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Kristoffer Bark holte einen Plastikschlauch mit fertiger Erbsensuppe aus dem Kühlschrank und wärmte sie in einem Topf auf dem Herd auf. Eigentlich war er Erbsensuppe leid, aber sie war billig, leicht zu kochen, und man wurde satt davon. Damit taugte sie gut, um den Magen zu füllen, wenn man keine Lust hatte, sich um das Essen Gedanken zu machen.

Obwohl es Samstag war, las er sich weiter in den Fall Emelie Kartman ein. Er war an der Beschreibung der Schikanen hängen geblieben, denen sie und ihre Familie ausgesetzt worden waren. Die anonymen Anrufe, häufig nachts, die Anzeigen bei verschiedenen Ämtern, wichtige Post, die nicht angekommen war, abgetrennte Bremsschläuche beim Familienwagen und die Tatsache, dass ein Nachbar des Paares wiederholte Male eine Person gesehen hatte, die vor dem Haus stand und zu Emelies Schlafzimmerfenster hinaufstarrte. Ein Mann oder eine Frau? Das war nicht sicher.

Kristoffer fand Ulfs Dokumentation spärlich und ausufernd zugleich. Nebensächlichkeiten hatten unnötig viel Raum bekommen, und die wesentlichen Informationen fehlten. Es war keine größere Mühe darauf verwandt worden, die Einzelverbindungsnachweise von Emelies Handy zu verfolgen. Ulf hatte lediglich festgestellt, dass die Gespräche von einer unregistrierten Paycard gekommen waren. Er hätte durchaus mögliche Anbieter in der Gegend kontaktieren können, um die IMEI -Nummer des Handys nachzuverfolgen, die schließlich beim Kauf des Telefons registriert worden war. Oder selbst per *#06# – was zugegebenermaßen, wenn man es geschrieben sah, wie ein Fluch von Donald Duck aussah – die Seriennummer herausfinden können. Wusste Ulf etwa nicht, dass die IMEI -Nummer bei jeder Gesprächsverbindung an den Anbieter geschickt wurde, über den man anrief? Kristoffer wurde immer ärgerlicher. Schließlich rief er seinen Kollegen an.

»Ist da Ulf?«, fragte er, als jemand mit einem Grunzen antwortete.

»Worum geht’s?« Ulf klang betrunken, was er sicherlich auch war.

»Bark hier. Können wir uns treffen? Jetzt. Da ist etwas in deiner Ermittlung, das …«

»Aber zur Hölle mit dir, Bark! Es ist Wochenende. Jetzt musst du wirklich mal aufhören!«

»Hast du im Bett gelegen und geschlafen?«, witzelte Kristoffer.

»Das geht dich gar nichts an«, erwiderte Ulf in einem Ton, der klarmachte, dass er das Gespräch beenden wollte, noch ehe es überhaupt begonnen hatte. »Und wenn du mich weiterhin in meiner Freizeit stalkst, dann werde ich mit Zimmermann darüber reden. Emelie Kartman ist tot, und nichts, was du tust, kann daran etwas ändern. Der Grund dafür, dass du mit Cold Cases arbeiten darfst, ist, dass du mal runterfahren musst.« Das Gespräch wurde weggedrückt.

Bark seufzte schwer. Ulf Gunnarsved konnte wirklich ruppig sein. Kristoffer schlürfte den Rest der Erbsensuppe in sich hinein, spülte den Teller ab und setzte Kaffee auf, während er überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Hatte jemand Kontakt zu Emelies Sohn hergestellt und ihm erzählt, dass der Fall wieder aufgenommen werden würde? Wenn nicht, dann war das seine vorrangige Aufgabe. Er würde den Jungen gern etwas besser kennenlernen.

Der Nachname war ungewöhnlich, und Bark suchte ihn ganz einfach auf Facebook. Die Seite war offen. Das Profilbild zeigte einen rothaarigen jungen Mann mit schönen, fast femininen Zügen in einer schwarzen Lederjacke. Sein Gesichtsausdruck, der sicherlich cool wirken sollte, ließ ihn aussehen, als wäre er sauer und müsste aufs Klo. Die Beiträge waren kurze undifferenzierte Kommentare über die Idioten, die dieses verdammte Land regierten und nichts taten, wo doch alles den Bach runterging.

