Sara Bredow lag mit der Decke bis zum Kinn gezogen im Dunkel des Schlafzimmers und starrte auf die roten Lichtpunkte des Weckers. In drei Minuten musste sie ihre Nachmittagsruhe abbrechen und Moa von der Tagesstätte abholen.
Sie hatte Josef auf dem Weg nach Hause angerufen, und er war empört darüber gewesen, dass ihr womöglich das Krankengeld gestrichen werden würde. Das verstärkte den Druck auf ihn, und er hatte sofort begonnen, davon zu reden, seine Lebensversicherung um eine Million Kronen zu erhöhen, damit Sara besser unterstützt wäre, wenn ihm etwas zustoßen sollte. Das war rücksichtsvoll, aber gleichzeitig auch besorgniserregend. Warum glaubte er, dass ihm etwas zustoßen sollte?
Telefonklingeln durchschnitt die Stille in der Wohnung. Sara schaltete den Wecker aus, der gleich anfangen würde zu klingeln, und ging in die Küche, wo ihr Handy am Ladegerät hing. Sie sah aufs Display. Das Gespräch kam von einer verborgenen Nummer, aber sie musste trotzdem rangehen. Vielleicht war es ja die Gesundheitszentrale.
Sara sank auf einen Küchenstuhl und ging ran. »Ja?«
»Spreche ich mit Sara Bredow?« Die gut artikulierte, energische Frauenstimme ließ sie Böses ahnen. Ein Behördenmensch. Vielleicht jemand von der Krankenkasse? Hatten sie es sich anders überlegt? Oder von der Gesundheitszentrale? Sowie sie nach Hause gekommen war, hatte sie dort angerufen, um den Arzt dazu zu bringen, eine neue Krankschreibung zu formulieren. Eine halbe Stunde lang hatte sie in der Telefonschleife gehangen, nur um dann zu erfahren, dass ihr Arzt in Urlaub war. Allerdings war ihr versprochen worden, dass sie sich wieder melden würden.
»Ja, das bin ich.«
»Mein Name ist Laura Svensson, und ich rufe vom Jugendamt an. Wir haben eine Anzeige, Ihre Tochter Moa Bredow betreffend, erhalten.«
»Schon wieder!« Die Wut ließ sie beinahe die Fassung verlieren. »Das kann nicht wahr sein. Wer hat mich angezeigt?«
»Das darf ich nicht sagen. Aber wie Sie wissen, müssen wir der Sache immer nachgehen, selbst wenn die Anzeige anonym ist.«
»Also wieder anonym!«, brachte Sara heraus. Sie versuchte, ruhig und deutlich zu sprechen, denn natürlich war ihr klar, dass es nur von Nachteil sein würde, wenn sie aufbrausend war oder anfing zu weinen. »Die Anzeigen sind vollkommen grundlos, das sollten Sie inzwischen wissen. Sie sind bereits hier gewesen und haben uns beurteilt. Wir sind zu Gesprächen bei Ihnen gewesen, und Sie haben mit dem Personal in der Tagesstätte gesprochen. Moa ist mehrmals bei einem Ihrer Kinderpsychologen gewesen. Bei sämtlichen Überprüfungen sind Sie zu dem Ergebnis gekommen, dass alles okay ist. Und jetzt hat Moa gerade in einer neuen Tagesstättengruppe angefangen. Ich wäre wirklich dankbar, wenn Sie keinen Kontakt zu ihrer Erzieherin aufnehmen würden. Das könnte nämlich unnötig Probleme schaffen.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte die Frau bedächtig.
Sara hatte den Eindruck, dass die andere während des Gesprächs etwas auf dem Computer las. Im Hintergrund war das Geräusch von klappernden Tasten zu hören. Machte sie sich Notizen, oder arbeitete sie vielleicht gleichzeitig etwas ganz anderes?
Sara versuchte sich zu konzentrieren und zu argumentieren. »Wenn Sie vom Jugendamt dorthin kommen, wird die Erzieherin Moas Verhalten besondere Aufmerksamkeit schenken, und wenn man das tut, dann kann man bei jedem Menschen Merkwürdigkeiten entdecken. Manipulative Fragen können ein Kind dazu bringen, Dinge zuzugeben, die nie passiert sind. Kinder wollen sich anpassen und das tun, was von ihnen erwartet wird.« Sie holte Luft. »Die Person, die mit den anonymen Anzeigen kommt, tut das, um uns zu schaden.«
»Wie gesagt, ist es unsere Pflicht, das zu überprüfen«, sagte die Frau vom Jugendamt jetzt mit etwas sanfterer Stimme.
Die Gedanken schossen ihr wie Blitze durch den Kopf. Jemand hatte sie aus reiner Boshaftigkeit beim Jugendamt angezeigt. Wieder einmal. Es musste einen Ausweg geben.
