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»Hast du etwa daran gezweifelt?«, fragt er.
»Ich war mich nicht sicher«, sage ich ehrlich.
Er reißt überrascht die Augen auf. »Wirklich? Aber warum?«
»Na ja, es hat mich schon gewundert, dass du … also dass du auf mich stehst. Ich meine, bei euch in der Agentur sind doch so viele tolle Frauen unter Vertrag, die alle eine viel bessere Figur als ich haben. Da kommt man schon ins Grübeln. Und die Kommentare in den sozialen Netzwerken haben nicht gerade dazu beigetragen, dass ich mich wohler in meiner Haut fühle.«
»Aber glaubst du denn wirklich, ich hätte den ganzen Aufwand um dich betrieben, wenn es mir nicht ernst gewesen wäre?«
»Welchen Aufwand denn?«, hake ich nach.
Jannis fängt an zu lachen. »Ach komm, du weißt genau, was ich meine. Denkst du etwa, ich fahre mit allen Models zu den Shootings ins Ausland?«
»Hätte ja sein können, dass du Angst hattest, dass ich es kolossal vermassele. Immerhin bin ich noch ganz neu in der Branche.«
Jannis legt eine Hand an meine Wange. »Nein, Josy. Ich bin mitgefahren, weil du auf mich eine ungeheure Anziehungskraft
gehabt hast. Okay, auf den Kanaren war ich mir noch nicht so sicher, in welche Richtung das mit uns gehen könnte. Aber je mehr Zeit ich mit dir verbracht habe, umso mehr hast du mich fasziniert.«
»Das klingt echt gut.« Ich strahle ihn verzückt an. »Erzähl weiter …«
»Ach ja, da wäre noch eine kleine Sache. Wenn wir schon beim Thema Kanaren sind …« Jannis setzt ein fieses Grinsen auf und ich bekomme prompt ein mulmiges Gefühl. »Warum hast du Gabriella erzählt, dass ich Kinder hätte, hm?«
Wie ärgerlich, ich wusste doch, dass er irgendwann noch mal auf das leidige Thema zurückkommen würde. Kurz überlege ich, ob ich auf die Schnelle noch eine passende Ausrede finden könnte, aber dann beschließe ich, die Wahrheit zu sagen.
»Sie hat sich nach dir erkundigt und schien mir … na, sagen wir mal, ›interessiert‹ an dir zu sein. Und das hat mir irgendwie nicht gepasst.«
»Irgendwie nicht gepasst?« Jannis lacht laut auf und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. »Du warst eifersüchtig, Josy. Gib es zu.«
»Schon möglich«, nuschele ich leise.
»Ab da war mir klar, dass ich dich auf jeden Fall näher kennenlernen will.«
»Siehst du, dann hab ich ja alles richtig gemacht. Immerhin liege ich jetzt mit dem heißen Kerl im Bett und nicht Gabriella«, lächele ich ihm zuckersüß zu. »Oder hast du sie trotzdem abgeschleppt?«
»Nein, ich hatte kein Interesse an ihr«, winkt Jannis ab.
»Aber du wolltest noch weiter von mir schwärmen …«
Jannis zieht überheblich die Augenbrauen hoch. »Wollte ich das?«
»Ich denke schon …«
»Okay. Wenn es deiner Genesung dient«, seufzt er auf.
»Tut es. Ganz bestimmt.«
»Dann kam das Angebot für ›Hombre‹. Ich habe keinen Gedanken daran verschwendet, das mit einem anderen Model durchzuziehen. Obwohl Marlene es mir mit aller Gewalt ausreden wollte. Heute weiß ich natürlich, warum.«
»Das wundert mich nicht«, sage ich leise.
»Dich zu nehmen, war die beste Entscheidung, die ich in meinem Leben getroffen habe.« Er beugt sich über mich und beginnt, mich zärtlich zu küssen. Leider macht mir meine kaputte Lippe schnell einen Strich durch die Rechnung.
