Sara saß mit Josef und Moa am Küchentisch. Sie quälte sich wegen des Abendessens. Ihre Mutter hatte ohne weitere Diskussion den Vorschlag akzeptiert und sich aus eigenen Stücken erboten, das Essen zu kochen, weswegen es jetzt keine Möglichkeit mehr gab, sich aus der Sache rauszuziehen. Doch da war noch etwas, was sie belastete. Kristoffer Bark hatte angerufen und sie geweckt, obwohl es ein Samstag war. Sie war ihm gegenüber sehr kurz angebunden gewesen und hatte jetzt deshalb ein schlechtes Gewissen.
Sie waren eben mit dem Mittagessen fertig geworden. Es hatte Kartoffelsalat und geräuchertes Rinderfilet gegeben, das Josef zum halben Preis bekommen hatte, weil das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen war. Moa plauderte ununterbrochen von den Zwergen, die in der Polizeizentrale wohnten, Brei aßen und Verbrecher jagten. Sie lachte so, dass sie kieksen musste, als sie es zum vierten Mal erzählte. Nachdem sie fertig gegessen hatte und in ihr Zimmer gegangen war, berichtete Josef, wie sein Vormittag gewesen war. Er war mit der Tochter einkaufen gegangen, damit Sara sich vor der wichtigen Abendeinladung ein wenig ausruhen könnte.
»Wir waren im Systembolaget und haben für das Wochenende eingekauft. Der Einkaufswagen war ganz schön voll. Und weißt du, was sie gesagt hat, ganz laut, sodass alle es gehört haben?«
»Nein.« Sara sah ihn gespannt an. Sie konnte sein Mienenspiel nicht richtig deuten.
»Papa, du bist ja immer hier. Und es ist superteuer. Wie sollen wir denn jetzt Geld für ein neues Fahrrad für mich haben, was?«
»Mein Gott! Ehrlich? Zum Glück hat sie das nicht gestern beim Jugendamt gesagt.« Sara lächelte gequält. Josef war eigentlich sehr zurückhaltend mit dem Alkohol, aber wenn er Kunden einlud, wollte er nicht geizig wirken.
Josef nahm ihre Hand. »In ein paar Stunden müssen wir los. Schaffst du das?«
Sara nickte und stand auf. »Ich gehe schnell duschen.«
Sie stieg in die Dusche und versuchte, sich einzureden, dass der Abend schon gut verlaufen würde. Es war nur ein Abend. Sie würde sich Josef zuliebe anstrengen, und danach konnte sie sich ausruhen. Durch die Glaswand der Duschkabine sah sie ihn ins Badezimmer kommen. Er zog sein Hemd aus und hängt es auf einen Haken. Holte Rasierer und Schaum heraus. In der letzten Zeit hatte er angefangen, im Fitnessstudio zu trainieren, und das konnte man sehen. Er hatte deutlich erkennbare Muskeln bekommen. Als sie ihr langes rotes Haar shampoonierte, sah sie auf und in sein Gesicht im Spiegel. Er bemerkte sie auch und lächelte, als ihre Blicke sich trafen. Sie verspürte ein kleines Glücksgefühl. Er war ihr Mann, und sie liebte ihn. Das wollte sie gerade laut sagen, als er vor Schmerz aufschrie.
»Oh, verdammt!« Josef zuckte zusammen, und sie sah das Blut auf seinem Kinn. Er hielt die Hände unter das laufende Wasser und spülte die Wunde, aber das Blut lief immer weiter. »Das ist deine Schuld, Sara. Du hast mich verwirrt.«
Sie lächelte ihn an und hielt entschuldigend die Hände hoch. »Okay. Meine Schuld.«
Er griff sich einen Wattebausch und presste ihn auf die Wunde.
»Wenn du das nächste Mal in der Apotheke bist, solltest du vielleicht fragen, ob sie irgendwelche Pflaster für Leute mit Allergien haben«, sagte Sara zu ihm.