»Können Sie nicht einfach mit der Person sprechen, die sich voriges Mal und das Mal davor um den Fall gekümmert hat? Warum haben wir es immer mit neuen Leuten zu tun?« Sara merkte selbst, wie scharf ihre Stimme jetzt klang, aber sie konnte es nicht ändern.
Die Frau am Telefon entschied, dieser Diskussion aus dem Weg zu gehen. »Wo ist das Mädchen jetzt?«
»Moa ist in der Tagesstätte. Ich wollte eben hingehen und sie abholen. Ich bin schon spät dran.«
»Ich würde das Mädchen gern so schnell wie möglich sehen. Vielleicht können wir uns ja in der Tagesstätte treffen.«
»Jetzt? Nein, dann ist es besser, wenn wir uns hier sehen.« Sara warf einen raschen Blick um sich. Die Arbeitsfläche in der Küche stand voller Geschirr, überall auf dem Fußboden lagen Moas Spielsachen verstreut, und an den Fußleisten tummelten sich Wollmäuse. »Oder vielleicht am besten bei Ihnen«, schob sie nach.
»Ich mache bald Feierabend für heute, in dem Fall müssten Sie also sofort kommen. Und wir hätten es am liebsten, wenn Ihr Ehemann bei dem Gespräch dabei wäre.«
Sara bohrte die Fingernägel in ihre Handfläche in der Hoffnung, dass der Schmerz sie scharfsichtiger machen würde. Hinter den Augenlidern brannten die Tränen. »Moa und ich können kommen, doch für Josef wird es schwierig. Das hier ist ja sehr kurzfristig. Ich weiß nicht, ob er kann.« Sara wusste, dass Josef zornig werden würde. Er mochte keine Überraschungen.
»Das hängt natürlich davon ab, wie man die Prioritäten setzt, nicht wahr?«
»Ja natürlich, wenn er das Büro verlässt und einen wichtigen Kunden verpasst, dann verringert sich unsere Möglichkeit, uns zu versorgen. Er ist selbstständig.«
»Haben Sie Probleme, sich zu versorgen?«, fragte die Jugendamtsmitarbeiterin. Wieder klang es so, als würde sie die Information im Computer festhalten.
»Nein, was ich sage, ist, dass er vielleicht nicht einfach alles fallen lassen kann.«
»Und Sie, was arbeiten Sie?«
»Ich bin Polizistin, im Moment krankgeschrieben.« Sara hatte nicht vor, von dem Gespräch bei der Krankenkasse zu berichten.
»Und wie empfinden Sie Ihre Fähigkeit, sich um Ihr Kind zu kümmern?«
»Können wir darüber sprechen, wenn wir uns sehen? Ich muss jetzt Moa von der Tagesstätte abholen. Nur eins noch, war die Person, die uns angezeigt hat, ein Mann oder eine Frau? Es wäre wichtig für mich, das zu wissen.«
»Darüber kann ich leider keine Auskunft geben.«
»Können Sie wenigstens versuchen zu verstehen, wie absurd die Situation ist, es gibt jemanden, der uns drangsaliert.«
»Ich kann zustimmen, dass es seltsam wirkt. Aber ich muss den Regeln folgen.«
»Das verstehe ich. Durchaus«, sagte Sara und dachte: Währenddessen geht unsere Familie kaputt.
Als das Gespräch beendet war, rief Sara Josef an, um ihm davon zu erzählen. Sein Telefon war ausgeschaltet. Stattdessen versuchte sie es bei seinem Bruder Wilhelm, wo sie erfuhr, dass Josef in einer Besprechung saß.
»Ich bitte ihn, dich anzurufen, sowie er wieder hier ist. Wie schön, dass wir morgen zum Abendessen zu euch kommen können«, sagte Wilhelm. »Dorteus Bygg sind wichtige Kunden, und …«
»Was sagst du da? Morgen?«, fragte sie etwas blöd und schielte auf den Kalender an der Wand. Und da stand sehr richtig unter dem Datum des folgenden Tages in Josefs eckiger Handschrift notiert: 19:00 Uhr Gäste . Sie mussten über die Sache geredet haben, doch konnte sie sich nicht erinnern, das beschlossen zu haben. Wie hatte sie das nur vergessen können?
»Ja klar«, antwortete Wilhelm fröhlich. »Ich hoffe, dass du uns zu etwas richtig Gutem einlädst.«
Sara schaffte es nicht einmal, darauf einzugehen. »Ich muss Moa abholen. Sag Josef, er soll mich anrufen, sowie er kann, es ist wichtig«, beendete sie das Gespräch.
