?«
»Bist du irgendwie nervös?«
»Was? Nein!«, kommt es erbost.
»Ich hatte gerade kurz den Eindruck.«
Er seufzt laut auf. »Doch ja. Du hast recht. Immerhin werde ich den Eltern von meinem Mädchen vorgestellt. Das kommt ja nicht alle Tage vor.«
Mir wird ganz warm ums Herz bei seinen Worten. »Du kannst dich beruhigen. Sie werden dich nicht fressen.«
Ich bin wirklich überrascht, wie hibbelig Jannis am nächsten Tag ist, als wir zu meiner Oma fahren. Jonas habe ich schon vorgewarnt, dass ich jemanden mitbringe. Ich weiß, dass er vor Neugierde platzen wird. Er selbst traut sich mit seiner Freundin Sophia noch nicht zum Familienkaffee. Er befürchtet, dass meine Mutter ablehnend reagieren würde, wenn sie Sophias Tattoos sieht.
»Und los geht’s«, sage ich fröhlich, als ich die Klingel drücke. Ich werfe einen Blick auf Jannis, der brav mit dem Weihnachtsstern hinter mir die Treppen hochstapft.
»Josephine, wie schön, dass du da bist«, freut sich Oma Tinchen, als sie die Tür öffnet. Sofort werden ihre Augen größer. »Und was hast du denn da für einen stattlichen Mann mitgebracht? Na, das ist ja eine tolle Überraschung!«
Ich gebe meiner Oma ein Küsschen zur Begrüßung auf die Wange. »Hallo Oma. Das ist Jannis. Ihm gehört die Agentur, bei der ich als Model jobbe.«
»Sie sind doch bestimmt auch ein Fotomodell, oder?«, fragt Tinchen weiter. Sie scheint genauso angetan von Jannis zu sein wie ich. Familiengene eben.
»Ja, aber hauptberuflich leite ich die Agentur.« Er drückt ihr die Hand und reicht ihr den Weihnachtsstern. »Es freut mich, Sie kennenzulernen. Jannis Voigt«, stellt er sich vor.
»Na, dann kommt doch mal rein. Jonas, hol doch bitte noch ein Gedeck! Josephine hat jemanden mitgebracht!«, weist sie meinen Bruder an.
Wir betreten das Wohnzimmer, meine Eltern sind ebenfalls schon da. Auch sie sind verständlicherweise überrascht, haben sich aber schnell wieder im Griff. Mein Vater mustert ihn
skeptisch, und nach dem Desaster mit Steffen kann ich ihm das nicht einmal verübeln.
Nachdem alle den ersten Schreck verdaut haben, wird die Stimmung rasch lockerer. Jannis setzt seinen Charme ein, das hilft ihm auf jeden Fall bei meiner Mutter. Oma Tinchen hat er längst um den Finger gewickelt. Und nachdem die wichtigste Frage für meinen Vater geklärt ist, nämlich ob Jannis Fußball mag, scheint auch er zufrieden mit dem Gast zu sein.
»Was ist Ihr Verein?«, fragt mein Vater ihn.
»Na ja, da ich geborener Münchner bin, natürlich der FC Bayern.«
Ich sehe Jannis gespielt entsetzt an. »Warum hast du das nie erwähnt? Oh Mann, das hätte ich doch wissen müssen!«
Jannis wirkt verstört. »Wieso?«
»Wieso? Na, das geht doch gar nicht!«, entrüstet sich Jonas, ich kann ihm ansehen, dass er Spaß hat.
»Ein Bayern-Fan!« Mein Vater schaut ihn ernst an, dann wendet er sich an mich. »Dass du uns so was in die Familie holst, Josephine, das hätte ich nicht erwartet!«
»Jetzt hört auf, ihn zu ärgern«, kichert Oma Tinchen, dann tätschelt sie Jannis’ Hand. »Sie machen nur Spaß.«
Jannis atmet kurz auf, er wirft mir einen Hättest-du-mich-nicht-vorwarnen-können-Blick zu, dann fällt er aber ins allgemeine Gelächter mit ein.
