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Ich habe Kopfschmerzen, furchtbare Kopfschmerzen. Das ist das Erste, was ich bewusst wahrnehme. Vorsichtig versuche ich, die Augen zu öffnen, es ist dunkel um mich herum. Dann realisiere ich, dass ich auf dem Boden liege. Der Untergrund ist hart und etwas feucht, Kälte kriecht in meinen Körper und ich beginne zu frieren.
Meine Jacke? Wo ist denn meine Jacke? Was ist denn bloß los? Was ist passiert?
Ich versuche fieberhaft, nachzudenken. Wo bin ich? Meine Augen gewöhnen sich nur langsam an die Dunkelheit. Es kostet mich eine ungeheure Anstrengung, doch ich kann beim besten Willen nichts erkennen. Ich richte mich auf, tatsächlich, ich habe auf einem Fußboden gelegen, einem schmutzigen Betonboden. Mühsam probiere ich aufzustehen, doch mein Kopf dröhnt noch zu stark, also bleibe ich erst einmal sitzen und versuche, mich zu orientieren. So langsam sickert in mein Bewusstsein, dass mich jemand hierher verschleppt hat. Krampfhaft versuche ich, die letzten Erinnerungen hervorzukramen. Ja, jetzt weiß ich es wieder. Ich habe auf dem Bürgersteig gestanden und auf den Wagen gewartet, der mich zum Flughafen bringen sollte. Zu Jannis.
Und ganz offenbar ist dabei etwas gründlich danebengegangen.
Scheiße.
Ich weiß nicht mehr genau, was passiert ist, als ich in den Wagen gestiegen bin. Aber Tatsache ist wohl, dass man mich entführt hat. Wo auch immer ich hier bin.
Das kann doch alles nur ein böser Traum sein! Los, Josy! Wach endlich auf!
Doch leider passiert das nicht. Es geschieht nichts, stattdessen befinde ich mich immer noch in diesem dunklen Loch.
Mit jeder Sekunde steigt die Panik in mir. Wer auch immer mir das eingebrockt hat, scheint es wohl kaum gut mit mir zu meinen. Fieberhaft überlege ich, was jetzt zu tun ist. Vielleicht kann ich ja doch einen Ausgang oder eine Tür finden.
Erneut versuche ich aufzustehen. Mein Kopf tut zwar immer noch höllisch weh, aber ich schaffe es, mich hinzustellen. Vorsichtig strecke ich meine Hände nach vorne, ich habe Angst, gegen etwas zu stoßen. Langsam gehe ich ein paar Schritte, dann gelange ich zu einer Wand. Ich taste einen rauen Untergrund, ähnlich dem des Fußbodens. Zentimeter für Zentimeter gehe ich weiter an der Wand entlang, es ist zum Verzweifeln, ich verfluche diese Dunkelheit. Wieder stoße ich an eine Begrenzung, eine erneute Wand. Ich taste mich langsam weiter, dann spüre ich etwas Metallenes.
Ist das eine Tür?
Schnell lasse ich meine Finger darüber gleiten, endlich finde ich die Klinke. Hastig versuche ich, sie herunterzudrücken, doch es tut sich nichts. Ich rüttele energisch daran, dann endlich finde ich meine Stimme wieder.
»Verdammt noch mal, lass mich hier raus, du Arschloch!«, schreie ich los. »Hörst du mich? Falls das ein Prank sein sollte,
dann ist er dir geglückt! Ich habe mich zu Tode erschreckt, jetzt ist der Spaß aber vorbei! Ich will endlich hier raus!«
Mit meinen Fäusten hämmere ich an die Metalltür. Immer und immer wieder. So lange, bis mir die Hände wehtun. Dann schreie ich laut um Hilfe, ich fluche und brülle immer wieder, dass man mich doch rauslassen soll. Doch es kommt keine Antwort. Es ist totenstill um mich herum.
Das Blut rauscht laut in meinem Kopf, und ich spüre mein Herz so heftig schlagen, dass es mir eigentlich aus der Brust springen müsste. Ich schlucke einen Kloß im Hals hinunter, ich will nicht in Panik verfallen. Stattdessen versuche ich fieberhaft zu überlegen, was ich noch tun kann.
Ich beginne wieder, mich an den Wänden entlangzutasten. Doch außer einem rauen Untergrund kann ich nichts fühlen. Scheinbar bin ich in einem leeren Raum untergebracht, mit nur einer Tür und ohne Licht.
In meinem Kopf spuken die verschiedensten Szenarien herum, alle mit einem unguten Ausgang für mich.
Wenn man dich umbringen wollte, dann hätte man das doch längst getan, oder? Es muss also einen Grund dafür geben, dass du noch am Leben bist!
Ich versuche, mich mit diesem Gedanken zu trösten, doch das ist verdammt schwer. Ich kann es drehen und wenden wie ich will: Meine Lage ist beschissen. Ich bin jemandem hilflos ausgeliefert und jeden Moment kann es für mich vorbei sein.
