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Ich kann ihn nur fassungslos anschauen. »W … wie bitte?«
»Ja, seit ein paar Tagen ist ihr Gesicht überall zu sehen. Die sozialen Medien sind voll davon!« Er hält sein Handy ans Ohr. »Hier ist Michael Schneider. Ich melde mich aus dem Industriepark Süd, Mindener Straße, in Höhe des Lebensmittel-Großhandels. Ich habe eine Frau getroffen, die behauptet, Josephine Stamm zu sein. Sie ist schwer verletzt.«
Ich nehme seine Worte nur am Rande wahr. Es wird nach mir gesucht, ich schließe erleichtert die Augen. Völlige Erschöpfung überkommt mich. Ich will mich einfach nur hinlegen und schlafen. Alle Kraft weicht jetzt aus meinem Körper, mir ist alles egal, ich lege mich auf den nassen Bürgersteig.
»Hey, bleiben Sie wach!« Der Mann läuft zu seinem Kofferraum und kehrt mit einer Rettungsdecke zurück. »Kommen Sie, können Sie aufstehen?«
»Lassen Sie mich«, bitte ich ihn, doch er ist hartnäckig.
»Sie können nicht auf dem nassen Boden liegen bleiben. Es ist viel zu kalt.« Er legt einen Arm um meine Schultern, dann zieht er mich in eine sitzende Position und wickelt mich in die Decke.
»Was ist passiert?«, höre ich eine andere Stimme sagen. Mittlerweile stehen drei Personen um mich herum, ich habe sie gar nicht wahrgenommen.
»Das ist die Frau, die gesucht wird«, berichtet ihnen mein Retter aufgeregt.
»Oh, wirklich?« Eine hübsche Blondine in einem Businesskostüm tritt an mich heran. »Wie fühlen Sie sich? Die Rettungskräfte sind verständigt, man wird Ihnen bald helfen.«
Ich nicke nur. »Danke.«
Da ich nicht besonders gesprächig bin, lassen mich die Leute in Ruhe. Ich bekomme etwas zu trinken angeboten und ein paar Kekse, doch ich lehne ab. Wann habe ich eigentlich das letzte Mal etwas gegessen? Es muss über eine Woche her sein. Doch ich habe überhaupt keinen Hunger.
Aus der Ferne höre ich Sirenen, die immer lauter werden. Ich atme erleichtert auf, so langsam sickert in mein Bewusstsein, dass ich tatsächlich in Sicherheit bin. Ich kann es kaum glauben.
Zwei Polizisten stürzen auf mich zu. »Frau Stamm? Josephine Stamm?«
»Ja.«
»Der Krankenwagen ist unterwegs und müsste jeden Moment hier sein. Können Sie uns sagen, was passiert ist?«
»Ich bin entführt worden«, krächze ich mühsam. Der Regen wird stärker und prasselt auf uns ein, trotz der Decke friere ich erbärmlich.
»Können Sie aufstehen? Wir bringen Sie in unser Auto.«
Ich schüttele den Kopf. Mein Körper fühlt sich so schwer an wie Blei, ich kann mir nicht einmal vorstellen, mich jemals wieder zu bewegen.
Die Polizisten haken mich unter, ich stöhne laut auf, weil mir wirklich alles wehtut. Dann werde ich von einem Beamten ins Auto getragen.
»Sie blutet am Bein.«
»Sie … sie hat mich angeschossen«, presse ich unter Schmerzen hervor.
»Wer ist ›sie‹? Kannten sie die Entführer?«
»Marlene Schwarz ist die Drahtzieherin. Sie hatte noch zwei Männer dabei, die mich geschlagen haben, aber die kannte ich nicht.« Ich kann nur noch flüstern, aber es ist mir wichtig, dass sie Bescheid wissen. »Sie ist … sie ist in der Fabrikhalle eingesperrt.«
»Wo ist diese Halle?«
Ich runzele die Stirn, dann deute ich mit einer Hand auf die nächste Kreuzung. »Da rechts rein und dann vielleicht fünfhundert Meter. Ich … ich habe ihre Pistole an mich genommen. Sie liegt da vorne im Gebüsch.«
Ein Polizist läuft sofort los und markiert die Stelle.
