32
Eine Schwester kommt herein und bringt mir eine Suppe. »Sie sollten versuchen, wieder etwas zu sich zu nehmen.«
Ich rümpfe zuerst die Nase, aber als ich den ersten Löffel intus habe, bekomme ich doch ein Hungergefühl. Schließlich schaffe ich die es, die Schüssel aufzuessen. Die Schwester nickt zufrieden, als sie das Geschirr ein wenig später abräumt. »Ihre Mutter hat Ihnen Kleidung vorbeigebracht. Ich kann Ihnen helfen, sich umzuziehen und etwas frisch zu machen.«
»Das wäre nett.«
Jannis sieht ein wenig enttäuscht aus, als die Schwester ihn daraufhin aus dem Zimmer verweist. Aber auch wenn wir uns nun wirklich gut kennen, diese Art von Körperpflege möchte ich ihm nicht überlassen. Außerdem soll er meine Wunden gar nicht sehen. Es reicht schon, wenn er mein lädiertes Gesicht kennt.
Die Schwester hilft mir ins Bad, und im Sitzen gelingt es schließlich, mich ein wenig abzuduschen. Als ich mit frischen Sachen wieder im Bett liege, fühle ich mich wie ein neuer Mensch.
»Na, fühlst du dich besser?«, erkundigt sich Jannis, als er kurz darauf zurück ins Zimmer kommt.
»Ja, auf jeden Fall. Was so eine Dusche doch ausmachen kann.« Ich ziehe ihn zu mir herunter und küsse ihn, so gut es mit meiner aufgeplatzten Lippe geht, vorsichtig auf den Mund.
»Jannis, was ich vorhin gesagt habe, also, dass du bei mir bleiben sollst, das war etwas unüberlegt, entschuldige. Natürlich kann ich nicht über deine Zeit bestimmen.« Ich nehme seine Hand und streichele über seine Finger.
»Da gibt es nichts zu entschuldigen, Prinzessin. Solange die beiden Kerle, die dir das angetan haben, noch nicht gefunden sind, lasse ich dich nicht alleine.«
»Aber hier kann mir nichts passieren«, sage ich eindringlich.
Er schaut mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Sag mal, willst du mich loswerden?«
»Nein, ganz bestimmt nicht. Ich bin doch froh, dass ich dich überhaupt wiedersehen darf.« Ich senke den Blick, mit aller Wucht kommt die ganze Verzweiflung wieder hoch, die mich in den letzten Tagen fest im Griff hatte, und ich kämpfe mit den Tränen. »Aber du siehst aus, als hättest du nicht viel Schlaf abbekommen.« Ich hebe meinen gesunden Arm und streichele ihm zärtlich übers Gesicht. »Ruh dich aus.«
Jannis schüttelt vehement den Kopf. »Das kann ich nicht, Josy. Erst wenn ich sicher weiß, dass dir niemand mehr etwas antun wird, kann ich wieder schlafen.«
Ich schaue ihn aus tränenverschleierten Augen an, seine Worte berühren mich bis in mein Innerstes.
»Josy, ich kann mir kaum vorstellen, was du in den letzten Tagen durchgemacht hast. In meinem Kopf habe ich mir die schlimmsten Dinge ausgemalt. Wenn dir etwas passiert wäre, ich … ich hätte nicht weiterleben wollen.«
Ich schaue ihn erschrocken an. »So was darfst du nicht sagen!«
Er legt mir einen Finger auf die Lippen. »Nachdem ich mit Sarah gesprochen habe, ist mir schnell klar geworden, dass die Nachricht von dir nicht ernst gemeint war. Wie gesagt, ich bin dann zurück nach Köln geflogen und habe mich mit Sarah und Paul getroffen. Sie hat ja einen Schlüssel für deine Wohnung. Als wir gesehen haben, dass dein Koffer und Kleidung fehlte, sind wir zu deinen Eltern gefahren. Die Armen sind natürlich aus allen Wolken gefallen.« Jannis schüttelt den Kopf. »Sie haben uns aber nur in unserer Vermutung bestätigt, dass etwas nicht stimmen kann. Ich habe den Fahrdienst angerufen und die sagten dann, dass sie dich nicht angetroffen haben. Wir sind dann zur Polizei gefahren.«
Er fährt sich mit den Händen immer wieder durch die Haare, ich kann ihm ansehen, dass es ihm schwerfällt, über alles zu reden.
»Die haben uns aber nicht ernst genommen. Die angebliche Nachricht von dir spräche ja Bände und du seist eine erwachsene Frau. Sie könnten ja nicht jeder Frau hinterherforschen, die mit ihrem Typen Schluss gemacht hätte. Ich solle in Betracht ziehen, dass du mich verlassen hättest.«
Er zuckt mit den Schultern. »Ja, im Nachhinein kann ich die Reaktion verstehen, aber in dem Moment hätte ich die Kerle am liebsten erwürgt.«
»Das glaube ich«, sage ich leise.