»Das ist ja noch nicht mal das Problem. Viel schlimmer ist, dass ich gehofft hatte, wir würden, wo Moa vorm Kinderprogramm sitzt, noch schnell einen Quickie schaffen. Denn du hast doch gesagt, mitten am Tag hast du Lust, oder? Die Frage ist nur, ob das geht, wenn ich so schwer verletzt bin.«
Das war eine deutliche Einladung. Er wollte, dass sie die Initiative ergriff, und ein Teil von ihr wollte das wirklich. Es würde sie und Josef einander vielleicht wieder näherbringen. Sie hatten seit mehreren Monaten keinen Sex gehabt. Saras Lust hatte mit der Erschöpfung immer mehr abgenommen, und wenn Josef abends nach Hause kam, war sie so müde, dass es völlig ausgeschlossen war. Und er hatte schließlich mit Moa und der Hausarbeit alle Hände voll zu tun. Das waren keine guten Voraussetzungen für ein funktionierendes Sexleben. Sara duschte sich ab und griff nach dem Bademantel. Sie wickelte sich ein Handtuch um die Haare, Josef beobachtete sie. Sie hätte den Bademantel öffnen und sich ihm nähern können, die Chance ergreifen können, aber sie schaffte es nicht. Wenn sie den Abend überstehen wollte, dann durfte sie keine Energie in das hier investieren. Er sah enttäuscht aus, als sie seine Wange streichelte und das Badezimmer verließ.
Sara begann, ihre Übernachtungstasche zu packen. Sie suchte nach der feinen blauen Unterwäsche, die sie von Josef zu Weihnachten bekommen hatte. Vielleicht würde sich ja im Laufe des Wochenendes eine bessere Gelegenheit ergeben. Doch die Wäsche lag nicht in der Schublade im Schlafzimmer, und als sie auch im Wäschekorb nicht zu finden war, gab sie auf.
Sie ging in Moas Zimmer und holte ein paar Sachen aus der Kommode. Während sie die Kleider zusammenfaltete, begann Sara darüber nachzugrübeln, warum ihre Mutter sich so schnell bereiterklärt hatte, ein Abendessen für Josefs Arbeitskollegen auszurichten – für Menschen, die sie nicht einmal kannte. Sara spürte schon, dass es nicht gratis sein würde. Jeder Dienst, den ihre Mutter übernahm, trug ein Preisschild. Was es kostete, erfuhr man erst hinterher.
Sosehr Sara ihre Mutter auch liebte, ärgerte es sie doch, wenn die manchmal alles übernehmen und bestimmen wollte. Vor allem, was das Kind betraf. Gunilla wollte entscheiden, wie sie angezogen war und was sie essen sollte. Sie beharrte darauf, Moa anzuziehen, obwohl die das schon ganz ausgezeichnet selbst konnte. Sie hatte Moa sogar schon gefüttert, damit sie richtig aß, und versuchte immer das Kind gegen seinen Willen zu umarmen. Sara hingegen hatte viel Zeit und Kraft darauf verwandt, Moa beizubringen, zu Körperkontakten, die sie nicht wünschte, Nein zu sagen.
Es war stickig, und Sara öffnete das Fenster. Ihr ganzes Dasein fühlte sich eingeschlossen an, wie in einem Gefängnis, aus dem auszubrechen sie keine Kraft hatte. Aber irgendwann in der Zukunft würde alles gut werden. Dieser Albtraum musste mal ein Ende haben.
Sie ging ins Schlafzimmer zurück. Das Packen dauerte. Früher hatte sie ihre Kleider binnen zwei Minuten zusammengesucht. Jetzt machte ihr jede Entscheidung Angst. Rock oder Kleid oder Hose?