Kristoffer seufzte wieder. Wenn man bedachte, dass Schweden eine Arbeitslosigkeit von 6,3 Prozent hatte und der Rest, knappe 94 Prozent, arbeitete oder etwas Vergleichbares tat, sah es doch gar nicht so schlimm aus. Wie viel Kim mit seinem jungen Leben selbst schon dazu beigetragen hatte, war nicht ersichtlich. Doch musste einem der Junge natürlich leidtun. Bei so einem tragischen Start ins Leben. Bark scrollte weiter. Das Bildmaterial auf der Seite stammte ausschließlich von Partys. Auf einigen Fotos sah man Kim mit einer Gitarre, und es gab auch ein paar Clips auf YouTube, wo er seine eigenen Songs eingestellt hatte. Er war begabt, auch wenn die Texte dunkel und etwas bizarr waren. Vor allen Dingen der Song, der Kleine Karin hieß. Der handelte von einer Frau, die in eine Nageltonne gesteckt worden war. Es war nicht schwer zu erahnen, woher Kim die Inspiration dazu genommen hatte. Kristoffer beschloss, sich schnellstmöglich mit dem Troubadour zu treffen.

Kim Kartmans Telefonnummer war auch nicht schwer zu finden.

Bark rief an und stellte sich vor. Erstaunlicherweise war der junge Mann sehr nett und hatte auch Zeit, sich sofort mit ihm zu treffen, falls Bark ihn zu Kuchen und Limonade einlüde. Kim wohnte bei seinen Pflegeeltern, ein paar Häuserreihen weiter auf der Drakenbergsgatan, nur zwei Minuten zu Fuß von Kristoffers Wohnung entfernt. Nachdem er sich mit den Pflegeeltern verständigt hatte, war Kim bereit, sich mit ihm auf dem Tybble torg in Mathildas Konditorei zu treffen.

Zwanzig Minuten später saßen sie einander an einem Tisch gegenüber, jeder mit einem Muffin vor sich. Kim beugte sich vor und goss Limonade in sein Glas.

»Sie sind also Bulle und haben vor rauszukriegen, wer meine Mutter ermordet hat? Ich bin dabei. Ich war erst fünf Jahre alt, als sie verschwand. Aber ich erinnere mich an sie, das kann mir niemand nehmen. Als ich in der zweiten Klasse war, hat man sie ermordet in einer von Nägeln durchbohrten Tonne gefunden. Irgendein Teufel hatte sie gefoltert. Können Sie sich vorstellen, wie ich dafür gemobbt worden bin, oder was? Das klebt an mir wie ein verdammtes … ein verdammtes Kaugummi, dass das klar ist!«

»Menschen können gedankenlos und gemein sein«, erwiderte Bark. »Wie geht es dir jetzt?«

»Ich habe schon wieder eine neue Pflegefamilie bekommen, spiele in einer Band und versuche das nachzuholen, was ich vorher in der Schule verpasst habe. Eine Zeitlang war es ziemlich anstrengend.«

»Ich habe deine Songs auf YouTube gehört. Du bist begabt.«

»Ich habe das absolute Gehör. Welcher hat Ihnen am besten gefallen?«, fragte Kim eifrig.

»Kleine Karin . Der ist traurig. Was hast du gedacht, als du den geschrieben hast?«

»Den habe ich nicht geschrieben. Eigentlich ist es ein Volkslied. Aber ich hab es ziemlich umgearbeitet, sodass es ein Rap wird. Haben Sie kapiert, wovon er handelt?«

»Ich denke doch. Obwohl der Text manchmal ein bisschen schwer zu verstehen war«, gab Kristoffer zu. »Streckenweise ist der Synthesizer drübergegangen.«

»Er handelt von der kleinen Karin. Sie wollte nicht vom König gekauft werden, so als wäre sie eine Hure. Sie hat Nein gesagt und ihn mehrmals gedisst, und deswegen ist sie in eine Nageltonne gesteckt worden. Und die Freunde vom König haben die Tonne herum- und herumgerollt, bis sie verblutet ist und gestorben.«

Kristoffer sah Kim in die Augen, blickte direkt in seine offene Verzweiflung. »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um den zu finden, der deiner Mutter das angetan hat.«

»Das hoffe ich«, erwiderte Kim. »Ich hoffe, dass Sie besser sind als der Idiot, der vorher ihren Fall bearbeitet hat. Der hat verdammt noch mal auf nichts gehört, was ich gesagt habe.«

»Was wolltest du denn erzählen, was er nicht angehört hat?«

»Ich habe von der Stimme am Telefon erzählt, von dem Lied. Ich weiß, dass ich erst fünf Jahre alt war, aber wie gesagt, habe ich das absolute Gehör, und ich erinnere mich an ein Lied, wenn ich es nur einmal gehört habe. Mein Musiklehrer sagt, das wäre angeboren.«

»Was ist passiert?«

»Es hatte jemand auf Mamas Handy angerufen. Bevor sie verschwunden ist. Ich habe auf den grünen Hörer gedrückt, ohne etwas zu sagen. Und da hat jemand in der Leitung gesungen, obwohl das eigentlich mehr wie ein Roboter klang. Und zwar genau dieses Lied, Kleine Karin . Die Person, die angerufen hat, wusste schon, wie sie sterben würde! Warum hat niemand diese Botschaft begriffen? Warum wollte kein Erwachsener auf mich hören?«