41
Obwohl ich mir fest vornehme, nicht ständig nach den Kommentaren zu schauen, die Jannis’ Foto bekommt, kann ich natürlich nicht widerstehen. Diesmal bin ich positiv überrascht. Es scheinen sich wirklich viele Menschen mit uns zu freuen und es kommen nur wenige dämliche Sprüche. Ich bin erleichtert, wie viele Leute uns gratulieren. Es ist, als fiele eine schwere Last von mir ab. Wie ein böser Fluch, der endlich gebannt ist.
Vor der ersten Therapiestunde am nächsten Tag habe ich etwas Angst. Eigentlich will ich die ganze Sache möglichst schnell vergessen und lege überhaupt keinen Wert darauf, alles noch einmal aufzuwühlen.
Doch als ich die Praxis verlasse, geht es mir erstaunlicherweise richtig gut. Die Therapeutin war nett und sehr empathisch, und nach anfänglichem Zögern habe ich mir alles von der Seele reden können. Jetzt bin ich froh, dass ich diesen Schritt gewagt habe, und ich glaube fest daran, dass ich die ganze Sache wirklich einmal hinter mir lassen kann.
fleuron
»Wie sieht es aus, hast du dich entschieden, ob du mitkommst?«, fragt Sarah ungeduldig. Ich weiß ja, dass die Einhörner eine Antwort erwarten, doch ich bin irgendwie immer noch unschlüssig. Soll ich es wirklich wagen, mich in den Karnevalstrubel zu stürzen?
Der Gedanke, mich in große Menschenmassen zu begeben, löst etwas Unbehagen in mir aus. Ich weiß ja, dass die Täter in Untersuchungshaft sitzen und Marlene in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht ist und mir von ihnen keine Gefahr mehr droht. Trotzdem überkommt mich manchmal die Angst, dass doch noch jemand da draußen herumlaufen könnte. Und im Karnevalsgewühl habe ich gar keinen Überblick darüber.
Es ist Jannis, der mich schließlich überredet, mit meinen Mädels auszugehen.
»Du musst wieder in dein altes Leben zurückfinden. Du liebst doch den Karneval, lass dir das nicht nehmen. Auch wenn ich natürlich nichts dagegen hätte, wenn du an diesen Tagen brav neben mir auf dem Sofa sitzen würdest.«
Ich lasse mich überzeugen und sage Sarah und den Einhörnern zu.
Wir schmeißen uns also in die bewährten Kostüme und stürzen uns ins Getümmel. Es ist Weiberfastnacht, für uns der schönste der tollen Tage. Wir gehen zum Alten Markt und feiern mit den vielen anderen Jecken den Auftakt des Straßenkarnevals. Die Mädels sind so ausgelassen wie immer, doch ich komme diesmal nicht so recht aus mir heraus. Unfreiwillig inspiziere ich die Menschen um mich herum mit Argusaugen. Natürlich ist das Blödsinn, das weiß ich selbst ganz genau. Aber ich kann irgendwie nicht aus meiner Haut. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich beobachtet werde.
»Was ist los, hm?«, fragt mich Lena. »Du stehst hier mit angezogener Handbremse, Josy. Stimmt’s?«
»Ich weiß ja«, gestehe ich zerknirscht ein. »Vielleicht sollte ich gehen, ich verderbe euch den Spaß.«
»Kommt gar nicht infrage!«, poltert Sarah dazwischen. »Du bist das pastellblaue Einhorn. Wie sieht denn das aus, wenn wir nicht mehr vollzählig sind!«
»Aber ich kann nicht abschalten«, sage ich kleinlaut. »Es kommt mir so vor, als stehe ich unter Beobachtung.«
»Na klar stehst du das. Wir alle! Weil wir absolut heiß aussehen«, kichert Caitleen.