»Bist du fertig?« Josef lehnte in der Türöffnung. »Wir müssen jetzt los.«
»Gleich.«
»Hast du zufällig meinen schwarzen Regenmantel gesehen? Ich würde ihn gerne mitnehmen, für den Fall, dass wir morgen ein bisschen rausgehen.«
»Hängt er nicht an der Garderobe?«
»Nein, ich habe überall gesucht. Du hast ihn nicht zufällig ausgeliehen, oder?«
»Ich habe ihn nicht gesehen.«
Josef warf ihr einen mitleidsvollen Blick zu.
»Soll ich für dich packen?«
»Nein, das wäre falsch. Ich muss doch …«
»Du musst akzeptieren, dass es ist, wie es ist, und Hilfe annehmen. Lass die Kontrolle los!«
»Ich kann verstehen, dass du unter Druck stehst und das hier leid bist, das geht mir genauso. Bitte, gib mir noch zehn Minuten. Ich habe eine Packliste gemacht und darf nicht vergessen, die Brille mitzunehmen, wenn ich jetzt die Linsen drinhabe.«
Eine halbe Stunde später waren sie unterwegs nach Nora, das dreißig Kilometer nördlich von Örebro lag. Sie fuhren mit einem Leihwagen, denn Josefs Firmenwagen war in der Werkstatt.
»Was ist denn mit dem Auto?«, fragte Sara nebenbei. »Du hattest es doch erst kürzlich in der Werkstatt.«
»Weiß nicht«, antwortete Josef.
Irgendetwas an dem Tonfall und der Blick, den er ihr zuwarf, ließ sie weiterfragen. »Aber das musst du doch wissen. Warum hast du es denn hingebracht?«
»Es war irgendwas mit den Bremsen, und außerdem habe ich neue Reifen bestellt.«
»Aber der Firmenwagen ist doch ganz neu!«
»Können wir das Thema einfach lassen? Ich mag jetzt nicht daran denken. Okay?«
»Okay«, erwiderte sie immer noch fragend und spürte die Sorge wie Nadelstiche auf der Kopfhaut.
Eine milde Herbstsonne beleuchtete die Felder, an denen sie vorbeifuhren. Draußen vor den Höfen lag das Heu wie große weiße Ameiseneier gestapelt. Durch die extreme Trockenheit des Sommers war es, so wie anderes Tierfutter auch, Mangelware geworden. Lisa hatte erzählt, dass sie Futter aus England bestellen wollte, damit ihr Pferd über den Winter käme.
Im Auto hörten sie eine Kinder-CD . Moa saß auf dem Rücksitz und sang mit. Sie war guter Laune.
Sara wandte sich an ihren Mann. »Wirst du bei Ulla vorbeischauen, wenn wir schon mal in Nora sind?« Ulla war ein bisschen wie eine zusätzliche Mutter für Josef. Sie hatte sich um ihn und Wilhelm gekümmert, als die beiden klein waren. Wilhelm hatte keinen Kontakt mehr zu ihr, aber Josef besuchte sie in der Regel ein paarmal im Jahr. Sie wohnte in der Nachbarschaft von Saras Mutter, doch Josef ging meist allein zu ihr, und Sara hatte Ulla nur wenige Male getroffen.
»Dieses Wochenende nicht, nein. Da ist so viel anderes.«
Er sah so aus, als wollte er noch mehr sagen, doch Moa rief vom Rücksitz. Sie fuhren gerade an einem Fluss vorbei, auf den jemand mehrere große Plastikkrokodile gesetzt hatte. Moa war Feuer und Flamme und begann, Josef zu bearbeiten, dass er anhalten und zurückfahren sollte. In diesem Augenblick fühlte sich plötzlich alles gut an. Sara sah verstohlen zu ihrem Mann. Er war gerade achtunddreißig geworden, und er sah wirklich gut aus. Kantige und maskuline Gesichtszüge, das Haar hellbraun und kurz geschnitten, die Augen grau-meliert und lebendig. Mit seinen 175 Zentimetern war er genauso groß wie sie, doch hatte es ihn nie gestört, wenn sie ihn mit hohen Absätzen überragte.