»Ich möchte dich so gern wieder richtig küssen«, flüstere ich an seinem Mund.
»Geht mir genauso.«
Lange sehen wir uns nur in die Augen, dann wird meine Müdigkeit übermächtig. Ich bekomme noch mit, dass er mich zudeckt, dann bin ich schon eingeschlafen.
Etwas ist komisch, das merke ich sofort. Es ist plötzlich so dunkel um mich herum und diese Kälte ist wieder da. Mein Herz beginnt zu rasen, das kann doch alles nicht wahr sein, ich bin wieder in diesem feuchten Raum. Ich taste mich vorsichtig vorwärts, bis ich an die Betonwände stoße. Hastig versuche ich, mich aufzurichten, dann spüre ich, wie sich zwei Hände um meinen Hals legen und zudrücken. Ich wehre mich nach allen Kräften, versuche, die Hände von mir zu schieben, immer schwerer bekomme ich Luft. Mein Hals wird enger, plötzlich wird es heller und ich sehe Jannis’ Gesicht vor mir. Er ist es. Er will mich erwürgen. Ich schreie, so laut ich kann.
»Josy, komm schon. Wach auf!« Ich höre seine Stimme wie durch einen Nebel. »Du hast nur geträumt, es war nur ein Traum.«
Panisch taste ich nach meinem Hals, die Hände sind verschwunden und so langsam werde ich auch wieder klarer. Erst jetzt bemerke ich, dass mein Gesicht tränennass ist.
»Ein Traum«, wiederhole ich wie in Trance.
»Genau. Komm her.« Vorsichtig zieht er mich in seine Arme. »Geht’s wieder?«
Mein Atem geht immer noch stoßweise und ich bin völlig verschwitzt. Nur langsam gelingt es mir, mich zu beruhigen.
»Es … es war schrecklich«, stammele ich.
»So hörte es sich auch an. Du hast geschrien und um dich geschlagen.« Ganz behutsam dreht er mein Gesicht zu sich, damit ich ihn ansehen kann. »Morgen suchen wir uns Hilfe für dich, okay?«
»Okay.«
Ich habe Schwierigkeiten, erneut in den Schlaf zu finden. Jedes Mal, wenn mir die Augen zufallen, reiße ich sie panisch wieder auf, nur um nicht noch einmal in diesen Albtraum zu geraten. Jannis ist zum Glück eingeschlafen und bekommt meine Unruhe nicht mit.
Seine Worte gehen mir immer wieder durch den Kopf. Ja, ich brauche wohl Hilfe, das kann ich nicht leugnen. Morgen werde ich die Therapeutin anrufen, die Tami mir empfohlen hat. Je schneller ich darüber hinwegkomme, umso besser. Nicht, dass ich noch völlig durchdrehe und am Ende Marlene doch gewinnt.
Es ist noch früh am Morgen, als ich entnervt aufstehe. Leider hatte ich noch einen Albtraum, aber zum Glück ist Jannis davon nicht wachgeworden. Ich putze mir die Zähne und setze mich ins Wohnzimmer. Draußen ist es noch dunkel, nur ganz langsam erwacht die Stadt. Den Ausblick aus Jannis’ Wohnung
habe ich schon immer genossen, also ziehe ich mir einen Sessel an die große Fensterfront und warte auf die Dämmerung.
»Hey, Josy. Was machst du hier?«
Ich zucke zusammen, als ich plötzlich Jannis’ Stimme höre. »Ich konnte nicht mehr schlafen«, antworte ich.