Es bricht aus mir heraus, ich kann es gar nicht stoppen. Ein Weinkrampf nach dem anderen schüttelt meinen Körper förmlich durch und ich breche auf dem Boden zusammen. Verzweiflung überkommt mich und die immer gleichen Fragen toben durch meinen Kopf: wer und warum?
Aufgrund der Dunkelheit habe ich überhaupt kein Zeitgefühl. Wie viele Stunden sind vergangen, seit ich in diesen
verdammten Wagen gestiegen bin? Ich habe keine Ahnung. Wird überhaupt noch jemand kommen und nach mir sehen? Und was wird er dann mit mir machen?
Ich habe so eine Scheißangst, dass sie mir fast die Luft zum Atmen nimmt. Und vielleicht ist dieses Szenario noch nicht einmal so unwahrscheinlich. Mein Gefängnis ist nicht besonders groß und Fenster scheint es hier auch nicht zu geben. Vielleicht werde ich sogar ersticken? Oder verdursten?
Wieder fange ich an zu weinen, doch diesmal sind es leise Tränen, die über mein Gesicht rinnen. Soll es so enden? Mein Leben? In diesem dunklen Loch? Eben noch überglücklich und voller Vorfreude auf Jannis – und jetzt?
Jannis …
Ich rufe mir sein schönes Gesicht ins Gedächtnis, versuche, seine Stimme heraufzubeschwören, die mir tröstende Worte zuflüstert.
Vermisst er mich bereits? Werde ich vielleicht sogar schon gesucht?
Ich will mich an diese Vorstellung klammern. Nein, ich
muss
mich an diese Vorstellung klammern. Sonst drehe ich durch, das weiß ich ganz sicher.
Wieder und wieder überlege ich, was das hier alles soll. Ich bin nicht reich, meine Eltern schon gar nicht. Also scheidet Kidnapping, um damit Geld zu erpressen, aus. Und das war noch der netteste von allen Gründen, warum ich hier sein könnte.
Mir schießen Gedanken durch den Kopf, von Frauen, die verschleppt und vergewaltigt wurden. Bin ich irgendwelchen Menschenhändlern in die Hände gefallen?
Zum ersten Mal verfluche ich die ganzen Dokumentationen über Serienkiller, die ich mir angeschaut habe. Wird man mich
irgendwo zerstückelt in einem Wald finden? Oder wird meine Leiche irgendwann zufällig in diesem Raum hier entdeckt?
Oh Gott, ich wünschte, ich könnte mein Kopfkino abstellen, doch das ist leider nicht möglich. Immer neue furchtbare Szenarien bauen sich vor meinem inneren Auge auf. Dann stutze ich plötzlich.
Das kann doch keine spontane Tat gewesen sein. Ich bin kein Zufallsopfer.
Mir fällt ein Detail wieder ein. Der Mann, der mich in den Wagen gelockt hat, kannte meinen Namen. Es ging bei dieser Entführung also ganz gewiss um mich.
Doch woher kannte er mich? Und wieso kam er genau um die mit Jannis verabredete Zeit? Wer wusste davon, wann ich abgeholt werden sollte?
Klar, Jannis wusste es. Aber es ist wohl eher unwahrscheinlich, dass ich ihm das alles hier zu verdanken habe.
Jannis, ein durchgeknallter Killer? Blödsinn, warum sollte er dann diesen Aufwand hier betrieben haben. Er hätte mich doch schon viel leichter um die Ecke bringen können! Denk weiter, Josy! Denk nach!
Meine Eltern und meine Freundinnen wussten davon, dass ich ganz früh Richtung Schweiz aufbrechen werde. Aber habe ich eine genaue Uhrzeit genannt? Nein, ich glaube nicht. Und warum sollten sie mir das antun? Das wäre doch völlig irre. Ich weiß natürlich nicht, wem sie das alles erzählt haben, aber diese Rückschlüsse halte ich erst einmal für unwahrscheinlich.
Was ist mit dem Fahrdienst? Vielleicht ist der Chauffeur ja ein Vergewaltiger? Kann es sein, dass er nach einem passenden Opfer gesucht hat und sich spontan entschlossen hat, mich zu nehmen?
Das wäre möglich.
Und was ist mit Jannis? Vielleicht hat er es weitererzählt, wann und wo ich abgeholt werden soll. Doch wer sollte ein Interesse daran haben, mir das anzutun?
Plötzlich wird mir noch kälter. Kann es sein? Kann das wirklich sein?
Ich höre Geräusche vor der Tür, hastig springe ich auf die Beine und ignoriere dabei den stechenden Schmerz in meinem Kopf. Ich bin kurz vorm Durchdrehen, als ich einen Schlüssel höre, der sich im Türschloss dreht. Dann werde ich von einem gleißenden Licht geblendet, schützend halte ich meinen Arm vor die Augen. Doch ich brauche auch nichts zu sehen. Ich kenne die Stimme, die zu mir spricht.
»Hallo Josephine.«