Als er merkte, dass sie ihn beobachtete, schenkte er ihr ein Lächeln. Sie spürte ein Ziehen im Bauch. Er war so tapfer, wie er ihre Krankheit aushielt.
Du darfst mich nicht verlassen, Josef. Ich brauche nur etwas Zeit. Ich werde aufhören, gereizt zu sein, ich werde wieder fröhlich werden. Wenn du nur durchhältst.
Gegen vier Uhr näherten sie sich Nora. Das Haus, in dem Gunilla seit dem Tod ihres Mannes allein wohnte, lag ungefähr einen Kilometer vom Marktplatz, der Kirche und dem charmanten Stadtkern mit seiner niedrigen Holzbebauung und dem Eisenbahnmuseum entfernt. Sara hatte die Sommer ihrer Kindheit dort verbracht, und als sie das Gymnasium abgeschlossen hatte, waren die Eltern dann ganz hingezogen. Als sie jetzt am See entlangfuhren, sah sie Alntorps Ö, die Insel, zu der sie im Sommer bei schönem Wetter immer mit dem Boot, der M/S Plaskus, gefahren waren, um zu baden und entweder in dem kleinen Gasthaus oder aus dem mitgebrachten Picknickkorb etwas zu essen. Jetzt konnte sie das Haus ihrer Mutter schon sehen. Ein rot gestrichenes Holzhaus mit einer weißen Veranda mit Balkon darüber, auf dem sie immer in der ersten Frühjahrssonne zu sitzen pflegten. Wenn sie später im Jahr draußen aßen, dann meist unten auf der Veranda mit bequemem Abstand zur Küche und zum Grill draußen. Der Garten war üppig, es gab Bäume und Beerensträucher und ein Spielhaus, das Gunilla für Moa angeschafft hatte.
Gunilla empfing sie mit offenen Armen, nachdem sie sich die Hände an der Schürze abgewischt hatte. Ihr Körper war schlank, und das lockige rot-graue Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Früher einmal war es genauso kupferrot wie das von Sara gewesen, und ihre Augen waren in denselben Nuancen grau und grün meliert wie ihre. Da siehst du deine Zukunft , hatte Josef bei einer der ersten Gelegenheiten, als er seine zukünftige Schwiegermutter traf, gesagt. Das war, bevor die beiden miteinander angeeckt waren. Sara hoffte, dass er damit Recht behielt. Gunilla alterte schön.
Das Abendessen war so weit wie möglich vorbereitet, und die anderen Gäste würden erst gegen sechs Uhr kommen. Als Josef mal auf die Toilette ging, nahm Gunilla Sara beiseite: »Lisa ist hier. Sie ist dabei, den Anhänger auszuladen und wird gleich fertig sein. Ich habe ihr gesagt, dass sie heute Abend bei dem Essen dabei sein und auch über Nacht bleiben kann, wenn sie möchte.«
Sara nickte. Sie hatte völlig vergessen, dass Lisa heute hierherkommen würde.
»Was glaubst du, wer alles hier übernachten wird?«, fuhr Gunilla fort. »Ich habe hier unten in drei der Gästezimmer Betten vorbereitet. Moa kann bei mir unterm Dach schlafen, und dann gibt es auch noch Platz für Lisa und für dich, wenn du dich ausruhen musst.«
Sara wollte eigentlich erst protestieren, dass Moa im selben Bett mit ihrer Großmutter schlafen sollte, wenn es doch ein Kinderbett gab, aber ihr Widerstand erstarb. »Das ist gut so, danke für alles, was du für uns tust, Mama«, sagte sie.
Josef kam in die Diele zurück, und Gunilla zeigte ihnen die Veranda, wo der Kaffeetisch mit selbst gebackenem Kuchen und schwarzem Johannisbeersaft gedeckt war. Moa lauerte bereits vor dem Kuchenteller, und auf ein Nicken ihrer Großmutter hin fiel sie über die Süßigkeiten her.