Anschließend wird über Fußball geredet, was wohl zu befürchten war. Meine Mutter schaut zu mir herüber. »Würdest du mit mir noch etwas Kaffee holen?«
»Ja, klar.« Ich folge ihr in die Küche. Dass sie Redebedarf hat, hatte ich auf der Rechnung.
»Das ist ein netter Mann, Josy«, sagt sie, als sie die Tür geschlossen hat. »Und sehr attraktiv. Wie lange kennt ihr euch denn schon?«
»Noch nicht lange. Also so richtig fest ist es eigentlich erst seit einer Woche. Aber ich dachte, dass Oma und ihr nichts dagegen haben würdet, wenn ich ihn mitbringe.«
»Nein, das haben wir natürlich nicht.« Meine Mutter greift nach meinen Händen. »Ich wünsche dir viel Glück mit ihm, mein Kind.«
Ich drücke meine Mutter herzlich. »Danke Mama. Ich würde mir auch wünschen, dass es klappt.«
Als wir zurückkehren, schaut Jannis mich fragend an, ich kann mir vorstellen, dass es ihn brennend interessiert, was meine Mutter über ihn denkt.
»Josy, die neuen Fotos von der Parfüm-Werbung sind ja klasse«, sagt Jonas dann. Ich blicke erschrocken zu meiner Mutter, hoffentlich findet sie die Bilder nicht zu freizügig. Doch zu meiner Erleichterung nickt sie. »Ja, sie sind sehr ästhetisch geworden.«
»Josy ist wirklich schon sehr professionell«, lobt Jannis mich. »Man kann sich kaum vorstellen, dass sie das alles noch gar nicht so lange macht.«
»Sie ist eben eine Naturschönheit«, sagt meine Oma im Brustton der Überzeugung.
»Sie haben absolut recht«, lächelt Jannis.
»Was ist denn aus den blöden Kommentaren geworden?«, fragt Jonas mich. »Ist das immer so heftig?«
»Was für Kommentare?«, hakt meine Mutter nach.
»Das würde mich aber auch mal interessieren«, murmelt mein Vater zwischen zwei Kuchenbissen.
»Ach, so dämliche Kommentare auf Facebook und so. Das … das passiert häufiger in den sozialen Medien«, sage ich leise.
»Das sollte man nicht zu ernst nehmen«, meint Jannis. »Man kann nicht allen gefallen.«
»Was schreiben diese Leute denn?«, will meine Mutter wissen.
»Beleidigungen und so einen Müll. Aber man darf da nichts drauf geben«, ergänzt Jonas.
»Sie beleidigen dich?« Meine Mutter stößt einen russischen Fluch aus. »Kann man diese Leute nicht eliminieren?«
»W … wie bitte?« Jannis reißt entsetzt die Augen auf.
»Mama!« Jonas prustet laut los. »Sie meint, ob man die Kommentare nicht löschen kann«, erklärt er Jannis schnell.
Jonas und ich wechseln einen kurzen Blick, gut, dass er die Situation gerettet hat.
»Ja, das könnte man«, antwortet Jannis. »Aber das ist viel Arbeit. Ich denke immer, es ist das Beste, wenn man es ignoriert.«
»Absolut. Und irgendwann hören die von selber auf.« Jonas springt auf und holt eine Flasche Wodka. »Aber jetzt müssen wir unseren Gast richtig begrüßen.«
»Deine Familie ist sehr nett. Und sehr lustig.« Jannis legt einen Arm um mich, als wir uns auf den Weg zur Straßenbahn machen. »Und sehr trinkfest.«
»Allerdings«, lache ich. Man kann ihm anmerken, dass er etwas getrunken hat. »Aber du hast dich tapfer geschlagen.«
»Das hoffe ich.« Er zieht mich abrupt in seine Arme und gibt mir einen innigen Kuss. »Danke, dass du mich mitgenommen und mir deine Welt gezeigt hast, Josy.«
»Das habe ich gern gemacht.« Ich schaue ihm lange in die Augen, versuche, etwas darin zu lesen. Ich würde mir wünschen, dass er mir sagt, wie er für mich empfindet. Obwohl wir zusammen sind, hänge ich irgendwie in der Luft.