Zwanzig

Er kam wieder zu sich, weil ihm jemand unsanft ins Gesicht schlug. »Aufwachen, Dornröschen. Wir müssen weiter.«

»Was … wer …?«

Walter fühlte sich unendlich schwach. Eine bleierne Müdigkeit lastete auf ihm, als zöge ein riesiges Gewicht an seinen Gedanken, hinunter in einen Abgrund verlockender Schwärze. Und er wollte nichts anderes, als sich ihr ergeben …

»Hey! Schön hiergeblieben, Freundchen.«

Ein weiterer Schlag traf seine Wange.

Walter öffnete die Augen. Im ersten Moment glaubte er, einen Engel vor sich zu haben.

Eine wunderschöne Frau starrte ihn an. Ihre grünen Augen waren verengt, die voluminösen Lippen geschürzt. Dunkles, leicht gewelltes Haar fiel ihr bis auf den Rücken und umspielte das fein geschnittene Gesicht. Erst auf den zweiten Blick konnte man die Narben erkennen: über der Augenbraue, quer über das Kinn, an der linken Wange.

»Na endlich«, brummte sie und stand auf, weshalb Walter auch den Rest von ihr betrachten konnte. Sie trug ein ärmelloses Hemd sowie eine Cargohose; beides war mit grauem Flecktarn bedeckt. Unter der Kleidung verbarg sich ein wohlgeformter, athletischer Körper. Die Frau war muskulös, aber nicht so sehr, dass es unansehnlich gewirkt hätte. Über ihrer rechten Schulter hing das G36, der abgestreifte Schutzanzug lag, zu einem faltigen Haufen zusammengefallen, neben ihr. Walter fühlte sich ein wenig an Lieutenant Ripley aus den Alien-Filmen erinnert, während er sie benommen studierte.

Der Anblick weckte neue Lebensgeister in ihm.

Als habe sie seine Gedanken gelesen, sagte die Frau namens Florence: »Sie sind nicht im Himmel, sondern sitzen ganz schön in der Scheiße. Ich hab Ihnen ’ne Ladung Morphium verpasst und das Gröbste verbunden, allerdings war, außer ein paar Pflastern und Verbänden, nichts Brauchbares in Ihrer Tasche zu finden. Es taugt also nicht viel und Sie müssen aufpassen, damit die Wunden sich nicht wieder öffnen. Morphium ist auch alle, was bedeutet, dass Sie ab jetzt die Zähne zusammenbeißen müssen. Klar soweit?«

Walter nickte. Die Welt folgte seiner Bewegung mit leichter Verzögerung.

Florence trat wieder etwas vor und streckte ihm einen sehnigen Arm entgegen. »Können Sie aufstehen?«

Walter versuchte es. Mit etwas Hilfe kam er tatsächlich auf die Füße, wenngleich sein Stand recht wackelig war.

Florence ließ ihn los, beobachtete ihn einige Sekunden lang und meinte: »Schätze, es wird gehen. Sie wecken den Professor auf, ich kümmere mich um die Frau.«

Walter fühlte sich noch immer wie betäubt. Ohne die Anweisung zu hinterfragen oder anderweitig über sie nachzudenken, trottete er in die Richtung, die ihm Florences Finger wies. Er kam an den Überresten einer Affenkreatur vorbei. Sie lag mit zerfetzter Brust auf dem Rücken, das Maul in Agonie aufgerissen, die Ärmchen mit den Rasiermesserkrallen weit von sich gestreckt. Die Zunge hing ihr aus dem Maul; Fleischfetzen klebten daran.

Walter riss seinen Blick von dem Kadaver los und fixierte stattdessen sein Ziel. Ja, dort drüben. Harald lag auf dem Boden, mittlerweile von seinem Schutzanzug befreit. Seine Kleidung bestand aus einer braunen Hose sowie einem hellgrauen Hemd, dem der rechte Ärmel fehlte.

Samt dem Arm, der darin stecken sollte.

Direkt unterhalb der Ellenbeuge endete die Extremität in einem blutverkrusteten Verband. Auf dem Boden, rund um den Armstumpf, hatte sich eine dunkle Lache ausgebreitet. Walter schluckte.