Er kommt zu mir und hockt sich neben den Sessel. »Hast du wieder schlecht geträumt?«
»Ja. Ich hatte Angst, dass ich dich wecke.«
»Das musst du nicht.« Jannis nimmt meine Hand und haucht mir einen zärtlichen Kuss darauf. »Ich bin für dich da, Prinzessin. Das solltest du doch eigentlich wissen.«
»Das weiß ich auch«, versichere ich ihm. »Trotzdem brauchst du aber deinen Schlaf.« Ich fahre ihm sanft mit den Fingern durch die Haare. »Musst du gleich los?«
Jannis seufzt auf. »Ja, leider. Ich hätte mir gern heute freigenommen, aber ich habe ein paar wichtige Termine, die ich nicht verschieben kann. Und ich muss mich um einen Ersatz für Marlene kümmern. Auch wenn sie ein widerliches Miststück ist, sie hinterlässt in der Agentur eine Lücke, das kann ich leider nicht abstreiten.«
»Verstehe.« Ich glaube ihm sogar. Jannis hat immer wieder betont, wie ehrgeizig Marlene in ihrem Job war. Dass sie ihre Arbeit gut erledigt hat, erscheint mir plausibel.
»Ich setze mich heute auch mit Paul zusammen, wir schalten eine Jobanzeige und dann bin ich mal gespannt, wie viele Interessenten sich melden.«
»Ich drücke die Daumen, dass ihr schnell jemanden findet. Wenn ich euch irgendwie unterstützen kann, lasst es mich wissen.«
Jannis steht auf und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. »Du sollst dich in erster Linie erholen. Aber danke für das Angebot.«
Jannis bringt mir einen Kaffee und geht ins Bad, kurz darauf verabschiedet er sich.
»Viel Spaß mit Mia«, grinst er.
»Danke, den werde ich bestimmt haben«, sage ich zuckersüß.
Er erklärt mir zum gefühlt dreihundertsten Mal, wie die Sicherheitstechnik an der Wohnungstür funktioniert, dann macht er sich auf den Weg.
Es ist ein komisches Gefühl und mir wird ein bisschen mulmig zumute. Zum ersten Mal seit vielen Tagen bin ich allein, und da ich nicht viel tun kann, habe ich genügend Zeit zum Grübeln.
Es ist so viel passiert. So viel Schreckliches, aber auch jede Menge Schönes. Nie hätte ich gedacht, dass mir mal so etwas widerfahren könnte, und ich frage mich, ob mich das Erlebte in meinen zukünftigen Entscheidungen beeinflussen wird. Werde ich ängstlicher sein und Handlungen mehr hinterfragen? Oder behalte ich mir meine Spontaneität? Letzteres kann ich mir irgendwie nicht vorstellen.
Zum Glück ist da aber Jannis. Die Liebeserklärung hat mir so unheimlich gutgetan und mir wird immer noch ganz warm, wenn ich an seine Worte denke. Und er ist auch der Grund, warum ich mich auf die Zukunft freuen kann. An seiner Seite fühle ich mich sicher.
Um Punkt zehn Uhr läutet es und ich gehe zur Wohnungstür. Dort ist eine Sprechanlage angebracht, es meldet sich der Portier der Wohnanlage.
»Guten Morgen«, ruft er fröhlich. »Hier ist eine junge Frau, die möchte zu Ihnen. Eine gewisse Mia Schröder. Soll ich sie rauflassen?«
»Ja, natürlich. Vielen Dank.«
Kurz darauf steht sie oben vor der Tür, ich kann sie durch die Kamera sehen. Mia streckt mir die Zunge heraus und schneidet Grimassen. Kichernd öffne ich die Tür.
»Na, bist du sicher, dass du mich auch wirklich hereinlassen kannst?«, feixt sie, als ich sie hereinbitte. Dann mustert sie mich mit zerknirschtem Gesichtsausdruck. »Ach Josy, was hat man dir bloß angetan?« Mia zieht mich vorsichtig in ihre Arme. »Wie geht es dir?«
»Es ist auszuhalten«, versichere ich ihr. »Nur mit dem gebrochenen Arm ist die Körperpflege schwierig. Danke, dass du da bist.«
»Das ist doch selbstverständlich.«
Ich bitte sie ins Wohnzimmer und wir trinken zusammen einen Kaffee. Als sie sich umschaut, pfeift sie anerkennend. »Das ist ja mal eine wirklich geile Wohnung.«
»Ja, das kann man wohl sagen. Und warte ab, bis du das Bad siehst«, zwinkere ich ihr zu.