»Ich hab die ganze Nacht nicht geschlafen und immer wieder probiert, dich anzurufen, aber das war zwecklos. Am nächsten Morgen bin ich in die Agentur gefahren, ich wollte den Anrufbeantworter abhören, vielleicht hättest du dich ja dort gemeldet. Im Grunde genommen war das Schwachsinn, wieso hättest du das tun sollen? Aber in solchen Momenten klammert man sich an jeden Strohhalm. Marlene war dort, obwohl sie eigentlich Urlaub hatte. Nach dem Streit, den wir hatten, weil sie die Fotos von ihr und mir aus München gepostet hatte, hat sie sich mehrfach für ihr Verhalten bei mir entschuldigt. Und ich habe ihr geglaubt. Ich Idiot!«
»Niemand konnte annehmen, wozu sie fähig ist, Jannis.«
»Jedenfalls war sie sehr freundlich. Sie hat sich erkundigt, ob alles in Ordnung sei. Ich dachte zuerst, ich sähe vielleicht so fertig aus, weil ich die Nacht nicht geschlafen hatte. Aber natürlich wusste sie, warum ich so verzweifelt war. Na ja, jedenfalls hat sie mir ihre Hilfe angeboten und wir haben zusammen in den sozialen Netzwerken und auf allen möglichen Seiten einen Suchaufruf nach dir gestartet.«
Ich erstarre bei seinen Worten. Dass Marlene so abgebrüht war, kann ich mir kaum vorstellen. Aber mittlerweile wundert mich bei dieser Frau gar nichts mehr.
»Sie hat mir in den Tagen immer sehr beigestanden!« Jannis lacht bitter auf. »Wie konnte sie so sein? Ich habe überhaupt keinen Verdacht geschöpft, Josy!«
»Sie scheint eine schwere Störung zu haben«, denke ich laut nach. »Anders kann ich mir das nicht erklären.«
»Wahrscheinlich hast du recht, aber ich mache mir trotzdem Vorwürfe. Die ganze Zeit hatte ich die Drahtzieherin der Scheiße direkt vor der Nase sitzen. Und ich habe es nicht gemerkt.« Er schaut mich verzweifelt an. »Es … es tut mir so leid.«
Ich sehe es in seinen Augen glitzern, vorsichtig setze ich mich im Bett auf und nehme ihn in den Arm. »Du kannst doch nichts dafür, Jannis. Du kennst Marlene von einer ganz anderen, netten Seite. Wie solltest du ahnen können, zu was sie fähig ist?«
Ich spüre, dass es an meiner Schulter nass wird. Jannis so verzweifelt zu sehen, tut mir in der Seele weh.
Marlene hat ganze Arbeit geleistet. Nicht nur ich bin ein Opfer , denke ich traurig. Und ich will mir auch gar nicht ausmalen, was meine Eltern durchgestanden haben.
Eine Zeit lang sitzen wir nur so da und halten uns im Arm.
»Wenn ich dir doch etwas von deinen Schmerzen abnehmen könnte, ich würde es nur allzu gern tun«, flüstert Jannis in mein Ohr.
»Oh, glaub mir, das willst du nicht.« Ich schiebe ihn von mir und schaue in sein Gesicht. »Ich habe dich so vermisst. Und ich hatte eine verdammte Scheißangst, dass ich dich nicht wiedersehen würde.«
»Ging mir genauso, Josy.« Jannis küsst mich auf die Stirn. »Wenn du hier raus bist, dann nehmen wir uns ganz viel Zeit für uns, okay?«
»Klingt gut.«
Die Schwester kommt herein und fragt, ob ich noch etwas für die Nacht bräuchte. Ich bin froh, dass sie Jannis nicht wegschickt. Wir erzählen noch eine Weile, dann fallen mir aber doch die Augen zu.
Als ich wieder wach werde, entdecke ich Jannis, der schief in dem Sessel hängt und eingeschlafen ist.
Der Arme, morgen tun ihm alle Knochen weh , denke ich zerknirscht. Aber auch, wenn er mir wirklich leidtut, ich bin froh, dass ich nicht alleine bin. Dass die beiden Typen noch auf freiem Fuß sind, nagt an mir.
Was ist, wenn sie versuchen, mich zu kriegen? Wer weiß schon, womit Marlene sie beauftragt hat?
Als die Schwester erneut nach mir sieht, bin ich überrascht, dass es bereits frühmorgens ist. Sie bringt mir ein Frühstück und ich spüre, wie ich immer mehr Hunger bekomme.
»Ihr Freund war die Nacht über hier«, flüstert sie mir zu. »Er hat die ganze Zeit im Sessel geschlafen.«
»Hätten Sie vielleicht auch einen Kaffee für ihn?«, bitte ich sie.
»Ich denke, das lässt sich einrichten.«
Jannis wird vom Kaffeeduft wach, als er aufsteht, ächzt er laut. »Oh Mann, was für eine Nacht …«
»Du wärst doch lieber nach Hause gegangen.«
»Keine Chance, Josy.« Er kommt zu mir und gibt mir einen Kuss. »Sarah kommt heute Vormittag vorbei, sie hat mir eine Nachricht geschickt. Dann fahre ich mal kurz nach Hause und dusche mich.«
»Danke, dass du da warst, Jannis. Das bedeutet mir sehr viel.«
»Du bedeutest mir viel.« Er schaut mich einen Moment lang ernst an, ich halte gespannt die Luft an. Doch dann klopft es wieder an der Tür und dieser kleine Augenblick ist verflogen.