»Meinen Sie, Sie können uns zeigen, wo diese Fabrikhalle ist?«
Ich schließe kurz die Augen, es fällt mir schwer, weiterzusprechen. »Ja, kann ich.«
Dann erreicht uns der Krankenwagen und die Polizisten machen den Sanitätern Platz. Sie versorgen notdürftig mein Bein und stillen die Blutung, dann werde ich so gut es geht abgetastet.
»Wir bringen Sie jetzt in ein Krankenhaus«, lächelt mir einer der Sanitäter zu.
»Könnten wir nur kurz mit ihr eine Runde durch das Industriegebiet drehen? Die Entführerin soll sich dort noch aufhalten«, bittet ein Polizist.
»Sehen Sie eigentlich nicht, in welchem Zustand die Patientin ist? Sie ist kurz davor zu kollabieren!«
»Es wären nur ein paar Minuten. Sie können hinter unserem Wagen herfahren, wenn etwas passiert, halten wir natürlich sofort an.«
»Es … es geht schon«, mische ich mich ein. »Ich möchte, dass sie gefunden wird.«
»Auf Ihre Verantwortung«, nuschelt der Sanitäter und sieht mich strafend an.
Als mir einer der Beamten den Sicherheitsgurt anlegen will, schreie ich auf. »Nein, bitte … das tut weh.«
»Okay. Sie haben es gleich geschafft«, beruhigt mich einer der Polizisten. »Sie sind sehr tapfer.«
Wir fahren los und erst jetzt fällt mir auf, dass noch drei weitere Streifenwagen vor Ort sind. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass die Pistole gesichert wird. Zwei Polizeiautos und der Rettungsdienst folgen uns.
Zum Glück finde ich den Weg sofort. Ich erkläre den Beamten, wo sie Marlene auffinden werden, dann wird die Tür aufgerissen und die Sanitäter verfrachten mich auf eine Bahre.
»Das war unverantwortlich«, meckern sie die Polizisten an. Einer der Beamten drückt kurz meine Hand. »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
»Danke«, murmele ich. Dann schließe ich die Augen. Ich möchte schlafen, einfach nur schlafen.
Ich muss tatsächlich kurz weggedämmert sein, denn als ich die Augen wieder öffne, bin ich bereits in der Klinik. Ärzte und Schwestern stehen um mich herum, sie piksen und verkabeln mich.
»Oh, hallo, Frau Stamm. Da sind Sie ja wieder.« Ein Arzt lächelt mir freundlich zu. »Sie waren kurz bewusstlos, aber wir haben Ihren Kreislauf stabilisiert. Wo haben Sie Schmerzen?«
Ich brauche nicht lange zu überlegen. »Überall irgendwie.«
»Ja, das glaube ich Ihnen. Sie sind voller Hämatome und Ihr linker Arm scheint gebrochen zu sein. An Ihrem Oberschenkel ist eine Schussverletzung, aber das ist nicht schlimm. Wir werden Sie jetzt gründlich durchleuchten, dann kann ich Ihnen sagen, was noch kaputt ist.«
»Toll«, stöhne ich auf.
»Ich spritze Ihnen jetzt erst einmal was gegen die Schmerzen. Es wird Ihnen gleich besser gehen.«
»Können Sie … meine Eltern bitte anrufen.«
»Die sind schon verständigt und auf dem Weg.« Der Arzt tätschelt meine Hand. »Sie müssen jeden Moment da sein.«
Dann folgt ein Untersuchungsmarathon, zwischendurch schlafe ich immer wieder ein. Ich bekomme mit, dass ich gewaschen werde und mir wird etwas übergezogen.
Eine junge Krankenschwester beugt sich über mich. »Frau Stamm? Ihre Eltern sind jetzt da. Soll ich sie reinbitten?«
»Ja bitte«, nicke ich ihr zu.
Als Erstes stürmt Jonas auf mich zu, gefolgt von meiner Mutter und meinem Vater. »Ach du Scheiße, Josy! Was machst du denn? Ich bin fast gestorben vor Angst!« Jonas beugt sich über mich und drückt mich fest an sich. Leider zu fest, denn ich stöhne gequält auf.