»Wer außer Josefs Bruder und seiner Frau kommt noch?«, fragte Gunilla. Sie wandte sich ausschließlich an Sara und vermied Blickkontakt mit Josef, doch er antwortete.
»Carola und Per-Gunnar Dorteus. Sie betreiben ein erfolgreiches Bauunternehmen in Örebro. Wir haben früher schon mit ihnen gearbeitet, und derzeit ist es ungeheuer wichtig für uns, Dorteus Bygg AB als Kunden zu behalten.«
Gunilla vermied immer noch seinen Blick und lächelte Sara an. »Das habe ich begriffen, und ich werde alles tun, damit sie sich wohlfühlen. Es gibt Pfifferlingsuppe mit Parmesanchips, Kalbsnierenbraten mit Johannisbeersoße und Hasselback-Kartoffeln, dann französischen Apfelkuchen mit Mürbeteig, Marzipan und Eis aus Nora.«
»Na gut«, sagte Sara. »Das klingt wunderbar! Ich lebe sonst von Fastfood und Fertiggerichten. Allein, dass es selbst gekocht ist, ist schon ein Luxus.«
Gunillas Blick wurde nervös. »Sara, wenn du dich ein bisschen hinlegen und ausruhen willst, ehe die anderen kommen, dann kümmere ich mich um Moa. Es ist alles so gut wie fertig.« Sie lächelte Moa an. »Ich dachte, du könntest mir helfen, ein paar Äpfel zu pflücken.«
Sara ging zum Schuppen, um Lisa zu begrüßen. Die war gerade dabei, einen Sessel vom Anhänger zu zerren. Als sie Sara erblickte, ließ sie ihn stehen.
»Wie hübsch du bist, Sara! Also, das gibt wirklich ein vornehmes Abendessen. Muss sehen, was für Kleider ich überhaupt in Mamas Wohnung habe.«
»Ich sollte dir helfen, Kartons zu tragen.«
»Lass es einfach.«
Sara nickte, verfluchte aber ihre Kraftlosigkeit. Sie hasste es, faul zu wirken. »Wir müssen später noch reden, Lisa, ich werde jetzt erst mal versuchen, mich ein wenig auszuruhen.«
Anstatt sich ins Gästezimmer im Erdgeschoss zu legen, wo sie und Josef immer zu schlafen pflegten, stieg Sara die Treppe in den ersten Stock hinauf. Da gab es zwei lange Räume unter der Schräge, die in vier Zimmer aufgeteilt waren. Auf der einen Seite gingen die Gänge auf die Diele im ersten Stock hinaus und auf der anderen Seite in eine etwas kleinere Diele mit einer Wendeltreppe, die in die gute Stube vor der Küche führte.
Wie ein verwundetes Tier kroch Sara in eins der Dachzimmer, um ihre Ruhe zu haben. Sie zog alles außer der Unterhose aus, warf sich ein altes T-Shirt über und legte sich unter die schwere rote Wolldecke. Obwohl Sara niemals in diesem Haus gewohnt hatte, hingen an der rosa geblümten Tapete Zeichnungen von ihr, die sie als Kind gemacht hatte. Als sie klein war, hatte sie viel gemalt, vor allem, wenn sie krank war. Als sie in die Grundschule ging, musste sie oft wegen Übelkeit oder Bauchschmerzen zu Hause bleiben. Ihre Mutter hatte sie zu unzähligen Untersuchungen und Arztbesuchen gefahren, doch es wurde nie etwas gefunden. Als sie dann später von zu Hause ausgezogen war, verschwanden die Symptome, es war also wahrscheinlich nichts Ernstes gewesen. Doch trotz der Bauchschmerzen waren die Krankentage in Saras Erinnerung gemütlich. Sie hatte in ihrem Bett gelegen und war versorgt worden. Ihre Mutter war immer am umgänglichsten gewesen, wenn Sara krank war. Liebevoll und fürsorglich. Jetzt plötzlich wurde ihr klar, dass es dieselben Eigenschaften waren, die sie inzwischen als erstickende Übergriffigkeit empfand.
