34
Ich zucke erschrocken zusammen und mir wird kurz schwarz vor Augen. »Vor … Vorfall«, frage ich mit heiserer Stimme. »Was denn für einen Vorfall?«
»Sie sollten sich nicht aufregen«, versucht Dr. Hilscher zu beschwichtigen. »Sie hatten gerade eine Operation. Bitte ruhen Sie sich aus.«
»Ausruhen?« Ich schaue ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Wie soll ich mich denn ausruhen? Was war das für ein Vorfall? Was ist passiert?«
Die Schwester sieht mich genauso hilflos an wie Dr. Hilscher, das trägt alles nicht gerade zu meiner Beruhigung bei.
»Sagen Sie mir doch endlich was!«, flehe ich die beiden an. Als sie immer noch beharrlich schweigen, halte ich es nicht mehr aus.
Ich schlage die Decke zurück und versuche, aufzustehen. »Ich werde Herrn Schelling fragen, was passiert ist«, ächze ich. Als ich aufrecht im Bett sitze, wird mir kurz schwindelig, doch ich muss endlich Klarheit haben.
»Nein, nein!« Jetzt kommt Leben in Dr. Hilscher, hastig eilt er auf mich zu und drückt mich zurück in die Kissen. »Bleiben Sie liegen, Frau Stamm!«
»Nur wenn Sie endlich den Mund aufmachen«, keife ich. Ich höre mich wahrscheinlich an wie eine hysterische Kuh, aber ich kann mich kaum noch beherrschen.
»Also gut. Aber zuerst legen Sie sich wieder hin, ja?«
Mürrisch folge ich seiner Anweisung. »Ich liege.«
»Es sind heute zwei Männer aufgetaucht, eventuell waren es die Männer, die noch gesucht werden. Es gab ein Gerangel mit dem Polizisten und einem Sicherheitsmann, zum Glück wurde keiner schwer verletzt. Die beiden Verdächtigen konnten überwältigt werden.« Dr. Hilscher atmet tief durch und schaut mich besorgt an.
Mein Herz klopft wie wild.
Oh mein Gott, sie waren tatsächlich hier. Sie wollten mich umbringen, sie wollten Marlenes Auftrag beenden!
Ich habe das Gefühl, kurz vor einer Panikattacke zu stehen. Mein Puls rast und ich bekomme kaum noch Luft. Plötzlich schwitze ich aus allen Poren.
»Sehen Sie, genau deswegen wollten wir Ihnen nichts sagen«, schimpft Dr. Hilscher. »Ich gebe Ihnen ein leichtes Beruhigungsmittel, atmen Sie bitte tief durch«, weist er mich streng an.
Ich schließe für einen Moment die Augen. Bilder tauchen wieder auf. Bilder, die ich schnellstmöglich vergessen möchte. Ich sehe die Männer vor mir, in diesem dreckigen Raum mit den kalten Betonwänden. Sehe ihre Gesichter, während sie pausenlos auf mich einschlagen. Dr. Hilscher und die Schwester reden auf mich ein, irgendwann kann ich besser atmen und werde ruhiger.
»Geht es Ihnen wieder besser?«, fragt die Schwester mich dann.
»Ja.« Ich nicke und fühle mich auf einmal so unendlich müde und erschöpft.
»Versuchen Sie, noch ein bisschen zu schlafen.«
Ich lache bitter auf. »Das wird wohl nicht klappen.«
»Die Spurensicherung ist noch vor Ort. Sobald die Beamten fertig sind, bringen wir Sie in das andere Zimmer zurück. Sie können aber auch gern hierbleiben, wie Sie wünschen.«
»Mir egal«, seufze ich auf.
Ich starre die ganze Zeit einfach nur an die Decke und versuche vergeblich, nicht pausenlos an die Männer zu denken. Was wäre geschehen, wenn ich in dem anderen Zimmer gewesen wäre? Wäre es ihnen gelungen, zu mir vorzudringen? Selbst, wenn es nur einer geschafft hätte, in mir hätten sie ein wehrloses Opfer vorgefunden.
Wahrscheinlich haben sie es auch deshalb gewagt, ins Krankenhaus zu kommen!
Und was heißt überhaupt, »es wurde keiner schwer verletzt«?
Das bedeutet doch, dass jemand verletzt wurde, oder? Ich schlucke gegen einen Kloß im Hals an. Hoffentlich hat der nette junge Polizist nichts abgekriegt. Und hat der Arzt nicht auch noch von einem Sicherheitsmann geredet? Was denn für ein Sicherheitsmann?
