28
Irgendwann muss ich mich in den Schlaf geweint haben, denn ich merke, dass ich auf dem Boden liege. Ich rappele mich wieder hoch, meine Knochen schmerzen von dem harten Untergrund. Zu allem Überfluss meldet sich auch noch meine Blase, aber in der hübschen Unterkunft hier gibt es natürlich keine Toilette.
Ich versuche, so lange einzuhalten, bis es wirklich nicht mehr geht.
Als ich mich umschaue, sehe ich durch das kleine Fenster, dass es draußen hell ist. Es ist also Tag, fragt sich nur, welcher. Sind vielleicht doch nur ein paar Stunden vergangen? Hat Jannis Marlenes Nachricht überhaupt schon bekommen oder wartet er am Flughafen?
Dieses ewige Kopfzermartern macht mich mürbe. Ich wünschte, ich könnte das Gedankenkarussell zum Stoppen bringen.
Schließlich halte ich es nicht mehr aus. Obwohl ich mich vor mir selbst ekle, gehe ich zum Wasserlassen in eine Ecke. Ich gieße ein wenig Wasser darüber, doch wenn sie mich lange hier festhält, wird es irgendwann erbärmlich riechen. Aber das ist wohl mein kleinstes Problem.
Da ich überhaupt kein Zeitgefühl habe, schaue ich die ganze Zeit auf das Oberlicht. Mittlerweile ist es wieder dunkel geworden, es können also nur ein paar Stunden vergangen sein, aber mir kommt es wie eine Ewigkeit vor. Dieses Herumsitzen und auf die grauen Wände Starren wird mich irgendwann durchdrehen lassen.
Vielleicht bist du bald genauso gaga wie Marlene
, ätzt eine böse Stimme in mir.
Das Neonlicht geht mir gehörig auf die Nerven, fast wünsche ich mir die Dunkelheit zurück. Außerdem sind meine Kopfschmerzen immer noch da, ich betaste mich vorsichtig und kann eine Beule ausmachen. Hat man mich geschlagen oder wo kommt die her? Ich weiß es einfach nicht mehr.
Ich versuche immer mal wieder, die Tür aufzumachen. Es ist zwar bescheuert, weil sie natürlich verschlossen ist, aber irgendwie muss ich die Zeit ja rumkriegen, bis …
Ja, bis wann eigentlich?
Bis Marlene mich erschießt? Oder sie sich sonst irgendwelche Folterspielchen ausgedacht hat?
Mir kommt ihre Bemerkung mit dem Darknet in den Sinn. Man hört ja immer wieder die gruseligsten Dinge, die dort möglich sind. Würde sie wirklich so weit gehen? Ich will es eigentlich nicht glauben. Irgendwie hoffe ich immer noch, dass sie mich nur erschrecken will. Allerdings, wenn ich an ihren irren Blick denke, wird mir ganz anders …
Ab und zu schreie ich laut um Hilfe, aber mich scheint niemand zu hören. Wahrscheinlich bin ich hier am Ende der Welt.
Als ich Geräusche vor der Tür höre, ist es draußen schon wieder hell. Spätestens jetzt sollte Jannis wissen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Ich hoffe nur, er zieht die richtigen Schlüsse und
fällt nicht auf die gefakte Nachricht von Marlene hinein. Doch ob er sofort darauf kommt, dass mir etwas zugestoßen ist? Eher unwahrscheinlich, oder?
Marlene betritt den Raum, die Pistole in der Hand. Doch das ist es nicht, was mich zu Tode ängstigt. Sie ist nicht allein gekommen, hinter ihr stehen zwei Männer.
Was wollen die hier? Oh mein Gott, was wollen sie von mir?
Mir wird vor Angst ganz schlecht. Ich spüre die kalte Wand in meinem Rücken, die Hoffnungslosigkeit meiner Lage treibt mir Tränen in die Augen.
»Hallo Josephine.« Marlene lächelt mich kalt an, dann verzieht sie angewidert das Gesicht. »Wie ich sehe, hast du dich erleichtert.« Sie deutet auf den nassen Fleck auf dem Betonboden. »Das ist einfach widerlich.«
Ich spare mir eine Antwort, ängstlich schaue ich auf die Männer.
»Nun, ich habe mir schon so etwas gedacht. Dieses asoziale Verhalten passt zu dir.« Marlene dreht sich zu den beiden Kerlen um. »Wir machen das so wie besprochen.«
Mein Herzschlag beschleunigt sich auf eine ungesunde Frequenz, als die beiden auf mich zukommen. Kurz realisiere ich, dass einer der Männer der Fahrer ist, der mich in den Wagen gelockt hat.
»Na, Schätzchen. So sieht man sich wieder«, sagt er. Er tritt vor mich und bevor ich überhaupt reagieren kann, rammt er mir seine Faust in den Bauch. Mir wird kurz schwarz vor Augen, ich sacke auf den Boden. Dann spüre ich nur noch Schmerzen. Die beiden Männer treten nach mir, immer und immer wieder. Ich versuche, mit meinen Armen mein Gesicht zu schützen, doch sie werden weggerissen. Einer der beiden tritt mir mit voller
Wucht auf meinen Arm, ein stechender Schmerz schießt durch meinen Körper und ich schreie laut auf.