»Ich werde mal die Leute um uns herum im Auge behalten«, verspricht Lena mir. »Sei ganz unbesorgt, wir sind doch da, dir kann nichts passieren.«
»Ja, na klar.« Ich versuche, überzeugend zu wirken, doch irgendwie kann ich das nicht. Es ist schließlich Mia, die mich nach einer halben Stunde anstupst. »Josy, dreh dich nicht direkt um, okay? Aber etwa fünf Meter hinter uns steht ein Typ, der wirklich die ganze Zeit zu uns rüberschaut. Der hat so ein SWAT-Kostüm an, mit Mütze, Weste und allem drum und dran. Und so eine ätzende Spiegelsonnenbrille. Ich würde normalerweise sagen, der ist scharf auf dich. Aber er lässt dich nicht aus den Augen, das ist fast schon creepy.«
Ich bekomme ein beklemmendes Gefühl im Hals. Wahrscheinlich ist alles ganz harmlos, aber jetzt, wo es Mia auch schon aufgefallen ist, ist vielleicht ja doch was dran?
»Was soll ich denn jetzt machen?«, flüstere ich ihr panisch zu. »Meinst du, ich kann einfach so verschwinden?«
»Hier aus dem Gedränge rauszukommen, wird schwer. Aber schau ihn dir mal an, vielleicht kennst du ihn ja. Es tut mir leid, wenn ich dich in Panik versetzt habe«, fügt sie dann zerknirscht hinzu.
»Schon gut, ich war ja sowieso nicht gerade entspannt.«
Ich überlege fieberhaft, ob ich Jannis anrufen soll, damit er mich hier irgendwie rausholt. Aber in der Agentur ist gerade viel los und vielleicht ist das alles ja auch falscher Alarm.
Ich atme tief durch, dann drehe ich mich vorsichtig um. Es dauert eine kleine Weile, bis ich den Kerl entdecke. Plötzlich stutze ich. Er kommt mir bekannt vor, aber es ist keiner der beiden Typen, die mich misshandelt haben.
Wie denn auch, die sitzen doch in Untersuchungshaft , zischt eine Stimme in mir.
Dann fällt mir schlagartig ein, woher ich ihn kenne. Entschlossen gehe ich auf ihn zu. Als ich vor ihm stehe, nimmt er hastig die Sonnenbrille ab.
»Hallo Igor. Ich wusste ja gar nicht, dass Sie so ein Karnevalsfan sind«, begrüße ich ihn freundlich.
»Äh ja, also, ich war zufällig in der Nähe«, stammelt er. Er wirkt unsicher, was für ihn völlig untypisch ist.
Ich ziehe überrascht die Augenbrauen hoch. »Zufällig? An diesem Tag, an diesem Ort? Und dann noch kostümiert?« Jetzt muss ich doch lachen und mir ebenso eingestehen, dass ich erleichtert bin. Auch wenn ich ahne, warum er hier ist.
»Ja, war Zufall«, beharrt er.
»Okay. Ich gehe mal davon aus, dass meine Mutter Sie geschickt hat, oder? Sie können es mir ruhig sagen, alles andere nehme ich Ihnen sowieso nicht ab.«
Igor stöhnt auf. »Ja, es war Irina. Ist nur zu Ihrem Schutz. Sie wollte nur das Beste.«
»Ich weiß.« Normalerweise würde ich sie jetzt sofort anrufen und sie fragen, was das soll. Aber mit dem Entführungshintergrund kann ich sie sogar verstehen. Wahrscheinlich hätte ich das Gleiche getan, wenn es um meine Tochter ginge.
»Aber wenn Sie schon mal hier sind, dann kommen Sie doch einfach mit. Bei uns ist es lustiger und Sie können mich noch besser im Blick haben.« Ohne eine Antwort abzuwarten, hake ich Igor unter und ziehe ihn mit zu den Einhörnern.
Wie erwartet sind sie schwer beeindruckt von dem Hünen an meiner Seite. Und ich muss mir eingestehen, dass ich mich jetzt doch etwas sicherer fühle und befreiter feiern kann.
Danke, Mama.