»Deshalb ist das Morphium alle«, hörte er Florence hinter sich rufen. »Ich musste mein Messer in der Lava erhitzen, um damit die Wunde zu kauterisieren. Der Alte hat geschrien wie am Spieß. Das Messer ist jetzt hin, ich hoffe nur, das war es wert.«

Walter rüttelte sanft an der Schulter des alten Mannes. »Kommen Sie zu sich, Harald.«

Unendlich langsam öffneten sich die trüben Augen. Ehe er etwas sagte, fasste Harald sich mit zitternder Hand mechanisch an die Nase und schob seine Brille hoch.

»Was ist geschehen?«

Walter wollte zu einer Erklärung ansetzen, doch in diesem Moment huschte die Erkenntnis über das Gesicht des Physikers. Wobei huschen die Sache nicht so recht traf, wie Walter fand. Sie bahnte sich eher mit brutaler Gewalt eine Schneise, wie ein schwerbeladener LKW, der ins Ende eines Staus donnerte.

Der Alte hielt sich den blutigen Stumpf vors Gesicht. »Mein Arm!«, krächzte er mit schriller Stimme.

»Gern geschehen«, ließ sich Florence vernehmen, die bis eben leise und unerwartet einfühlsam auf jemanden eingeredet hatte. »Spüren Sie was von der Infektion oder haben Sie noch einmal Schwein gehabt?«

Mit Haralds nächsten Worten hatte Walter nicht gerechnet. Der alte Mann runzelte die Stirn, sodass sich seine Augenbrauen zusammenzogen, stemmte sich mit der gesunden Hand in eine sitzende Position hoch und rief anklagend: »Sie hätten mich neutralisieren müssen! Ihre Instruktionen diesbezüglich waren eindeutig.«

»Uuuh, die Söldnerin hat ein Herz«, spottete Florence. Sie seufzte. »Ich hätte zu den Kolumbianern gehen sollen.«

»Kommen Sie zurecht?« Walter sah Harald in die Augen.

»Jungchen, ich habe schon in Schützengräben gekauert und Haftbomben an Panzerketten befestigt, während Granaten meine Kameraden zerfetzten, da waren Sie noch flüssig.«

Walter interpretierte das als ein Ja. Er erhob sich vorsichtig, machte zwei Ausfallschritte und stand schließlich sicher. Die Arme wie ein Drahtseilartist ausgestreckt, ging er zu Florence. Er musste wissen, um wen sie sich gerade kümmerte. Zu wem gehörte der Kopf, den sie auf ihren Schoß gebettet hatte?

Es handelte sich um Ruby.

Sie war noch immer bewusstlos. Dunkle Flecken breiteten sich auf ihrem Hals aus.

Würgemale , dachte Walter schaudernd.

»Jetzt komm schon, Süße«, sagte Florence mit leiser Stimme, während sie Ruby über die Wangen strich. »Wir müssen hier weg, und wenn ich dich trage, kann ich uns nicht beschützen. Die zwei Kerle sind nutzlos, also liegt es an uns Frauen. Bitte, wach auf.«

Walter fühlte sich gekränkt, sagte jedoch nichts. Seine Kehle war viel zu ausgedörrt, um sie mit unnützen Worten zu strapazieren. Harald beließ es bei einem knappen: »Pah!«

Rubys Lider flatterten. Was dann folgte, hatte Walter schon einmal erlebt. Sie stieß Florence von sich und schob sich gleichzeitig rückwärts über den Boden, weg von den anderen Menschen. Irgendwann entdeckten ihre weit aufgerissenen Augen Walter. »Nein!«

»Hier wird dir niemand etwas tun«, sagte Florence mit eindringlicher, aber immer noch sanfter Stimme. »Und falls doch, bekommt er es mit mir zu tun. Du bist in Sicherheit.«

Ruby starrte sie an. Ihr Blick verharrte lange auf Florences Gewehr. »Ihnen ist wohl entgangen, was hier für eine Scheiße abgeht«, krächzte sie mit rauer Stimme.