Sara stellte den Wecker und versuchte sich mit den Übungen, die sie bei der Krankengymnastik gelernt hatte, zu entspannen. Die Hand, den Arm, den Fuß, das Bein. Die Gedanken fuhren Karussell. Wer hatte sie beim Jugendamt angezeigt? War es dieselbe Person, die auch der Krankenkasse einen Tipp gegeben hatte? Und wer könnte Nutzen daraus ziehen, dass sie krank und schwach war und es nicht schaffte, in ihre Arbeit als Polizistin zurückzukehren? Oder ging es um Josef? Hatte er irgendwelche Feinde? Oder könnte er selbst in irgendetwas Verbotenes verwickelt sein? Nein, jetzt ging die Fantasie wieder mit ihr durch. Josef war die Ehrenhaftigkeit selbst. Aber er hatte seltsam reagiert, als sie nach dem Auto gefragt hatte, als wollte er irgendetwas verbergen. Könnte es eine Schadenssache sein? War das Auto ein weiteres Beispiel in der Reihe von Schikanen, denen sie in der letzten Zeit ausgesetzt gewesen waren?
Es waren keine direkten Bedrohungen, doch zusammengenommen war es einfach zu viel, als dass es noch Zufall sein konnte. Am schlimmsten waren natürlich die Anzeigen beim Jugendamt und bei der Krankenkasse. Dann die anonymen Anrufe. Außerdem die Rechnungen, die nicht ankamen, und die Mahnungen, die zu spät eintrafen, sodass Josef gezwungen war, anzurufen und um Aufschub zu bitten. Und jetzt vielleicht das Auto. Es musste einen Zusammenhang geben, es war, als wollte sie jemand in den Wahnsinn treiben. Oder war es nur Einbildung? War sie dabei, den Verstand zu verlieren?
Weiter kam sie nicht in ihren Überlegungen, denn die knarrende Tür zum Dachzimmer kratzte über die Holzplanken, und Josef erschien in der Türöffnung. Ohne ein Wort zog er sich aus und legte sich nackt hinter ihren Rücken in dem schmalen Bett. Er küsste sie in den Nacken, und die Metallfedern quietschten.
»Ich habe dich vermisst«, flüsterte Sara.
»Wie sehr?«, fragte er, und sie hörte das Lächeln in seiner Stimme, als er sein hartes Glied an ihren Oberschenkel drückte.
»Sehr.« Sie presste sich an ihn und spürte seine Hand in ihrer Unterhose. Als sie versuchte, sich zu ihm zu drehen, hielt er sie und streichelte sie. Sie entspannte sich, es war so lange her, dass sie Lust empfunden hatte, und sie hatte es vermisst. Jetzt war die Anziehungskraft plötzlich da, und sie wollte sanft und lange. Doch er verschaffte ihr fingerfertig einen schnellen Orgasmus und drang dann mit den Händen auf ihren Hüften von hinten in sie ein. Das Bett quietschte hysterisch, und in wenigen Augenblicken war es vorbei. Schnell kleidete er sich wieder an. Auf dem Weg nach draußen drehte er sich um. Sie meinte, er würde sagen, wie sehr er sie liebte.
»Muss Lisa mit den schweren Sachen helfen. Hoffe, du kannst jetzt noch ein bisschen die Augen zumachen, damit du den Abend schaffst.« Er holte ein Päckchen Papiertücher aus der Hosentasche und reichte es ihr. Kein Kuss. Keine liebevollen Worte. Aber dennoch ein gewisses Zeichen der Fürsorge.