Der »Chauffeur« zieht mich irgendwann an den Haaren hoch und schlägt mir ins Gesicht. Ich schmecke Blut an meinen Lippen und versuche verzweifelt, mich irgendwie zu wehren. Doch es ist zwecklos. Die Schläge prasseln auf mich ein, und mir wird klar, dass sie mich töten werden, wenn sie so weitermachen. Ich höre mich wimmern, es klingt wie durch einen Wattebausch.
Doch plötzlich stoppen sie ihren Gewaltexzess. Ich liege auf dem Boden, kaum noch in der Lage, mich zu bewegen. Innerlich bete ich darum, endlich bewusstlos zu werden, doch der Wunsch erfüllt sich nicht.
»Sollen wir sie auch ficken?«, höre ich einen der Kerle sagen.
»Nein, bitte nicht«, flehe ich, doch meine Stimme hat kaum noch Kraft. Wahrscheinlich haben sie meine Worte nicht einmal gehört.
»Noch nicht. Das heben wir uns für später auf«, sagte Marlene mit kalter Stimme. »Das reicht erst mal. Ich habe die Aufnahmen gemacht, wir können gehen.«
Meine Augenlider flackern, ich kann sie kaum noch aufhalten. Dann bekomme ich einen letzten Tritt verpasst und alles wird dunkel um mich herum.
Ich werde immer mal wieder wach, doch wenn ich versuche, mich zu bewegen, schreie ich auf vor Schmerzen. Es kommt mir so vor, als hätte ich keine Stelle mehr an meinem Körper, die nicht wehtut.
Ich weine viel, ich kann das gar nicht stoppen. Alles ist so hoffnungslos, und das erste Mal in meinem Leben wünsche ich mir, tot zu sein. Ab und zu zwinge ich mich dazu, um Hilfe zu rufen, aber ich bringe nur noch ein elendes Krächzen heraus.
Meine Peiniger haben mir eine neue Flasche Wasser hingestellt, ich frage mich, was das soll. Wozu wollen sie denn sicherstellen, dass ich am Leben bleibe? Damit sie mich weiter quälen können?
Mir schießen die Worte von einem der Kerle durch den Kopf. Wollen sie mich wirklich vergewaltigen? Die Vorstellung schnürt mir die Kehle zu.
Irgendwann höre ich ein Knallen und ein Pfeifen, ich öffne träge die Augen. Es klingt fast so, als wäre ich in einem Kriegsfilm gelandet, was für ein irrer Gedanke. Aber wundern würde es mich auch nicht mehr.
Dann kapiere ich endlich, was diese Geräusche zu bedeuten haben. Es ist Silvester.
Irgendwo da draußen begrüßen Menschen fröhlich das neue Jahr. Sie feiern ausgelassen, küssen und umarmen sich.
Ich habe auch immer so gefeiert. Nie hätte ich gedacht, dass ich einen Jahreswechsel einmal auf diese Weise erleben werde.
Feierst du auch, Jannis? Vermisst du mich? Suchst du mich?
Wie immer, wenn ich an ihn denke, habe ich einen dicken Kloß im Hals. Ich versuche, mir die schönen Momente mit ihm ins Gedächtnis zu rufen. Den Abend zum Beispiel, als wir so leidenschaftlich Sex im Flur meiner Wohnung hatten. Später haben wir auf dem Sofa gesessen, mit den Lichterketten um uns herum, und uns erneut geliebt. Ganz sanft, ganz zärtlich. Es war wohl einer der schönsten Momente in meinem Leben, mit einem Mann, der meine ganz große Liebe ist.
Und jetzt? Werde ich ihn jemals wiedersehen? Es ist alles so dunkel geworden in mir. Ich liege hier, fast bewegungsunfähig, auf einem dreckigen Betonboden und warte darauf, dass mir jemand noch mehr Schmerzen zufügt oder mich umbringt.
Wie schnell alles doch kippen kann. Das hätte ich niemals für möglich gehalten.
Irgendwann schaffe ich es immerhin, mich wieder aufzurichten. Die Schmerzen sind noch da, aber das Liegen tut mir ebenso weh. Ich zwinge mich, etwas zu trinken, ein letzter Funken Überlebenswille ist wohl doch noch in mir, und ich bemühe mich, die Wasserflasche zu erreichen. Mühsam krabbele ich zu ihr hin, dabei kann ich den linken Arm nicht benutzen, er wird wohl gebrochen sein. Als ich die Flasche ansetze, zittert meine Hand und ich verschütte ein paar Tropfen. Doch dann gelingt es mir, ein paar Schlucke zu mir zu nehmen.
Ich werfe einen Blick zu dem Fenster, draußen ist es hell. Ist es Neujahr? Oder sogar noch einen Tag später? Ich weiß es einfach nicht mehr. Und irgendwie ist das ja auch schon egal geworden.