Florence verzog kurz einen Mundwinkel. Walter schätzte, dass die Frau auf diese Weise lachte. Sie sah sich um und starrte in den Abgrund, neben dem Ruby kauerte. »Ich denke, ich habe eine ungefähre Vorstellung.«

»Was ist geschehen, Ruby?« Walter konnte sich nicht länger zurückhalten. »Wer hat Ihnen das angetan?«

Als Ruby ihn erneut ansah, vermischten sich in ihrem Blick Furcht und Hass. »Ihnen sage ich gar nichts.«

Walter leckte sich über die aufgesprungenen Lippen. Was würde er für eine Flasche Wasser geben! In diesem Moment wäre ihm selbst ein weiteres Geschenk des Hauses willkommen gewesen. »Ruby, ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass ich Ihnen oder jemand anderem aus unserer Gruppe nie etwas angetan habe. Ich bin hier, um zu helfen. Sie ahnen ja nicht, was ich durchmachen musste! Wo ich gewesen bin und was ich auf der Suche nach Ihnen erlebt habe. Ich möchte nur verhindern, dass noch mehr Menschen sterben.«

Ruby sah zwischen ihm, Harald und Florence hin und her.

»Also, ich für meinen Teil halte diesen Mann für integer«, krächzte der Alte.

»Und ich ihn, wie gesagt, für harmlos«, meinte Florence achselzuckend.

Ruby schluckte, sagte jedoch nichts.

»Kommen Sie«, bat Walter, »ehe es für den Nächsten zu spät ist. Irgendwo in der Nähe ist ein Mörder unterwegs, und so wie es aussieht, hat er sie auch beinahe erwischt. Helfen Sie mir, ihn aufzuhalten.«

Ruby starrte ihn schwer atmend an. Tränen stiegen in ihren Augen auf, schließlich verbarg sie das Gesicht in den Händen. »Es war George«, hörte Walter sie schluchzen. »Er hat Tommy gestoßen, einfach so. In den Abgrund, hinein in die …« Ihr Körper erbebte, der Satz verklang in einem Wimmern.

Florence trat an sie heran und strich ihr über den Rücken. »Alles gut, Schätzchen. Jetzt kommt er nicht mehr an dich ran, dafür sorge ich.«

»Wir waren starr vor Entsetzen«, fuhr Ruby mit zitternder Stimme fort, »und da hat er mich angegriffen. Er … er sagte, dass mir die Welt nicht gehört oder so ähnlich, und er hat mich gewürgt, wie schon einmal. Cynthia wollte mir helfen, sie stürzte sich auf ihn, und dann knallte mein Kopf auf den Boden und … und …«

Walter suchte den Untergrund nach Spuren ab, doch da war nur blanker Fels. Falls sich darauf schwache Fußabdrücke befanden, waren sie aufgrund der Lichtverhältnisse nicht zu entdecken.

»Wissen Sie noch, wie Sie hierherkamen?« Walter nahm an, dass Cynthia am ehesten tiefer in das Haus geflohen war, beziehungsweise den Pfahl entlang, oder wo auch immer sie sich gerade aufhielten. Denn geflüchtet musste sie sein, immerhin lag hier keine Leiche. Folglich war es George genauso wenig gelungen, sie zu töten, wie sie es geschafft hatte, ihn auszuschalten.

Es sei denn , flüsterte ihm Jennifer zu, er hat sie ebenfalls in die Lava geworfen. Oder sie sind bei dem Handgemenge beide in den Abgrund gestürzt.

Walter wandte sich zu Harald um. »Funktioniert Ihr Gerät noch? Das, mit dem Sie mich aufgespürt haben?«

Der Alte biss die Zähne zusammen und kramte in seiner Tasche. Mit nur einer Hand fiel ihm die Bedienung des Kästchens schwer; indem er es auf seinem Schoß ablegte, gelang es ihm aber schließlich doch, es zu aktivieren. »Sieht ganz so aus«, meinte er.

»Wie viele Signaturen fangen Sie außer den unseren auf?«

»Zwei. Sie sind recht schwach, fast außerhalb des Messbereichs.«

Walter schluckte in dem vergeblichen Versuch, seine Kehle etwas anzufeuchten. »Ich stelle mir das folgendermaßen vor: Wenn wir uns von diesen Leuten entfernen, verlieren wir ihr Signal. Wenn wir uns aber auf sie zu bewegen, wird es stärker. Stimmt das?«

Harald nickte.

»Sehr gut. Dann können wir das Gerät benutzen, um die beiden aufzuspüren. Florence, suchen Sie sich bitte eine Richtung aus.«

»Warum tun Sie das nicht selbst?«

»Das wollen Sie nicht herausfinden, glauben Sie mir«, sagte Ruby und stemmte sich hoch.

Florence wartete, bis auch Harald auf die Beine gekommen war, dann zuckte sie mit den Schultern und ging los.