27
Langsam lasse ich den Arm wieder sinken. Meine Augen tränen, die plötzliche Helligkeit brennt, doch ich muss sie sehen, um es tatsächlich zu begreifen.
»Frau Schwarz …«, keuche ich atemlos. »Können Sie mir bitte sagen, was das hier alles zu bedeuten hat?«
Ich zwinge mich dazu, sie anzuschauen. Marlene ist so schön wie immer, nur der kalte Ausdruck in ihren Augen lässt mich frösteln.
»Dazu später«, sagt sie knapp. Erst jetzt fällt mir die Pistole in ihrer Hand auf, vor lauter Schreck weiche ich einen Schritt zurück, ich spüre die Wand in meinem Rücken.
Sie betrachtet mich eine ganze Weile wortlos, dann schüttelt sie den Kopf. »Ich werde nie begreifen, was Jannis in Ihnen gesehen hat«, sagt sie mit eisiger Stimme.
Wieso gesehen hat? Wieso Vergangenheitsform? Panik steigt wieder in mir auf, mein Hals wird ganz trocken. Wird sie mich jetzt umbringen?
»Frau Schwarz, bitte … Was soll das alles hier? Marlene …« Ich gehe einen Schritt auf sie zu und strecke die Hand nach ihr aus. »Bitte lassen Sie mich gehen. Ich … ich bin sicher, man wird eine Regelung finden, dass Sie nicht zu hart bestraft werden.«
Marlene reißt die Augen auf, dann fängt sie schallend an zu lachen. »Wer sollte mich denn bestrafen? Und wofür? Dafür, dass ich so ein kleines Miststück wie Sie umgebracht habe? Das ist doch lachhaft!«
Okay, sie ist durchgeknallt. Aber komplett. Und jetzt?
»Bitte seien Sie doch vernünftig. Was bringt es Ihnen denn, mich zu töten? Glauben Sie etwa, Sie werden Jannis so für sich gewinnen?« Ich schaue ihr fest in die Augen und gehe noch einen weiteren Schritt auf sie zu. Vielleicht schaffe ich es ja mit sehr viel Glück, ihr die Pistole irgendwie zu entwinden.
Sie wird dich abknallen! , schießt es mir durch den Kopf. Ja und? Welche Möglichkeiten habe ich denn?
Ihr Gesichtsausdruck ändert sich abrupt, jetzt blicke ich in eine hassverzerrte Fratze. Ich kann kaum glauben, dass das wirklich die gleiche Frau ist.
»Wenn Sie erst einmal aus dem Weg sind, wird Jannis schon wieder klar im Kopf werden. Solche fetten Frauen wie Sie sind sowieso nicht sein Fall, aber er scheint sich da in etwas verrannt zu haben. Es wird Zeit, ihn wieder auf normale Gedanken zu bringen.«
»Er wird es Ihnen niemals verzeihen, wenn Sie mich töten!«, schreie ich sie an. »Er wird Sie dafür hassen!«
Marlene neigt den Kopf zur Seite, als scheint sie über meine Worte tatsächlich nachzudenken. »Vielleicht wäre er etwas … verstört. Aber mit der Zeit wird er einsehen, dass ich nur das Beste für ihn wollte.«
»Sie sind doch irre!«, brülle ich weiter. »Marlene, kommen Sie zu sich! Sie sind doch eine intelligente Frau! Sie können doch unmöglich denken, dass Sie damit durchkommen werden!«
»Sie brauchen sich um mich keine Gedanken zu machen, Josephine. Nein, er nennt sie doch Josy, nicht wahr?« Sie lacht wieder hysterisch auf. »Wie niedlich!«
»Marlene …« Ich hebe beschwichtigend meine Hände. Da sie immer noch in der geöffneten Tür steht, kann ich einen Blick in den Raum hinter ihr erhaschen. Er sieht genauso trostlos aus wie mein Gefängnis. Vielleicht bin ich in einer Fabrik oder so etwas gefangen. Leider bringt mich das aber auch nicht viel weiter. »Bitte …«
»Bleiben Sie stehen!«, herrscht mich Marlene plötzlich an. »Gehen Sie wieder zurück an die Wand!« Sie fuchtelt wild mit der Pistole herum. Aus Angst, dass sich ein Schuss lösen könnte, befolge ich ihre Anweisung. Dann geht sie kurz in den anderen Raum und kehrt mit einer Wasserflasche zurück.