Meine Grübeleien werden durch ein Klopfen unterbrochen. Ein junger Pfleger kommt ins Zimmer und strahlt mich an. »Hey, wie geht’s Ihnen? Ich soll bei Ihnen Blutdruck messen.«
»Okay. Nur zu.«
»Ich bin übrigens Tom. Ich mache hier eine Ausbildung zum Krankenpfleger.«
»Tolle Entscheidung. Das ist ein wichtiger Job.« Ich habe zwar überhaupt keine Lust auf Small Talk, doch Tom hat so eine gute Laune, die will ich ihm nicht verderben.
»Da war ja ganz schön was los heute«, sagt er, als er mir den Ärmel des OP-Hemds hochschiebt.
»Ja, es gab … es gab einen Zwischenfall?«, hake ich vorsichtig nach. Vielleicht kann ich ja von ihm etwas mehr herausbekommen.
»Oh ja, den gab es«, lacht er. »Aber ich darf Ihnen eigentlich nichts davon erzählen.«
»Na kommen Sie. Jetzt haben Sie ja schon angefangen. Und das meiste weiß ich doch eh.« Ich versuche, gleichgültig zu klingen.
»Na ja, wenn Sie es eh wissen … Also da kamen zwei Typen an, und der Polizist, der vor Ihrer Tür postiert war, ist sofort aufgesprungen. Ich glaube, der hat die beiden direkt erkannt«, raunt Tom mir verschwörerisch zu.
»Na, zum Glück«, sage ich atemlos.
»Er hat sich den Kerlen in den Weg gestellt, zusammen mit dem Sicherheitsmann …«
»Welcher Sicherheitsmann?«
»Der ist seit heute Morgen da. Ein total cooler Typ. Ein Russe.«
»Ein Russe?« Mir kommt da ein Verdacht.
Mama, hast du etwa Sergej als Wachhund vorbeigeschickt? Oder einen seiner Trainer?
»Ja«, nickt Tom wichtig. »Die Täter sind direkt auf die beiden los, aber der Russe hatte ein paar total coole Moves drauf und hat die fast im Alleingang ausgeknockt. Nur leider hat der Polizist einen Messerstich abbekommen. Die Scheißkerle hatten sogar jede Menge illegaler Waffen dabei, hat die Polizei hinterher erzählt. Ich glaube, wir müssen bald eine Sicherheitsschleuse vor der Klinik einbauen.«
»Ist der Polizist schwer verletzt worden?« Mir zieht sich das Herz zusammen, wenn ich an Jan Schelling denke.
»Nein, der musste zwar operiert werden, aber die Klinge hat keine Organe verletzt. Der wird schon wieder.«
»Gott sei Dank.« Ich atme ein wenig auf, obwohl mir immer noch ganz übel ist.
»So, der Blutdruck ist soweit okay, ein bisschen niedrig, aber nicht weiter schlimm. Haben Sie Schmerzen im Arm?«
»Wie bitte?« Ich schaue Tom verwirrt an. Ach ja, der Arm. »Nein, das geht schon.«
»Gut, wenn was ist, dann drücken Sie den Rufknopf. Nachher gibt es auch etwas zu essen.«
So gut gelaunt, wie er gekommen ist, verlässt Tom das Zimmer auch wieder.
Und mein Kopfkarussell fängt erneut an, sich zu drehen. Doch ich zwinge mich immer wieder, mir selbst einzuhämmern, dass alles vorbei ist.
Zum Glück kommt Jannis kurz darauf vorbei, ich bin überglücklich, dass ihm nichts passiert ist. Seine Miene verrät, dass er bereits über alles Bescheid weiß.
»Scheiße, Josy«, sagt er nur und zieht mich sofort in die Arme. »Was für widerliche Hurensöhne«, murmelt er immer wieder. »Ich bin so froh, dass du nicht in der Nähe warst.«
Ich schiebe ihn vorsichtig von mir. »Was hast du mitbekommen?«
»Gar nichts. Leider. Ich hätte die beiden gern persönlich kennengelernt, das kannst du mir glauben«, sagt er wütend.
»Ich bin froh, dass das nicht passiert ist«, schlucke ich. »Sie … sie kommen doch jetzt nicht mehr frei, oder?«
»So schnell jedenfalls nicht«, knurrt er. »Gut, dass deine Mutter diesen Igor geschickt hat. Sonst wäre der Polizist wohl nicht so glimpflich davongekommen.«
»Wer ist dieser Igor?«
Jannis zuckt mit den Schultern. »Ein Mitarbeiter eines gewissen Sergej. Dieser muss ihn wohl hergeschickt haben, weil deine Mutter ihn darum gebeten hat.«
Ich nicke nur. Normalerweise hasse ich es, wenn meine Mutter sich einmischt. Aber in diesem Fall hat sie wohl recht gehabt. »Sergej hat ein Studio, in dem verschiedene Selbstverteidigungstechniken gelehrt werden«, erkläre ich ihm.
