Zwölf

Als Walter wieder einigermaßen schmerzfrei atmen konnte, kroch er zu Jennifers Leichnam. Er strich der Toten das verklebte Haar aus dem Gesicht und versuchte dabei, nicht auf den klaffenden Spalt unter ihrem Kinn zu achten, in dem das Weiß von Halswirbeln schimmerte.

»Du warst ein gutes Mädchen und hattest noch dein ganzes Leben vor dir.«

Die surreal wirkende Situation schnürte ihm die Kehle zu, gleichzeitig verschwamm seine Sicht wieder, diesmal jedoch nicht aufgrund der Schmerzen. »Scheiße«, entfuhr ihm ein seltener Fluch.

Das Leben war nicht fair. Wer wusste das besser als er? Doch obwohl Walter stets mit Tiefschlägen und unerwarteten Katastrophen rechnete, war es ihm unmöglich, sich gegen diese spezielle Art von Schicksalsschlag zu wappnen. Wenn es jemanden traf, den er gernhatte. Jemanden, der unschuldig war.

»Ich erwische ihn«, versprach er dem toten Mädchen. »Oder sie, je nachdem.«

Mit tauben Fingern tastete er Jennifers blutverschmierte Robe ab, bis er fand, was er suchte. »Und ich werde deine Arbeit zu Ende bringen«, sagte er, während er die angebrochene Tüte mit Erdnüssen an sich nahm und wieder in seiner Umhängetasche verstaute. Dabei erinnerte er sich an das Messer. Wo war es eigentlich abgeblieben?

Walter erspähte die Stichwaffe einige Meter abseits, sie musste bei dem Kampf von jemandem weggetreten worden sein. Er schleppte sich auf allen vieren zu der Stelle, nahm das Messer an sich und reinigte es notdürftig mit einem Taschentuch. Es behagte ihm nicht, das Mordwerkzeug wieder einzustecken, am liebsten hätte er es nie wieder angefasst. Doch angesichts der Umstände wäre es töricht gewesen, diese Möglichkeit zur Verteidigung hier herumliegen zu lassen. Die Kugeln seiner Glock würden irgendwann aufgebraucht sein, und wenn er dann nicht mit Zähnen und Fingernägeln kämpfen wollte, musste er jetzt seine Gefühle unterdrücken.

Walter richtete sich auf und biss die Zähne fest zusammen, als ein unsichtbarer Angreifer Nadeln in seinen Oberkörper zu bohren schien. Dann schloss er die Augen und atmete tief ein. Rote Blitze zuckten hinter seinen geschlossenen Lidern, der dazugehörige Donner hallte durch seinen Brustkorb.

Gebrochene Rippen , schlussfolgerte er in Gedanken. Immerhin hatte seine Zunge inzwischen die Lücke ertastet, aus der das Blut in seinen Mund drang. Also lagen vermutlich keine inneren Verletzungen vor. Stattdessen musste er in Zukunft wohl ohne den vorderen rechten Schneidezahn im Oberkiefer auskommen.

Als Walter einigermaßen sicher sein konnte, dass er auf den Beinen bleiben würde, konzentrierte er sich auf seine Umgebung. Keinerlei Geräusche waren zu hören, und abgesehen vom Flackern der Fackeln regte sich auch nichts in den Gängen. Müssten die Dinger nicht allmählich heruntergebrannt sein?

Natürlich brennen sie nicht herunter wie normale Fackeln , dachte Walter bitter. Denn nichts ist hier normal .

Wohin das Rattenwesen wohl verschwunden war? Walter hätte es nur allzu gerne in die Finger bekommen. Um ihm ein paar Fragen zu stellen und ihm genüsslich die verfilzten Haare auszurupfen. Eigentlich verabscheute er unnötige Gewalt, doch in diesem Fall erschien sie ihm angebracht, fast schon geboten. Es war inzwischen mehr als klar, dass die Kreatur sich einen Spaß daraus machte, Menschen in die Irre zu führen. Und dass sie es genoss, wenn ihnen Leid widerfuhr.

Du bekommst noch das, was dir zusteht, Mistvieh , dachte Walter.

Er wandte sich in die Richtung, in der Tommy, Ruby, George und Cynthia verschwunden waren. Eine der vier Personen war ein Mörder. Walters Bauchgefühl sagte ihm, dass dieser Mörder nicht lange warten würde, bis er erneut zuschlug.