»Hier!« Marlene rollt die Flasche auf dem Boden zu mir hinüber. Verwirrt schaue ich sie an.
Was soll das? Will sie mich nicht umbringen?
»Ich bin mir noch nicht sicher, was genau ich mit Ihnen anstelle, Josephine. Ob ich Sie nur erschießen soll oder ob ich im Darknet nicht doch einen Interessenten für Sie finde, der Sie dann später entsorgt. Es gibt ja wirklich perverse Typen.« Wieder ertönt dieses irre Lachen, ich bin völlig gelähmt vor Entsetzen. »Ich hatte mir auch schon etwas mit Säure überlegt. Dann könnte ich Sie sogar am Leben lassen, Jannis wird Sie dann bestimmt nicht mehr anschauen.« Marlene kichert debil. Wenn ich noch ein Fünckchen Hoffnung in mir hatte, dass sie jemals wieder klar im Kopf werden könnte, dann ist das jetzt endgültig gestorben. »So lange lasse ich Sie am Leben. Also überlegen Sie sich gut, was Sie mit ihrer kostbaren Zeit anfangen.«
»Jannis wird mich suchen!«, krächze ich mit heiserer Stimme. »Er weiß bestimmt schon längst, dass etwas nicht in Ordnung ist.«
»Jannis? Sie haben ihm doch eine Nachricht geschickt, Josylein. Wissen Sie das nicht mehr?« Ihr schallendes Lachen dröhnt in meinem Kopf. »Sie haben mit ihm Schluss gemacht, per Handy. Wie unpersönlich.« Sie grinst mich diabolisch an, dann verlässt sie den Raum und schließt die Metalltür hinter sich.
Ich kann mich vor Entsetzen kaum bewegen. Immer wieder schießt mir durch den Kopf, dass das hier alles nur ein Traum sein kann. Das ist doch nicht real, so was passiert nur in Thrillern. Auch dieser Raum hier … Ich schaue mich angewidert um. Netterweise hat Marlene diesmal das Licht angelassen, sodass ich mir meine Behausung genauer anschauen kann. Außer den grauen Betonwänden und dem dreckigen Boden entdecke ich eine Art Oberlicht an einer Seite. Es ist weit oben angebracht und vielleicht dreißig Zentimeter hoch und ebenso breit. Ich raffe mich auf, um es genauer zu inspizieren. Eine Fluchtmöglichkeit bietet es natürlich nicht, dazu ist es zu klein. Ich halte meine Hand nach oben und registriere einen schwachen Lufthauch. Immerhin gelangt Sauerstoff in mein Verließ, zumindest werde ich nicht elendig ersticken. Das ist doch schon mal was.
Frustriert lasse ich mich auf den Boden sinken. Ich greife nach der Wasserflasche und trinke ein paar Schlucke. Fieberhaft überlege ich, was ich bloß tun kann, aber mir fällt beim besten Willen nichts ein außer Warten und auf ein Wunder hoffen.
Mir kommen Marlenes Worte in den Sinn. Sie hat Jannis eine Nachricht geschickt, höchstwahrscheinlich von meinem Handy aus. Aber wird er das wirklich glauben, ohne groß nachzuhaken?
Ich schließe entsetzt die Augen. Jannis, bitte, das kannst du doch unmöglich für bare Münze nehmen …
Jetzt bereue ich, dass ich ihm niemals gesagt habe, dass ich ihn liebe. Wieso habe ich mich denn nicht getraut? Nun komme ich vielleicht nicht mehr dazu. Ich kann nur hoffen, dass seine Liebe zu mir groß genug ist, um Marlenes Intrigen zu durchschauen und genauer nachzuhaken.
Aber selbst wenn Jannis Marlene glauben sollte, irgendwann werden doch meine Eltern und meine Freundinnen Verdacht schöpfen. Ich melde mich doch aus dem Urlaub alle paar Tage mal bei ihnen.
Aber erst einmal denken sie, dass du bei Jannis bist, und werden deshalb nichts unternehmen!
Die Erkenntnis treibt mir Tränen in die Augen. Was ist das alles bloß für eine verdammte Scheiße!