»Man kann ihr nicht genug dafür danken«, sagt Jannis leise.
Ich schmiege mich wieder in seine Arme, es tut so gut, seine Wärme zu spüren. »Ich will hier weg, Jannis. Bring mich zu dir, bitte.«
»Hey, Josy.« Ich spüre, wie er kleine Küsse auf meinen Nacken haucht. »Du bist gerade operiert worden und stehst noch unter Schock. Vielleicht wäre es ganz gut, wenn du noch ein paar Tage hierbleibst. Es kann dir nichts mehr passieren, alle Verantwortlichen sind festgenommen worden.«
»Wer weiß schon, was Marlene sich sonst noch ausgedacht hat? Vielleicht gibt sie doch nicht auf?«, sage ich ängstlich.
»Nein, das glaube ich nicht.« Er schiebt mich sanft von sich und sieht mich liebevoll an. »Ich hätte dich wirklich gern bei mir, Prinzessin. Aber ich denke, das wäre unvernünftig.«
»Ist mir egal. Ich kann hier nicht mehr bleiben. Ich drehe sonst durch«, schlucke ich.
Jannis betrachtet mich eine Weile nachdenklich. »Wir reden gleich mal mit dem Arzt, okay?«
Dr. Hilscher kommt auf Jannis’ Bitten kurz darauf vorbei. Als ich ihm mein Anliegen vortrage, reißt er überrascht die Augen auf. »Sie sind heute erst operiert worden und Sie hatten eine Panikattacke. Ich halte das für keine gute Idee.«
»Das ist mir ehrlich gesagt egal«, sage ich trotzig.
»Ich kann durchaus verstehen, dass Sie verängstigt sind, aber …«
»Wann kann ich gehen?«, unterbreche ich ihn ungeduldig.
»Ich würde Sie lieber noch drei Tage hierbehalten. Bedenken Sie, dass Sie auch eine Gehirnerschütterung haben und wir Ihnen starke Schmerzmittel verabreichen.«
»Drei Tage?« Ich stöhne laut auf. »Nein, das halte ich nicht aus. Ich möchte auf eigene Verantwortung gehen.«
»Josy, jetzt sei aber mal vernünftig«, bittet mich auch Jannis.
»Nein, ich will nicht vernünftig sein!« Vor lauter Wut steigen mir die Tränen in die Augen. »Ich will raus hier!«
»Wir können Sie nicht gegen Ihren Willen hier festhalten.« Dr. Hilscher schüttelt den Kopf. »Aber bleiben Sie zumindest bis morgen. Ich möchte die Naht an Ihrem Arm noch einmal sehen.«
Morgen? Das ist noch so lange …
, bockt es in mir. Doch ich sehe ein, dass der Arzt wohl recht hat. Ich sollte an den Arm denken.
»Aber morgen gehe ich wirklich!«
»Ja, Sie können morgen gehen. Ich habe zwar Magenschmerzen dabei, aber ich gebe Ihnen mein Wort.«
Gegen Abend kommt meine Familie erneut vorbei. Und jetzt lerne ich auch Sergej und Igor kennen. Die beiden Russen sind schon recht furchteinflößend, aber man merkt ihnen schnell an, dass sie im Grunde einen weichen Kern haben.
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sage ich zu Igor. Ich reibe mir ein wenig die Hand, die er gerade geschüttelt hat, dabei hat er bestimmt versucht, nicht zu kräftig zuzudrücken.
Igor winkt nur ab. »Kein Problem, Josephina. Seien wir froh, dass dem jungen Polizisten nichts Schlimmeres passiert ist.«
Ich kann ihm nur beipflichten. Vor einer Stunde habe ich Jan Schelling besucht, er ist zwar etwas blass um die Nase gewesen, aber er wirkte munter und zuversichtlich.
»Wir haben schon mit ihm gesprochen, er kommt zu uns ins Studio, sobald er wieder fit ist«, grinst Sergej.
Meine Mutter schaut mich auffordernd an, aber ich verschwende erst einmal keinen Gedanken an ein Selbstverteidigungstraining. Im Moment habe ich zu viele andere Dinge im Kopf.