Zu meiner Überraschung sind es die beiden Kommissare, die gestern schon bei mir waren.
»Guten Morgen, Frau Stamm. Und Herr Voigt, gut, dass Sie auch da sind. Tut mir leid, dass wir Sie so früh stören.«
»Das macht nichts.« Ich schaue die beiden verwirrt an. »Haben Sie noch Fragen?«
»Nein, nicht direkt. Wir möchten Sie darüber informieren, dass wir gestern in der Wohnung von Frau Schwarz waren.«
»Oh. Und?« Ich platze vor Neugier. Warum machen sie es so spannend?
»Konnten Sie Beweise dafür finden, dass meine Lebensgefährtin von dieser Irren entführt worden ist?«
Für einen kurzen verrückten Moment kommt mein Herz ins Stolpern. Lebensgefährtin? Hat er das jetzt wirklich gesagt?
Herr Hausmann nickt. »Ja, allerdings. Die Kollegen haben den PC von Frau Schwarz sichergestellt und die ganze Nacht lang ausgewertet. Wir haben die Aufnahmen gefunden, in denen die Misshandlungen an Ihnen zu sehen sind.« Der Kommissar tritt auf mich zu und schaut mich besorgt an. »Und wir haben noch etwas anderes gefunden. Frau Schwarz hat in allen Internetkanälen regelrecht gewütet. Sie besitzt zig Accounts, unter denen sie aktiv war. Wir haben Nachrichten entdeckt, die sie an Sie geschrieben hat. Und im Übrigen auch an andere Damen, mit denen Sie, Herr Voigt, in der Öffentlichkeit gesehen wurden«, richtet sich Herr Hausmann jetzt an Jannis. »War Ihnen das bekannt?«
»Nein! Natürlich nicht!« Jannis wirkt genauso verstört wie ich. »Ich … ich hätte ihr das niemals zugetraut! Und von den anderen Frauen weiß ich nichts.«
Der Kommissar nickt. »Wahrscheinlich haben die Damen es nicht ernst genommen. Sie wurden ja auch nicht in dem Maße bedroht wie Frau Stamm. Ich glaube Ihnen. Frau Schwarz hat im gestrigen Verhör Verhaltensauffälligkeiten gezeigt, die darauf hindeuten, dass sie große psychische Probleme hat. Eventuell liegt eine Erkrankung vor. Sie wird jetzt eingehend untersucht.«
»Herr Voigt, wussten Sie, dass der PC von Frau Schwarz voll mit Fotos von Ihnen ist? Ich habe ein paar Ausdrucke angefertigt.« Kommissar Berthold greift in eine Tasche und zieht mehrere Fotos heraus, dann reicht er sie an Jannis weiter.
Er schaut sich die Bilder mit großen Augen an und wirkt völlig fassungslos. »Was sind das für Aufnahmen? Das können nur Fotomontagen sein!«
»Das wundert uns nicht«, sagt Herr Berthold. »Bilder dieser Art gibt es zu Hunderten auf dem Rechner von Frau Schwarz.«
Ich höre gebannt zu. Liebend gern würde ich einen Blick auf die Fotos werfen, aber der Kommissar verstaut sie schon wieder in seiner Tasche. »Von Ihnen sind auch Bilder vorhanden. Scheußliche Collagen, den Anblick möchte ich Ihnen im Moment lieber ersparen«, sagt er mitfühlend.
»Okay.« Ich kann kaum fassen, wozu Marlene fähig gewesen ist. Aber sie ist überführt worden und das sind doch schon einmal gute Neuigkeiten. Nur was ist mit den anderen?
»Wissen Sie auch schon, wer die beiden Kerle sind?«, frage ich ihn hoffnungsvoll.
»Nein, leider noch nicht. Wir haben im Moment nur die Namen aus den Chatverläufen mit Frau Schwarz. Um wen es sich bei den Männern genau handelt, können wir noch nicht sagen. Aber die Kollegen arbeiten mit Hochdruck daran, die beiden zu identifizieren. Frau Schwarz hält sich diesbezüglich bedeckt. Da ist allerdings noch etwas, dass wir Ihnen nicht vorenthalten können.« Zum ersten Mal druckst Kommissar Hausmann ein wenig herum.
»Was denn?«
»Frau Schwarz hat ihren Komplizen aufgetragen, Sie umzubringen, das geht aus den Chatverläufen hervor. Der letzte Kontakt mit den Mittätern war unmittelbar vor Ihrer Befreiung. Und da wir nicht wissen, inwieweit diese Anweisung noch gilt, müssen wir Vorsorge treffen. Vor Ihrer Tür wird ein Beamter postiert werden, der die Besucher kontrolliert, die zu Ihnen möchten.«
»Oh …« Ich schlucke heftig. »Ja, das … das ist … also das ist nett, da … danke.«
Du hast es geahnt, Josy. Es ist also noch nicht vorbei.