Mit einem letzten Blick verabschiedete er sich von Jennifer. »Falls es irgendwie möglich ist, komme ich zurück, hole dich hier raus und sorge dafür, dass du ein anständiges Begräbnis bekommst.«

Auch zu dieser Aussage hatte Walters Magen eine Meinung, allerdings keine, die Walter gefiel. Denn tief in seinem Inneren wusste er, dass er das tote Mädchen niemals wiedersehen würde.

Keuchend schlurfte er los. Die ersten Schritte waren die schlimmsten, dann wurden die Schmerzen allmählich erträglicher. Womöglich gewöhnte er sich auch nur an sie. Im Gehen griff Walter in seine Tasche, kramte raschelnd darin herum, förderte schließlich eine Erdnuss zutage und ließ sie fallen, ohne sie vorher zu knacken. Er verfügte im Moment weder über den nötigen Appetit, noch über das passende Gebiss für Knabberzeugs.

Dort vorne waren Menschen in Gefahr. Und auch wenn diese Menschen ihn momentan hassten und für ein Monster hielten, so würde Walter dennoch versuchen, ihnen zu helfen und sie vor Unheil zu bewahren. Er mochte kein Polizist mehr sein und jeden um sich herum ins Unglück stürzen, aber er wusste noch immer verdammt gut, was richtig und was falsch war.

Tommy , begann er, sich im Geiste Notizen zu machen. Jung, impulsiv, nicht die hellste Kerze am Weihnachtsbaum. In der Lage, auf jemanden zu schießen. Schwaches Nervenkostüm. Verhalten während einer Extremsituation unvorhersehbar. Polizist, aber das muss in dieser Stadt nicht viel bedeuten.

Walter blätterte im Geiste um, begann mit der nächsten Seite des imaginären Notizblocks. George: Klient, war auf der Suche nach seiner Freundin. Steht vermutlich unter Schock, wirkt oft abwesend. Ging unverhältnismäßig grob auf Ruby los. Verdächtige Blutflecken am Hemd. Nimmt mir Tod von Freundin übel – mögliches Motiv, um mir den Mord in die Schuhe zu schieben?

Ruby: Eine Kriminelle – ist sie zu Schlimmerem als Einbruch fähig? Traut den anderen nicht, generell recht verschlossen. Was verbirgt sie? Ist agil und kräftig, imstande, sich zur Wehr zu setzen. War allerdings selbst in Lebensgefahr, als wir sie fanden. Inszenierung, um sich Vertrauen zu erschleichen?

Cynthia: Ranghohes Mitglied einer kriminellen Organisation, die meinen Tod wünscht. Arrogant, verbittert, gewohnt, Befehle zu geben. Vermutlich skrupellos, wenn es drauf ankommt. Trotzdem sehr unwahrscheinlich, dass sie ihre eigene Tochter töten würde. Mutterliebe und Trauer wirkten echt. Allerdings führte Jennifers Ermordung dazu, dass man mich auch beinahe getötet hätte. Wäre sie imstande, dermaßen gefühlskalt vorzugehen?

Walter beleuchtete die Personen und Ereignisse von allen Seiten. Er setzte sämtliche Hebel an, die ihm in den Sinn kamen, um den Kern der Angelegenheit freizulegen. Und kam dabei nicht einen Millimeter weiter, denn keines der Gruppenmitglieder erschien ihm wie ein Killer.

Er blieb kurz stehen, als ihm etwas einfiel. Fünfter Verdächtiger: Merkwürdiges Rattenwesen. Ohne Zweifel boshaft und gerissen. Erscheint und verschwindet, wann und wie es möchte. Hatte es Gelegenheit, sich unter uns zu mischen, möglicherweise, als wir alle schliefen? War dem Wasser vielleicht doch etwas beigemischt?

Walter rieb sich über die Nasenwurzel. Es würde passen, allerdings fehlten Indizien. Und sein Magen war ebenfalls nicht überzeugt davon, dass das Rattenwesen der Mörder war. Nein, der Täter war innerhalb der Gruppe zu suchen, auch wenn Walter keinen Schimmer hatte, wo genau er anfangen sollte. Dieses Wesen zog zwar irgendeinen Nutzen aus den Ereignissen, aber es beteiligte sich nicht aktiv daran.

»Würde wirklich helfen, wenn ich wüsste, was hier gespielt wird«, grummelte Walter, während er sich einer scharfen Kurve näherte. Was hinter der Biegung lag, konnte er nicht sehen, und die einzigen Geräusche stammten nach wie vor von ihm. Es erschien ihm, als habe der Tunnel die anderen einfach verschluckt.