Als ich meiner Familie mitteile, dass ich morgen das Krankenhaus verlassen werde, versuchen sie ebenfalls, mich zum Bleiben zu überreden. Aber das prallt völlig an mir ab. Ich muss hier raus, ich brauche dringend wieder so etwas wie Normalität.
Wenn man denn von Normalität sprechen kann, wenn du in Jannis’ Wohnung bist
, zischt es in mir. Aber auch diese Gedanken schiebe ich beiseite.
»Dies ist ein Rezept für Schmerzmittel und hier ist die Nummer eines guten Freundes von mir.« Dr. Hilscher überreicht es mir zusammen mit einer Visitenkarte. »Professor Meier war hier Chefarzt, bis er vor drei Jahren pensioniert wurde. Er macht aber immer noch Hausbesuche. Ich habe ihn über Ihren Fall aufgeklärt und kann Ihnen nur empfehlen, seine Hilfe in Anspruch zu nehmen.« Der Arzt schaut mich streng an, immerhin hat er mir die Entlassungspapiere schon in die Hand gedrückt.
»Das werden wir auf jeden Fall machen«, bedankt sich Jannis bei ihm, bevor ich antworten kann.
»Und denken Sie dran: Möglichst wenig fernsehen wegen der Gehirnerschütterung. Die Schmerzen in der Rippengegend können noch ein paar Wochen anhalten, ich rechne aber damit, dass Sie schneller beschwerdefrei sind«, fährt Dr. Hilscher fort. »Von den Hämatomen in Ihrem Gesicht dürften Sie in ein paar Tagen nichts mehr sehen.«
Ich greife nach seiner Hand. »Vielen Dank für alles.« Und das meine ich wirklich ehrlich. Auch wenn ich für ihn sicherlich eine riesige Nervensäge war, ich mochte seine besonnene Art.
»Ich wünsche Ihnen alles Gute, Frau Stamm. Und bitte denken Sie dran, dass Sie therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Es ist schwer, so etwas alleine zu verarbeiten. Niemand sollte eine solche Erfahrung mit sich selbst ausmachen müssen.«
»Das werde ich«, verspreche ich ihm.
Ich setze die dunkle Sonnenbrille auf, die meine Mutter mir vorbeigebracht hat, und hake mich bei Jannis unter. Ich bin noch etwas wacklig auf den Beinen, aber trotzdem fällt mir eine Riesenlast von der Seele, als ich das Krankenhaus verlasse und nach draußen trete. Als mir ein kühler Wind entgegenschlägt, atme ich tief durch. Immer noch spüre ich einen leichten Stich in meiner Rippengegend, aber den ignoriere ich. Zu sehr genieße ich es, die frische Luft einzuatmen.
»Bereit?«, fragt Jannis, als er mir die Beifahrertür aufhält.
»Na klar.« Zum ersten Mal seit Tagen kann ich ihn richtig befreit anlachen. »Ich sollte wohl eher fragen, ob du bereit bist, mich als Patientin zu ertragen.«
»Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht«, sagt er frech. »Kann gut sein, dass ich dich morgen wieder hier abliefere. Oder wahlweise bei deinen Eltern.«
»Komm damit klar, Jannis Voigt!«
»Keine Sorge, das werde ich.« Sanft drückt er mich auf den Sitz. »Ich habe Dr. Hilscher um starke Schlafmittel für dich gebeten. Die verabreiche ich dir, wenn du mir zu sehr auf die Nerven gehst.«
Ich will ihn mit der Faust in die Seite knuffen, doch er fängt meine Hand ab und drückt mir einen Kuss auf die Knöchel. »Ich bin sehr froh, dass du bei mir bist, Josy.«
Als wir Jannis’ Wohnung betreten, stoße ich einen überraschten Schrei aus. Auf seinem Esszimmertisch steht eine riesige Einhorntorte und ein großer, furchtbar kitschiger Luftballon schwebt darüber.
»Get well soon, Josy!«, steht darauf.
Jannis schlingt von hinten die Arme um mich. »Ich brauche wohl nicht zu sagen, wem du das hier zu verdanken hast«, raunt er mir zu.
»Nein«, stammele ich. Ich bin so gerührt, dass es mir die Sprache verschlägt.
»Sobald du möchtest, werden sie hier einfallen. Aber für heute habe ich mir erst einmal Ruhe erbeten«, lacht er.
»Wenn das so weitergeht, wird deine Wohnung immer pastelliger«, kichere ich.
»Ich kann dir eines versprechen: Das werde ich zu verhindern wissen«, brummt es energisch hinter mir.