»Oh Mist, tut mir leid«, zerknirscht schaut er mich an. »Wir haben schon gehört, du bist ganz schön kaputt. Was waren das denn für kranke Arschlöcher, die dich festgehalten haben?«
»Jetzt lass mich durch!« Mein Vater schubst Jonas ein Stück zur Seite. »Mein Mädchen, wie geht es dir?« Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Es war einfach nur schrecklich. Gerade haben wir mit der Polizei gesprochen, es war eine Frau? Eine eifersüchtige Frau?«
Ich kann nur nicken. Jetzt, wo ich in Sicherheit bin, klingt das alles einfach nur unglaublich.
»Mein Schatz, ich bin so froh, so froh.« Meine Mutter streichelt mich zärtlich. »Hauptsache, du lebst. Und alle Wunden werden heilen.«
»Ja, ganz bestimmt.« Ich versuche zu lächeln, doch es fällt wohl sehr gequält aus. Dann halte ich es nicht mehr aus, ich muss es wissen. »Wo ist Jannis? Weiß er, was passiert ist?«
»Er ist auf dem Weg hierher und müsste gleich da sein. Er hat gelitten wie ein Hund«, erklärt Jonas mir. »Aber das wird er dir selbst erzählen.«
Ein Arzt kommt ins Zimmer und tritt zu mir ans Bett. »Frau Stamm, wir haben fast alle Ergebnisse. Es sieht so aus, als hätten Sie noch mal Glück gehabt, es gibt keine inneren Verletzungen. Sie haben eine Gehirnerschütterung, wie durch ein Wunder sind aber keine Gesichtsknochen gebrochen. Die Platzwunden haben wir versorgt. Eine Rippe ist angeknackst, aber das wird auch verheilen. Die Fraktur in Ihrem linken Arm muss gerichtet werden, die Wunde am Bein ist bereits vernäht. Und auch die Hämatome werden bald verblasst sein.«
»Okay, danke.« Ich atme innerlich auf. Das hört sich doch ganz gut an. »Kann ich … kann ich einen Spiegel haben?«
»Mach das nicht,« winkt Jonas ab. »Das lohnt nicht.«
»Du würdest dich erschrecken, Schatz«, versucht auch meine Mutter, mich davon abzubringen.
»Bitte …«, flehe ich sie an.
Sie atmet tief durch und zückt dann ihren Kosmetikspiegel. »Es sieht schlimmer aus, als es ist.«
Als ich einen Blick hineinwerfe, zucke ich zusammen. Ach du Scheiße! Wer ist das? , schießt es mir durch den Kopf. Ich kenne mich nicht wieder, mein Gesicht ist geschwollen und dort, wo keine Pflaster kleben, wechseln sich grüne und blaue Flecken ab.
»Keine Sorge. Es werden keine Narben bleiben. Jedenfalls keine körperlichen«, versucht mich der Arzt zu trösten. »Trotzdem sollten Sie über eine Traumatherapie nachdenken. Je früher Sie damit anfangen, desto besser.«
»Ja, das mache ich«, verspreche ich ihm, dann werde ich aber ungeduldiger. Ich möchte Jannis sehen, es gibt noch so viel zu klären.
Keine fünf Minuten später klopft es an der Tür. Mein Herzschlag beschleunigt sich prompt, und als er das Zimmer betritt, schießen mir Tränen in die Augen.
Meine Eltern und mein Bruder verabschieden sich kurz, während Jannis wie angewurzelt vor mir steht.
»Jannis …« Ich sehe ihn nur noch verschwommen. Endlich löst sich seine Starre und er hastet zu mir ans Bett.
»Josy, oh mein Gott, Josy.« Er nimmt mein Gesicht in seine Hände, ganz behutsam streichelt er über meine Wangen. »Du lebst, Gott sei Dank, du lebst«, flüstert er heiser. Dann rinnen Tränen über sein Gesicht, mit zitternder Hand wische ich sie ihm vorsichtig weg.
Wir sehen uns nur an, sprechen kein Wort, aber das ist auch erst mal nicht nötig.