Das Zimmer machte eine Vierteldrehung, und der Fußboden schwankte. Sara ging ein paar Schritte und hätte fast das Gleichgewicht verloren. Sie bezweifelte, dass sie es schaffen würde, Moa abzuholen. An die Wand gestützt bewegte sie sich zum Schlafzimmer. Langsam zog sie sich an. Jedes Kleidungsstück war eine neue Prüfung. Sie besah sich im Spiegel. Das lange rote Haar musste gekämmt werden, doch es würde zu lange dauern, die verfilzten Zotteln auszubürsten, also drehte sie es nur zu einem Knoten hoch und befestigte es mit einer Klammer. Sie war erschreckend bleich. Die Sommersprossen wirkten auf der hellen Haut wie ein krankhafter Ausschlag, und die weiße Bluse, die sie anziehen wollte, um beim Treffen mit dem Jugendamt ordentlich auszusehen, war zu eng. Sie spannte über dem Bauch, und zwischen den Knöpfen war die Haut zu sehen. Von all dem Herumsitzen hatte sie zugenommen, und sie hasste es. Das passte überhaupt nicht zu der aktiven Person, die sie gewesen war. Mit einem Aufheulen wand sie sich aus der Bluse und tauschte sie gegen ein locker sitzendes T-Shirt und eine dunkelblaue Strickjacke. Die hatte Sauermilch-Flecken auf dem einen Ärmel, aber sie hatte keine Kraft, sich noch einmal umzuziehen.
Sara schloss die Tür zur Wohnung ab und nahm den Fahrstuhl nach unten, um Kraft zu sparen. Der Schwindel ließ nicht nach, und sie schwankte, als sie in den Eingangsbereich kam. Sie hielt sich an der Wand fest und erntete dabei einen seltsamen Blick ihrer Nachbarin Frideborg, die im Erdgeschoss wohnte. Die stand nämlich mit einem Brief in der Hand beim Briefkasten. Frideborg war um die neunzig und hielt ihre Nachbarn unter ständiger Beobachtung. Sara hatte sie noch nie leiden mögen. Fast immer, wenn sie an Frideborgs Wohnung vorbeikam, war die Tür nur angelehnt, und Frideborg selbst stand da und drückte das Ohr an den Spalt, um irgendwelchen Tratsch zu hören. Neulich hatte Moa im Treppenhaus einen Anfall gehabt und den ganzen Weg bis in den zweiten Stock hinauf wie verrückt geschrien. Als Sara dann den Schlüssel in ihre Wohnungstür steckte, hörte sie, wie Frideborg demonstrativ ihre Tür zuknallte. Als die erste Anzeige kam, hatte Josef die Nachbarin tatsächlich frei heraus gefragt, ob sie dahinterstecken würde. Die hatte das natürlich geleugnet.
Sara nahm Schwung und bewegte sich Richtung Eingangstür. Sie vermied Frideborgs forschenden Blick, schaute aber kurz auf den Brief in ihrer Hand. Für eine Sekunde erkannte sie ihren Namen auf dem Umschlag und blieb sofort stehen.
»Was haben Sie da?«
»Das hier, ja, das ist anscheinend ein Brief für Sie. Ich habe ihn in meinem Fach gefunden und wollte ihn gerade bei Ihnen einwerfen.«
Sara bemerkte, dass der Brief vom Stromanbieter kam, vermutlich eine Rechnung. Dann sah sie, dass der Brief schon aufgeschlitzt war.
»Warum ist das Kuvert geöffnet?«
Frideborg riss die Augen auf. »Nun, ich …« Sie verlor den Faden und wirkte ertappt. Sara hätte sie gern richtig beschimpft und zur Rede gestellt. Es war nämlich nicht das erste Mal, dass aus ihrem Briefkasten Post verschwand. Ein paar Rechnungen waren sogar, noch ehe sie die überhaupt je gesehen hatten, beim Gerichtsvollzieher gelandet. Doch diesen Streit konnte sie im Moment nicht austragen. Jetzt musste Moa abgeholt werden, und Sara war bereits zwanzig Minuten zu spät dran. Brüsk riss sie den Brief aus Frideborgs Hand und verließ ohne ein Wort das Haus.
An der Tagesstätte angekommen, schaute Sara durch das Fenster bei der Kuschelecke, wo das Personal immer saß und mit den Kindern, die zuletzt geholt wurden, Geschichten las. Moa war nicht zu sehen. Schnell lief Sara hinein. Die rosafarbene Jacke ihrer Tochter hing nicht in der Diele am Haken. Eine lächelnde Frau kam auf sie zu. Sara hatte sie noch nie gesehen, aber von Josef schon gehört, dass in der Einrichtung jetzt eine Praktikantin sei.
»Wen suchen Sie?«, fragte die Frau.
»Meine Tochter, Moa.«
»Moa? Die ist nicht hier. Die ist schon um zwei Uhr von ihrer Mutter abgeholt worden.«