»Was bezweckt dieses Haus? Warum will es, dass wir uns verlaufen? Und aus welchem Grund hält es uns stundenlang fest und lässt uns dann doch wieder weitergehen?«, murmelte er. Der Klang seiner eigenen Worte erschien ihm plötzlich fremd.

Weil ihr in der Zwischenzeit einen von euch getötet habt , raunte die Stimme in Walters Verstand. Ein eiskalter Schauer durchfuhr ihn vom Scheitel bis zur Sohle, als er endlich erkannte, wem sie gehörte.

»Jennifer.«

Ich habe recht, das weißt du.

Walter versteifte sich, als habe ihn soeben ein Blitz getroffen. Natürlich fehlten ihm auch für diese Theorie jegliche Anhaltspunkte, doch Jennifers Worte entsprachen der Wahrheit. Tief in sich drin wusste er es.

»Es will, dass wir hier sterben«, flüsterte er. »Aber es will uns nicht selbst umbringen.«

Ihn überkam ein Gefühl, als hätte er soeben eine komplizierte mathematische Gleichung gelöst. Ein Knäuel entwirrte sich und die mentale Anspannung verflog. Die Angelegenheit ging auf .

Jetzt war er der Sache endlich auf der Spur! Beinahe hätte Walter gelächelt.

Dann hörte er die Schreie.

Sie klangen gedämpft, als würden sie aus weiter Ferne zu ihm dringen, und außerdem undeutlich. Wurde etwas vor die Lippen gepresst, die sie ausstießen? Die Hand eines Angreifers vielleicht? Walter stolperte um die Ecke, die Glock in Händen.

Der Gang endete vor einer massiven Felswand. Drei hölzerne Türen befanden sich darin wie kariöse Zähne.

Wieder war ein Kreischen zu hören, es kam eindeutig aus dem linken der Durchgänge. Walter war ziemlich sicher, dass der Schrei von Ruby stammte. Ohne nachzudenken, drückte er die Klinke nach unten und riss die Tür auf.

Im nächsten Moment machte er einen Satz nach hinten und warf sich gegen die Tür, um sie ins Schloss zurückzudrücken. Es gelang ihm nicht.

Eine meterlange, mit eitrigen Pusteln besetzte Zunge war schlangengleich hervorgeschossen und klemmte nun im Spalt. Sie tastete nach Walter, wollte sich um ihn schlingen, um ihn in den triefenden, purpurnen Schlund voller Zähne zu zerren, zu dem die Welt jenseits der Tür geworden war. Walter schmetterte die Tür wieder und wieder gegen das nach Fäulnis und Verwesung stinkende Fleisch, verstärkte dadurch aber nur dessen Bemühungen, ihn zu ergreifen. Warm und schleimig legte es sich um den Knöchel seines rechten Fußes und riss ihn mit einem einzigen Ruck von den Beinen.

Walter brüllte heiser, presste den Lauf der Glock gegen das schwärende Fleisch und drückte ab. Ein markerschütterndes Röhren drang hinter der Tür hervor, begleitet von herumspritzendem, brennendem Schleim und fauligen Winden, die die Luft vergifteten. Dann war Walter frei, zumindest vorerst.

Sämtliche Schmerzen ignorierend, sprang er auf die Füße. Er riss die nächste der drei Türen auf und starrte ins Innere. Dahinter befand sich kein ekelerregendes Maul, also warf er sich kurzentschlossen hinein und zog mit derselben Bewegung die Tür hinter sich ins Schloss. Das infernalische Toben auf der anderen Seite erstarb, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.

Schwer atmend und mit klopfendem Herzen sah Walter sich um.

Wo bin ich gelandet?

Fest stand, dass er sich nicht länger in dem mittelalterlich anmutenden Tunnel aufhielt. Genau genommen befand er sich überhaupt nicht mehr im Inneren irgendeiner Konstruktion.

»Was um alles in der Welt …?«

»Ihr seid verwirrt«, drang es von seinen Füßen herauf. »Dennoch würde ich eine Kooperation zu unser beider Nutzen vorschlagen. Seid versichert, dass ich Euch anschließend sämtliche Fragen beantworten werde, zumindest diejenigen, auf die ich eine Antwort weiß. Aber einstweilen müsst Ihr mir helfen, meine Widersacher aufzuhalten.«

Es war eine tiefe, volltönende Stimme. Und gleichzeitig klang sie irgendwie wie ein Schnurren. Walter blinzelte ungläubig, als er endlich ihren Ursprung erblickte.

Vor ihm, aus grün gesprenkelten, golden umrandeten Augen energisch zu ihm aufsehend, saß ein struppiger, getigerter Kater.