»Das ist ja ein Traum!« Mia schaut sich bewundernd um. »Und was für eine riesige Wanne. Da kann man bestimmt jede Menge Spaß drin haben«, lacht sie, dann wendet sie sich an mich. »Aber jetzt zu dir, Schatzi.«
Sie hilft mir, mich auszuziehen, als sie die Hämatome sieht, sagt sie aber keinen Ton. »Ich versuche, dich vorsichtig zu waschen. Du musst aber sagen, wenn ich dir wehtue, okay?«
»Verlass dich drauf«, lächele ich ihr zerknirscht zu.
Es geht alles sehr mühsam vonstatten, aber schließlich ist es geschafft. Ich sitze mit frisch gewaschenen Haaren und gut riechend wieder mit Mia im Wohnzimmer.
»Warum bist du schon so früh entlassen worden?«, fragt mich meine Freundin.
»Ich habe mich selbst entlassen. Ich hab es da einfach nicht mehr ausgehalten«, gestehe ich ihr.
»Ach Josy … Wenn du mich fragst, war das ein Fehler. Du hast schwere Verletzungen, dein ganzer Oberkörper ist voller Hämatome!«
»Ich wollte nicht länger im Krankenhaus bleiben«, beharre ich.
»Hast du denn vernünftige Schmerzmittel?«
Ich zeige Mia die Medikamente, die Dr. Hilscher mir aufgeschrieben hat.
Mia winkt verächtlich ab. »Das ist doch nichts Richtiges. Kannst du schlafen?«
»Also … ich hatte schon ein paar Albträume heute Nacht. Die hatte ich im Krankenhaus eigentlich nie.«
Meine Freundin grinst mich hämisch an. »Na, woran könnte das wohl liegen, hm? Ich sag ja, du hättest dortbleiben sollen. Da bekommst du wenigstens das richtig gute Zeug und hast ein paar ruhige Nächte.«
»Ich werde mir auf jeden Fall therapeutische Hilfe suchen«, sage ich kleinlaut.
»Ja, das musst du unbedingt, Josy.« Mia drückt mich noch einmal an sich. »Aber du schaffst das, ganz sicher. Dieser Scheiß wird dich nicht kaputtmachen, das weiß ich. Du bist stark. Und du hast doch jetzt auch einen richtig guten Kerl an deiner Seite. Der wird dich schon auf andere Gedanken bringen, sobald du wieder fit bist.«
Sie lächelt mir noch einmal frech zu und verabschiedet sich dann. »Morgen um die gleiche Zeit?«
»Wenn es dir nichts ausmacht?«
»Überhaupt nicht, Josy. Wir sehen uns.«
Als sie fort ist, rufe ich Jannis an. »Stör ich?«
»Natürlich nicht. Ist Mia schon wieder weg?«
»Ja, sie musste zur Schicht. Alles klar in der Agentur?«
»Soweit schon. Ich denke, ich brauche noch etwa zwei Stunden, dann bin ich wieder bei dir.«
»Hört sich gut an.«
»Die Polizei hat sich bei mir gemeldet. Die beiden Kommissare möchten noch einmal mit dir reden. Ich habe ihnen erklärt, dass du noch nicht fit genug bist, um ins Präsidium zu kommen. Sie haben angeboten, bei uns vorbeizuschauen. Wann wäre es dir recht?«, fragt er vorsichtig.
Mir wird flau im Magen. Was wollen sie denn noch?
»Von mir aus können sie gleich heute kommen«, sage ich mit belegter Stimme.
»Bist du sicher?«
»Nein, überhaupt nicht. Aber jetzt, wo ich weiß, dass sie mit mir reden wollen, würde ich mir eh die ganze Zeit den Kopf darüber zerbrechen, was der Grund ist. Dann kann ich es auch direkt hinter mich bringen.«